17.12.1999

Der gezähmte Traum von der Unabhängigkeit

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Der gezähmte Traum von der Unabhängigkeit

Von MARIE-CLAUDE CÉLESTE *

Einige Tage vor der Abreise von Staatspräsident Jospin auf die Antillen sorgte eine Umfrage, die das französische Ministerium für Überseegebiete in Auftrag gegeben hatte, für einen regelrechten Aufstand, vor allem in den Reihen der Unabhängigkeitsbefürworter. „Vor fünfzig Jahren haben sich Martinique, Guadeloupe, Guyana und Réunion für den Status von Überseedepartements (DOM, département d’outre-mer) entschieden; welche Art von Status wäre Ihrer Meinung nach heute für diese französischen Departements am angemessensten?“, lautete die Frage, die die Interviewer des Ipsos-Instituts etwa 600 Personen in jedem der vier betroffenen DOMs vorgelegt hatten.

5 Prozent der Befragten in Martinique und 6 Prozent in Guadeloupe gaben als Antwort: „die Unabhängigkeit“. Die französische Rechte wertete dieses Ergebnis als Beweis dafür, dass die Bewohner der Antillen am Departement-Status ihrer Inseln nicht rütteln wollen; die Linke interpretierte die Umfrage gerade umgekehrt, da sich für den „gegenwärtigen Status ohne jede Änderung“ in Martinique nur 21 Prozent, in Guadeloupe sogar nur 8 Prozent ausgesprochen hatten. Dagegen befürwortete nahezu jeder fünfte Antillenbewohner (21 Prozent in Guadeloupe und 14 Prozent in Martinique) „einen Autonomiestatus, bei dem die örtlichen Körperschaften eigene Gesetze erlassen“ können.

Die Unabhängigkeitsbefürworter – und ein Großteil der traditionellen Linken – empfanden die Fragestellungen als „tendenziös“ und verurteilten die Umfrage prinzipiell. Roland Anduse, Mitglied des Exekutivbüros des „Mouveman“ („Bewegung“) von Guadeloupe, spricht von „intellektueller Betrügerei“. Die Befragung, sagt er, sei ganz offensichtlich „in der Absicht gemacht worden, dass die Leute das sagen, was die Befrager hören wollen“. Im Übrigen suggerieren die Fragen seiner Meinung nach, dass ein Zuwachs an örtlichen Kompetenzen – oder gar die Unabhängigkeit – nur zum Preis eines radikalen Bruchs mit Frankreich zu haben sei.1

Am heftigsten kritisieren die Unabhängigkeitsbefürworter jene Parteien der traditionellen Linken, die entweder auf eine verstärkte Dezentralisierung setzen (Fédération socialiste de la Martinique, FSM) oder für eine Autonomie „im Rahmen der Republik“ eintreten (Parti progressiste martiniquais, PPM). Anlässlich der Ergebnisse der umstrittenen Umfrage äußern die Unabhängigkeitsbefürworter im Übrigen mit einem Anflug von Ironie Zweifel am realen Einfluss der fraglichen Parteien: Ein Bericht, den Jean-Jacques Queyranne, Staatssekretär für Überseegebiete, bei zwei Parlamentariern dieser Departements angefordert hatte, befürwortete nämlich eine Weiterentwicklung der Dezentralisierung. Die Vertreter der Unabhängigkeit lasen dies als Beweis für das geringe Interesse der Regierung an den Bedürfnissen und Wünschen der „Domianer“ (wie die DOM-Einwohner genannt werden).

So bedeckt sich die meisten Unabhängigkeitsbefürworter halten, wenn man sie auf das Potential ihrer Anhänger anspricht, so wenig Illusionen machen sie sich, welches Ergebnis derzeit bei einer Abstimmung über den gegenwärtigen Status der Inseln zu erwarten wäre: Tatsächlich würde nur eine Minderheit der Bewohner für die von ihnen befürwortete Unabhängigkeit stimmen. Seit langem versuchen bestimmte Anhänger des DOM-Modells, jede „sezessionistische“ Anwandlung in den französischen Departements Amerikas dadurch im Keim zu ersticken, dass sie die politische Instabilität und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten mancher unabhängiger Länder der Region – vor allem Haitis – als abschreckendes Beispiel hinstellen. Noch bis vor kurzem galt bereits jemand, der sich mehr für die unmittelbaren Nachbarinseln und -länder der Departements in der Karibik und im Bergland von Guyana interessierte als für die „Metropole“, als Unabhängigkeitsfanatiker .

