17.12.1999

Der Traum von einer Parzelle im Paradies

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Der Traum von einer Parzelle im Paradies

Von unserer Korrespondentin

DER Fluss, den die US-Amerikaner Rio Grande und die Mexikaner Río Bravo nennen, ist alles andere als ein majestätischer, schöner Strom. An der Grenze zwischen den Städten Laredo in Texas und Nuevo Laredo in der Provinz Tamaulipas ist der Rio Grande allenfalls ein kümmerliches Flüsschen von undefinierbarer Farbe, der alle möglichen üblen Gerüche verströmt. Auf mexikanischer Seite, wo das Ufer bis auf ein paar stachelige Brombeersträucher nackt und kahl ist, ziehen sich abschüssige Straubstraßen durchs Gelände.

Zu Hunderttausenden verlassen arme Mexikaner ihre Heimat, um sich in diesem Grenzstreifen entlang des Rio Grande anzusiedeln. Hier hoffen sie, die Arbeit zu finden, die es bei ihnen zu Hause nicht gibt. Von Tijuana im Westen bis Matamoros im äußersten Osten sind in einem nur wenige Kilometer schmalen Streifen die tausende von Maquiladoras (Zulieferfabriken) entstanden, denen die Migranten ins Netz gehen. Die erste Maquiladora entstand Mitte der sechziger Jahre in Nuevo Laredo, wo in den neuen Gewerbegebieten heute angeblich 25 000 bis 30 000 Arbeitsplätze angeboten werden.

Seit der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) hat die Zahl dieser Betriebe um ein Vielfaches zugenommen. Um die multinationalen Konzerne der ganzen Welt und ihre Filialen in diese Gegend zu locken, zeigt sich die mexikanische Regierung äußerst entgegenkommend: Die neuen Gewerbegebiete bieten fertige Straßen und kommunale Dienstleistungen, Wasser und Strom sind zwei Jahre lang umsonst. Über die Bewohner der Armenviertel, die von der Vision eines besseren Lebens hierher gelockt wurden, hat sich die Regierung weniger Gedanken gemacht.

Innerhalb von zwanzig Jahren ist Nuevo Laredo zu einem wild wuchernden Ballungsraum geworden, wo 1995 offiziell schon 335 000 Einwohner registriert wurden.1 In den Elendsvierteln am Rande der Stadt kassieren die Fahrer der städtischen Tanklastwagen 10 Pesos2 für das Abfüllen von Hundertliterfässern mit Wasser, das noch nicht einmal trinkbar ist. Die Bewohner sind allen möglichen Erpressungen und endlosen Schikanen ausgesetzt: bei der Wasserversorgung, beim Bau eines Klassenzimmers, wenn sie Arbeit oder eine Wohnung suchen.

Das Viertel „Julia Leyva“ ist nach der Rechtsanwältin benannt, um die sich dutzende obdachlose Familien scharen, die ein Dach über dem Kopf anstreben. Der staubige, ausgedörrte Boden ist durch Gräben oder improvisierte Obstkistenzäune in Parzellen aufgeteilt, die den unerreichbaren Traum vom eigenen Bungalow vorspiegeln. Nach dem Vorbild des Julia Leyva wurden in Nuevo Laredo dutzende Viertel „erbaut“. Für eine Geldsumme, die der Anwältin wöchentlich bar auf die Hand gezahlt werden muss, kann jede Familie eine Hütte aus grauen Brettern, Dachpappe und Plastikplanen aufschlagen, in der Hoffnung, ihr „Grundstück“ im Lauf der Jahre rechtmäßig zu erwerben. Der Haken ist nur, dass das Land, das Frau Leyva als das Ihre ausgibt, in Wirklichkeit Gemeindeboden ist.

In Matamoros, einer anderen Stadt an der Grenze zu Texas wenige Kilometer vom Golf von Mexiko entfernt, gibt es sechs solcher wilden, profitträchtigen Siedlungen. Die eine ist der Phantasie eines skrupellosen Geschäftemachers entsprungen, der im Übrigen der PRD (Partei der demokratischen Revolution)3 angehört und zunächst pro Familie und Woche 5 Pesos kassierte. Hier treffen wir Alma, die im Frühjahr 1998 zur Sprecherin gewählt wurde: „Wir haben erlebt, wie PRD-Aktivisten in unserem Stadtviertel aufgetaucht sind und 100 Pesos verlangt haben, angeblich um die Familien, die an der Besetzung des Landstücks teilgenommen hatten, in einer Liste zu erfassen, was ihnen das Recht auf einen Besitztitel einbringen sollte“, erzählt sie. „Danach kam es zwischen den Familien, die auf der Liste standen, und anderen, die nicht eingetragen waren, zu heftigen Auseinandersetzungen um die Parzellen. Die Kämpfe führten zu einer Fluktuation der Bewohner, was den korrupten PRD-Leuten wieder neue Gewinne verschafft hat.“