Je mehr sich die Kommunikations- und Informationsmittel weiterentwickeln, desto besser kennen viele Bewohner der französischen Antillen die regionale Wirklichkeit und setzen nicht mehr zwangsläufig Unabhängigkeit und Misere gleich. Einerseits wissen sie, dass sich in manchen Nachbarstaaten ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung angebahnt hat, selbst wenn dieser sich häufig unter schwierigen Bedingungen vollzieht. Andererseits wissen sie auch, dass Martinique und Guadeloupe bessere Straßen und Schulen haben und dass den Bewohnern der benachbarten Inseln – angesichts fehlender Infrastrukturen vor Ort – oft nichts anderes übrig bleibt, als sich in den Krankenhäusern der beiden französischen Antilleninseln behandeln zu lassen. Bei vielen schwingt sogar Herablassung mit, wenn sie über diese Nachbarn reden, die hart arbeiten müssen, um 1 500 Franc im Monat zu verdienen, während sie selbst es mit Sozialleistungen (das „Mindesteinkommen zur Eingliederung“ – RMI –, das etwa 50 000 Antillenbewohner erhalten, beträgt für Alleinstehende monatlich ca. 2 000 Franc) und einer gewissen Pfiffigkeit doch ohne Weiteres auf einen viermal höheren Verdienst bringen können.

Wenn die Unabhängigkeit nicht auf breitere Zustimmung stößt, so deshalb, weil sie nach Ansicht vieler Antillenbewohner die Einbuße von Vorteilen und Errungenschaften bedeuten würde, auf die zu verzichten sie nicht bereit sind. Daraus machen sie keinen Hehl, und die Unabhängigkeitsbefürworter wissen sehr wohl, dass sie mit starkem Gegenwind zu rechnen haben, wenn sie die „Konsumüberflutung“ anprangern, welche nach Einschätzung von Martiniques „Nationalrat der Volkskomitees“ (CNCP) einen echten wirtschaftlichen Aufschwung in den DOMs verhindert.2

Die Überlegungen, die ein Großteil der Öffentlichkeit in Zusammenhang mit der Unabhängigkeit anstellt, sind in dieser Hinsicht aussagekräftig. Wer würde in einem unabhängigen Martinique und Guadeloupe mit wessen Geld die etwa dreißigtausend Staatsbediensteten der beiden Departements bezahlen können? Wie würde man die Renten finanzieren? Wer immer auf die „Wohltaten der Republik“ verweisen will (in erster Linie auf die soziale Sicherheit, die in den DOMs herrscht), hat mit diesen Fragen leichtes Spiel. In Martinique, sagt Christian Louis Joseph, Generalsekretär des Verbandes der Bauunternehmer, sind 9 Prozent der aktiven Bevölkerung im Bausektor beschäftigt. Über 15 Prozent der Männer arbeiten hier. „Die Investitionen aber“, bemerkt dieser ehemalige Autonomist, „kommen im Wesentlichen vom Staat. Wer soll denn im Falle der Unabhängigkeit dessen Aufträge übernehmen? Und was geschieht dann bei Arbeitslosigkeit?“ Die einzigen, die nach seiner Auffassung dann nicht schlechter leben würden, wären „diejenigen, die heute ein Monatseinkommen von 500 Franc pro Person haben“. Diese Menschen würden sich sogar, meint er, besser fühlen, da sie nicht mehr dem Konsumterror ausgesetzt wären, „der Lebensstandard des Mittelstandes aber würde drastisch sinken“.

Die Sorgen rechter wie linker Anhänger des DOM-Modells – und auch jener vielen, die mit dem gegenwärtigen Status von Martinique und Guadeloupe nicht restlos zufrieden sind – haben die Unabhängigkeitsbefürworter bislang nicht oder nur teilweise ausräumen können. Ihre diesbezüglichen Pläne sind eher vage, selbst wenn sie inzwischen begriffen haben, dass es nicht mehr genügt, „diese Kleinbürger, die nur an ihren Komfort und ihr Portemonnaie denken“, einfach in Grund und Boden zu verdammen. Zumal, wie ihre Gegner genüsslich betonen, einige der Unabhängigkeitskämpfer ja durchaus von der Sicherheit profitieren, die ihnen ihre Funktion als Staatsbedienstete bislang verleiht!