Die Mietergemeinschaft, die sich nun Fuerza y Unidad (Kraft und Einheit) nennt, kämpft für ein Bleiberecht an dem Ort, wo sie sich niedergelassen hat – eine ehemalige illegale Mülldeponie. Von den 400 Familien, die das Grundstück zunächst illegal besetzt hatten, sind 160 übrig geblieben. Unter Führung ihrer Vorsitzenden wollen sie „einen Legalisierungsprozess einleiten“. Seit März 1998 gelten neue Regeln: „Jede Familie hat ein 200 Quadratmeter großes Stück Land erhalten, um ihr Haus zu bauen. Wir haben ein Überwachungssystem eingerichtet, weil wir herausfanden, dass einige Familien eine Art Akkumulation betrieben. Sie besaßen schon anderswo Land, das die Regierung ihnen verkauft oder überlassen hatte.“

Diese Familien wurden gebeten, umzuziehen. Anschließend ging man daran, das Überleben im Alltag zu organisieren. Als Erstes legte man sich mit Si Poblador an, einer Institution der mexikanischen Regierung, die den rechtlichen Eigentümern illegal besetztes Land abkaufen und zu günstigen Preisen an die Besetzer weiterverkaufen soll. Alma möchte diese Institution dazu bringen, einen Zahlungsrhythmus zu akzeptieren, der den Einkünften der Familien entspricht. „Wer eine feste Arbeit hat, was bei etwa der Hälfte der Familienoberhäupter der Fall ist, könnte in eineinhalb Jahren alles abbezahlen.“ Den anderen müsste man längere Fristen einräumen. „40 Prozent der Familienoberhäupter haben nur Gelegenheitsarbeiten, 10 Prozent sind arbeitslos. Wir haben hier Leute, die mit 10 Pesos am Tag überleben und sich ausschließlich von Tortillas und roten Bohnen ernähren.“

Zwei öffentliche Wasserstellen wurden eingerichtet. Für Familien, die sich die städtische Wasserversorgung nicht leisten können, sind sie lebenswichtig. In der Ecke einer brachliegenden Parzelle ragt ein dünnes Wasserrohr aus der Erde, aber obwohl der Hahn voll aufgedreht ist, reicht es nur zu einem dünnen Tröpfeln, darunter steht geduldig ein verbeulter Eimer.

Auf einem Grundstück, das kaum größer ist als die anderen, soll eine Schule errichtet werden. Etwa 250 Kinder leben in Fuerza y Unidad. 40 Prozent bleiben ohne jede Schulbildung und auch ohne Chance, woanders eingeschult zu werden: „Die Schulen in den legalen Stadtvierteln sind überfüllt, dort hat schon jede Grundschule 1 500 Kinder.“ Die Hälfte der Erwachsenen sind Analphabeten. Sie bilden das klassische Subproletariat, das auf die Schattenwirtschaft im Bau- oder Tourismussektor angewiesen ist. Oder sie verkaufen als fliegende Händler kitschige Marienfiguren, Hängematten oder Eis inmitten der Autokolonnen an den Grenzübergängen. Die kirchliche Arbeiterbetreuung von Matamoros, die der Befreiungstheologie nahe steht, bietet unter Leitung von Manuel Mondragón täglich zweistündige Alphabetisierungskurse. Doch da es keine Räumlichkeiten gibt, sind die Kurse kaum noch besucht.

Nicht jedermann hat Zutritt zu den Maquiladoras. Als Fließbandarbeiter wird nur eingestellt, wer einen Realschulabschluss nachweisen kann. Tausende Migranten mit geringer Schulbildung, die das nicht wissen, sind schon vor ihrer Bewerbung chancenlos. Die meisten Arbeitskräfte sind junge Arbeiterinnen zwischen 18 und 35 Jahren. Viele leben bei Verwandten und begnügen sich mit einem geringen Lohn, die meisten Fabriken haben diese Situation längst durchschaut.

Josephina und ihr Mann sind im Juni 1998 in Nuevo Laredo angekommen. Für eine 64-Stunden-Woche (inklusive fünf Pflichtstunden am Samstagvormittag) erhielt Josephina wöchentlich 262 Pesos – immer noch gutes Geld im Vergleich zu ihrer Lage im heimatlichen Guerrero3 : „Hier haben wir wenigstens eine Kochplatte und einen Fernseher.“ Die junge Frau fand sofort eine Anstellung in der Maquiladora Luremex, die auf die Bemalung von Anglerbedarf für den US-amerikanischen Markt spezialisiert ist. Im August 1998 verordnete die Leiterin von Luremex der Belegschaft eine obligatorische Reihenimpfung, angeblich für Männer wie für Frauen. Einige Tage nach der Injektion gestand die Krankenschwester, bei der Impfung habe es sich in Wirklichkeit um eine Spritze gehandelt, die nach den Worten von Josephina „eine vorübergehende, fünfmonatige Sterilisierung“ bewirkte.

Als im Februar 1999 eine zweite „Impfung“ angeordnet wurde, verweigerten die meisten Frauen eine Injektion. Aber die Vorarbeiter drohten den Widerstrebenden mit Entlassung und ließen sie zwangsvorführen. Daraufhin kündigte Josephina und verklagte die Firma. Als die Firma drohte, ihren Verdienst in Höhe von 60 Tageslöhnen einzubehalten – was sie ganz nach Laune über mehrere Monate tun kann – zog Josephina die Klage zurück. Heute ist sie krank und kann sich keine Behandlung leisten: Ein Arztbesuch kostet 50 Pesos, eine Blutabnahme 900 Pesos, und der Lohn ihres Mannes, der als Nachtwächter in einem Transportunternehmen arbeitet, reicht nur für das Allernötigste.

Methoden der Zwangsverhütung sind in den Maquiladora-Gebieten offenbar nichts Ungewöhnliches. Man hört von jungen Frauen, die ihren Vorarbeitern oder dem Obmann der Einheitsgewerkschaft regelmäßig gebrauchte Monatsbinden vorzeigen müssen. Die Einheitsgewerkschaft Confederación de Trabajadores Mexicanos (CTM) steht der Regierungspartei PRI nahe und ist für die Einstellung wie für die Entlassung des Personals zuständig. Mit 35 Jahren werden die Frauen ohnehin entlassen, sie gelten dann für die Fließbandarbeit als zu alt. Frauen, die länger als vier oder fünf Jahre in demselben Unternehmen bleiben, sind eine Seltenheit. Die Arbeitgeber haben die Gewohnheit, die Belegschaften in kurzen Abständen auszutauschen, um die Löhne so niedrig wie möglich zu halten. Auch zahlen sie keinen Mutterschutz für schwangere Frauen und übernehmen keinerlei Verantwortung für arbeitsbedingte Gesundheitsschäden, die durch die völlig ungeschützte Verwendung hoch gefährlicher chemischer Stoffe entstehen.

Die Arbeitgeber in den Maquiladoras schinden ihr Arbeitsvieh heutzutage nicht mehr bis auf die Knochen. Sie nutzen es in genau kalkulierter und hoch rationeller Weise und stoßen es rechtzeitig wieder ab, bevor arbeitsbedingte Erkrankungen zu Tage treten. Ebenso entledigen sie sich der störenden Elemente, die eine freie Gewerkschaft gründen wollen. Wenn man sie entdeckt, werden sie sofort entlassen. Entlang des gesamten Río zirkuliert bei den Unternehmern eine schwarze Liste mit 4 000 Namen. Lily beispielsweise weiß, dass sie in einer Maquila keine Arbeit mehr bekommen wird. Als Mitglied der CJM wurde sie in ihrem Unternehmen zunächst zurückgestuft und dann zur Kündigung gezwungen, weil sie im Juli 1998 an einem Gewerkschaftskongress in Kansas City teilgenommen hatte. Mittlerweile geht sie dreimal pro Woche illegal über die Grenze und verkauft in Laredo Hamburger für 12 Dollar Tageslohn. Ursprünglich hatte sie gar nicht die Absicht, den Fluss zu überqueren.

Heute drängt sie sich mit vielen anderen in der Grenzregion, die wie Motten vom Geglitzer des angeblich entwickelten mexikanischen Nordens angezogen wurden. Und alle müssen sie feststellen, dass sie in der Falle sitzen. Wenn sie nicht auf kleiner Flamme sterben wollen, gibt es nur eine Lösung, und die liegt nördlich dieses Nordens, in den USA. Almas Mann ist im vergangenen Juni rübergegangen. Er wollte für sechs Monate in Houston Arbeit finden, egal welche, um mit dem kleinen Vermögen, das er mitzubringen hofft, die Hütte, in der Alma und ihre drei Kinder hausen, zu reparieren. Überleben an der Grenze fordert einen horrenden Preis.

dt. Miriam Lang

*  Journalistin

Fußnoten: 1 Auf der US-amerikanischen Seite haben die Grenzstädte das Flair von verschlafenen Kleinstädten. Das gilt auch für Laredo mit seinen rund 170 000 Einwohnern. Das Stadtzentrum ist verwahrlost, lediglich einige Außenbezirke machen einen besseren Eindruck. Hier wohnen die Fabrikdirektoren der Filialen multinationaler, in der Mehrzahl US-amerikanischer Konzerne. Dasselbe gilt für Matamoros. 2 1 Mark entspricht derzeit ca. 5 Pesos. 3 Oppositionspartei der gemäßigten Linken, deren Galionsfigur Cuauhtémoc Cárdenas ist. Dieser genießt zwar den Ruf eines sehr integren Mannes, aber das gilt keineswegs für alle führenden Mitglieder seiner Partei. Siehe Françoise Escarpit, „Einer kommt durch“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999. 4 Siehe Maurice Lemoine, „Die neu-alten Guerillas in Guerrero“, Le Monde diplomatique, November 1998.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von MARIE-AGNÈS COMBESQUE