Die Debatte beschränkt sich freilich nicht mehr ausschließlich auf den Austausch von Beschimpfungen. Auf beiden Inseln gibt es Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die aus ihrem Unabhängigkeitsstreben keinen Hehl machen, ohne dass sie deshalb verteufelt werden. Dies gilt vor allem für die Schriftstellerin Maryse Condé, die bei den Regionalwahlen von 1992 als Kandidatin der Union für die Befreiung Guadeloupes (UPLG) angetreten war. Ihr Kollege Raphaël Confiant – zusammen mit dem Goncourt-Preisträger von 1992, Patrick Chamoiseau, Vorsitzender der Bewegung der Demokraten und Ökologen für ein souveränes Martinique (Modemas) – erklärt: „Es ist uns gelungen, den Leuten klarzumachen, dass man als Anhänger der Unabhängigkeit nicht zwangsläufig antifranzösisch sein muss.“

FÜR einen Unabhängigkeitsbefürworter zu stimmen, auch wenn man selbst keiner ist, empfinden manche Leute weder als Widerspruch noch als unpassend. Im Laufe der letzten Jahre hat sich in den französischen Departements Amerikas (DFA) nämlich so etwas wie ein eigenes „Identitätsgefühl“ herausgebildet. So führt zum Beispiel das Kreol kein reines Ghettodasein mehr. Zwar wird es nicht, wie von den Unabhängigkeitskämpfern gewünscht, als offizielle Sprache neben dem Französischen anerkannt, genießt aber sogar in den öffentlichen-rechtlichen Fernseh- und Radioprogrammen eine gewisse Daseinsberechtigung.

Für den DOM-Politiker gehört es inzwischen zum guten Ton, sich von der entsprechenden französischen Schwesterpartei abzugrenzen. Der Anspruch auf eine eigene Antillenidentität nimmt aber auch offensivere Formen an. So äußern viele Bewohner der unterschiedlichsten politischen Couleur lautstark ihr Befremden darüber, warum nur so wenige „Antillais“ verantwortliche Posten in der Verwaltung, aber auch im Privatsektor ihrer Departements bekleiden; wieso Frankreich in den Organisationen der karibischen und lateinamerikanischen Region noch nie von einem „Domianer“ vertreten worden ist; weshalb die Überseedepartements, wenn sie beispielsweise mit Haiti oder Kuba kooperieren wollen, zuvor die Genehmigung aus Paris einholen müssen.

Diese neue Einstellung hat sich auch auf das Wählerverhalten ausgewirkt: Sowohl in Guadeloupe als auch in Martinique gibt es mittlerweile zwei Bürgermeister, die zur Unabhängigkeitsbewegung gehören. Hierbei wären noch ihre kommunistischen Amtskollegen von Morne-à-l’Eau und Petit-Canal in Guadeloupe hinzuzuzählen, denn auch die Kommunistische Partei Guadeloupes (PCG), früher autonomistisch ausgerichtet, tritt heute für die Unabhängigkeit ein. Martinique hat mit Alfred Marie-Jeanne einen Unabhängigkeitsverfechter als Vertreter in der französischen Nationalversammlung, der im Juni 1997 mit 29 000 Stimmen (über 64 Prozent) gewählt wurde.

Alle Unabhängigkeitsorganisationen möchten das Verhältnis zu den DFA und zur EU neu definieren.3 Dass Guadeloupe zu Europa gehört, ist nach Auffassung der PCG „eine Absurdität“, denn damit stehen die Inseln – als „europäische Regionen“ – einer Konkurrenz offen, der dieses Departement gar nicht gewachsen ist. Für die Unabhängigkeitsbewegung Martiniques (MIM) müssen die Beziehungen zu Europa denn in Zukunft auch „sehr viel mehr in Richtung Kooperation gehen und nicht eine Integration forcieren, die sich mit der geographischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit [Martiniques] überhaupt nicht verträgt“.

Am deutlichsten artikuliert sich die Kritik an der europäischen Politik aber auf dem Gebiet des freien Personenverkehrs. „Wir sind ein multiethnisches Volk“, sagt Luc Reinette, Mitglied des Konwa Pou Liberasyon Nasyonal Gwadeloup (Konvoi für die nationale Befreiung Guadeloupes), „und wer die Beziehungen zwischen den Ethnien aus dem Gleichgewicht bringen will, der begeht ein Verbrechen an unserem Volk. Wir sind 400 000, da können wir kein Einwanderungsland sein.“ Die Steuerbefreiungsgesetze haben in der Tat zahlreiche Europäer auf diese „Insel des Nordens“ gelockt: Ihre Zahl ist zwischen 1982 und 1990 von 8 000 auf 28 500 angestiegen.4 „Im Falle von Afrikanern oder Asiaten würden wir genauso argumentieren“, fügt dieser Unabhängigkeitsaktivist schnell hinzu, wie um die Rassismusvorwürfe zu entkräften, die gegen ihn erhoben wurden.

Jahrelang präsentierten sich die Unabhängigkeitsorganisationen als zerstrittene, gespaltene Gruppen mit ideologischen Scheuklappen, die jeden ausschlossen, der es wagte, einen anderen Standpunkt zu vertreten als sie selbst. Nachdem man ihnen immer wieder vorgeworfen hatte, sie operierten nur mit Schlagworten, bemühen sie sich heute, ihr Anliegen inhaltlich zu fundieren. Machen sich die Beamten darüber Gedanken, was – im Falle der Unabhängigkeit der Antillen – aus der 40-prozentigen Teuerungszulage werden würde, die sie zusätzlich zu ihren Gehältern bekommen? Die meisten Unabhängigkeitsbefürworter halten diesen Zuschlag für eine Errungenschaft, auch wenn sie bis zu einem gewissen Grade etwas mit Diskriminierung zu tun hat, da sie nur einem Teil der Lohnabhängigen zugute kommt. Natürlich, sagt Harry Broussillon, Exekutivsekretär des Mouvman von Guadeloupe, „würde die Abschaffung dieser Zulage Proteste auslösen (...). Wir müssen darüber nachdenken, wie wir sie anders verwenden können. Diese Gelder müssen der wirtschaftlichen Entwicklung zugute kommen.“

Doch für Luc Reinette besitzt das Departement „alle Merkmale eines Entwicklungslandes und kann deswegen nicht dieselbe Sozialgesetzgebung haben wie Frankreich“. Wie soll die Entwicklung in Gang kommen? „Wir verfügen über eine ganze Menge Leute“, sagt der CNCP, „die in der Lage sind, sämtliche Wirtschaftssektoren zu übernehmen: Medizin, Bau, Landwirtschaft, Datenverarbeitung, Technologie usw. Es gibt keinen einzigen Bereich, in dem die Bewohner Martiniques nicht Verantwortung übernehmen könnten.“ Und als „Exporte“ in die übrige Karibik und nach Lateinamerika könnten diese „Köpfe“ viel Geld einbringen.

Das eigentliche Problem der Unabhängigkeitsbewegung ist freilich, dass sie unter den Jugendlichen kaum Resonanz findet: Die Heranwachsenden sorgen sich vor allem um ihre materielle Zukunft, und viele von ihnen orientieren sich am afroamerikanischen Erfolgsmodell oder an Ragga-Gruppen. „Ich bin pessimistisch“, räumt Raphaël Confiant ein: Die jüngsten Entscheidungsträger innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung seien mindestens um die Vierzig. „Wenn unsere Generation nicht das erreicht, was sie sich vorgenommen hat“, sagt er, „dann werden diese jungen Leute sich ganz dem materialistischen Modell anpassen, und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie die Fackel weitertragen sollen.“

dt. Matthias Wolf

* Journalistin, Fort-de-France.

Fußnoten: 1 Für einen kompromisslosen Unabhängigkeitskurs tritt keine der independentistischen Bewegungen mehr ein. Ihre Programme sehen inzwischen eine Übergangsphase vor, während der auf beiden Inseln ein Organ mit ausgedehnten Beratungsbefugnissen eingerichtet werden soll; in diesem Zeitraum würde ein Großteil der Souveränitätsattribute auf Martinique und Guadeloupe übertragen werden, mit Ausnahme der Währung, der Verteidigung und der Zivilverwaltung, die noch für eine gewisse Zeit in der Zuständigkeit des Zentralstaats bleiben würden. Nach Auffassung der nationalistischen Organisationen können diese neuen Bestimmungen nur durch eine Statusänderung der französischen Departements Amerikas (DFA) zustande kommen. 2 80 Prozent aller Konsumgüter auf der Insel werden aus Europa importiert. 3 Siehe Adèle Dencour, „Quel avenir pour les DOM dans l’Union européenne?“, Plein droit, Nr. 43, Paris, September 1999. 4 Bereits Ende der siebziger Jahre sprach Martiniques großer Dichter Aimé Césaire, damals Bürgermeister von Fort-de-France, von „Genozid durch Substitution“.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von MARIE-CLAUDE CÉLESTE