17.12.1999

La Frontera – ein neuer Eiserner Vorhang

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La Frontera – ein neuer Eiserner Vorhang

Von unserer Korrespondentin JANETTE HABEL *

Der rote Trolleybus von San Diego (USA) nach Tijuana (Mexiko) braucht 45 Minuten bis zum Grenzübergang. Die spanischen Namen der Haltestellen – Chula Vista, San Ysidro, El Cajón, Morena Linda Vista – erinnern daran, dass dieses Gebiet im 19. Jahrhundert noch mexikanisch war. Die gepflegten Rasenflächen der siebzig Golfplätze von San Diego liegen hinter uns, stattdessen nun die staubigen Straßen von Tijuana, wo aufdringliche Straßenhändler den Touristen auflauern. Hier endet der Trolley, ein mexikanischer Bus bringt uns weiter in die Innenstadt. Passkontrollen gibt es nicht, die Formalitäten sind auf ein Minimum reduziert. Doch auf dem Rückweg gibt es bei der amerikanischen Grenzpolizei kein Pardon, wenn die Papiere nicht in Ordnung sind.

Seit den siebziger Jahren vollziehen sich an der mexikanischen Nordgrenze spektakuläre Veränderungen. Das Bevölkerungswachstum hat Kleinstädte zu Metropolen anschwellen lassen. 1950 hatte Tijuana 65 000 Einwohner, heute sind es 1,3 Millionen. Damit hat die mexikanische Zwillingsstadt ihr US-amerikanisches Pendant San Diego überflügelt.

Das Grenzgebiet zieht die Menschen an, denn es ist zu einem der wichtigsten Industriegebiete des Landes geworden. Seit 1965, und erst recht seit der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta)1 , haben sich multinationale Konzerne US-amerikanischer, japanischer und koreanischer Herkunft gleich dutzendweise in den Gewerbegebieten Nordmexikos angesiedelt. Zwischen 1970 und 1975 stieg die Produktion jährlich um durchschnittlich 4,9 Prozent, im darauffolgenden Jahrzehnt um 12 Prozent. Derzeit liegt die Wachstumsrate bei etwa 11 Prozent. Dieser Aufschwung geht auf die Maquiladoras zurück.2 Über 1 Million Menschen arbeiten in der Montageindustrie entlang der Grenze, die einen steuerlichen Sonderstatus für den Export genießt, weshalb die Produktionskosten bis zu zehn Mal niedriger liegen als in den USA. 1998 exportierten diese Fabriken Waren im Wert von 55 Milliarden Dollar.

Die Dynamik der wirtschaftlichen Aktivitäten ist ungebrochen. 1996 existierten 719 Maquiladoras in 25 Gewerbegebieten. In Tijuana, das wegen seiner Spezialisierung auf Fernsehgeräte den Spitznamen „Tivijuana“ trägt, haben sich Samsung, Sony, Hyundai und Sanyo angesiedelt.

Auf die Armen aus Mexiko und Zentralamerika wirkt die Region wie ein Magnet (siehe den Beitrag von Marie-Agnès Combesque). Das größte Kontingent der Wanderarbeiter kommt – auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit und miserablen Löhnen – aus den ärmsten Bundesstaaten: 35 bis 40 Prozent sind indianischer Herkunft.

Dank des Reservoirs von Billigarbeitskräften, die so genannte Migradollars verdienen und an ihre Familien schicken wollen, können die Löhne von den Produktivitätszuwächsen abgekoppelt werden. Für einen zehnstündigen Arbeitstag im Rahmen einer Sechstagewoche werden 450 bis 675 Pesos (100 bis 150 Mark) gezahlt.3 Die hohe Fluktuation der Belegschaften (in der Mehrzahl junge Frauen) hält die Löhne konstant. In dieselbe Richtung wirkt auch der Korporatismus der offiziellen mexikanischen Gewerkschaften, deren Vertreter die Arbeiterinnen auf bewährte klientelistische Weise zu friedlichen Beziehungen mit ihren Betrieben zwingen. Die Arbeitsflexibilität ist hier größer als anderswo in Mexiko. Eine gewerkschaftliche Vertretung ist in den meisten Werkhallen nicht existent, über bestehende Tarifverträge ist niemand informiert. Proteste werden brutal unterdrückt und führen zu Massenentlassungen oder zur Schließung ganzer Fabriken und deren Verlagerung in kooperativere Gefilde.

Die Kapitalressourcen und die Vitalität des US-amerikanischen Marktes determinieren zunehmend die mexikanische Ökonomie, die immer stärker vom Dollar abhängt. Der mexikanische Wissenschaftler Ramon Eduardo Ruiz4 widerspricht den Verfechtern der Theorie eines neuen Entwicklungsmodells Nordgrenze, wonach die Entwicklung des Grenzgebiets die Integration moderner und rückständiger Sektoren in eine binationale Ökonomie möglich mache. Die Maquiladoras funktionieren als industrielle Enklave oft völlig losgelöst von der lokalen Ökonomie, sind also vielmehr in ein internationales Beziehungsgeflecht eingebunden (1998 waren 97,3 Prozent der Halbfabrikate importiert5 ). Immerhin profitiert die Wettbewerbsfähigkeit der regionalen Ökonomie von der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte.

Doch der Überfluss an billigen Arbeitskräften stellt keinen komparativen Vorteil dar, der ebenso bedeutsam wäre wie die Faktoren Kapitalfluss, Technologie und Kaufkraft des großen US-amerikanischen Marktes. Die Behauptung, es handle sich um eine fruchtbare gegenseitige Abhängigkeit zum beiderseitigen Nutzen, ist ein Mythos. „Was die Realität an der Nordgrenze ausmacht“, sagt Ruiz, „ist Abhängigkeit, und zwar strukturelle Abhängigkeit“. Sprich: das Gegenteil einer nachhaltigen Entwicklung.

Hier handelt es sich also nicht um einen Ansatz zur produktiven Restrukturierung der Nord-Süd-Beziehungen, wie es die neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler aus Mexiko-Stadt behaupten, sondern eher um einen internationalen Integrationsprozess, der auf der Wettbewerbssituation eines unterentwickelten Landes basiert6 , auf der Asymmetrie zwischen der mächtigsten Ökonomie der Welt und der eines halb industrialisierten Landes. Das Fehlen von Normen und Vorschriften hat eine zerstörerische Wirkung, deren soziale Kosten unkalkulierbar sind.

Zum Beispiel verschärft der grenzüberschreitende Zusammenschluss die Umweltzerstörung. Einerseits haben mexikanische Fabriken keine Skrupel, ihre bakterien- und virenverseuchten Abwässer über die kalifornische Kanalisation zu entsorgen, andererseits schicken US-amerikanische Firmen allen Nafta-Regelungen zum Trotz das Dreißigfache an giftigen Abfällen nach Süden zurück7 . Allein die Samsung-Fabrik in Tijuana verbraucht 5 Prozent der jährlichen Trinkwassermenge und löst dadurch in der Stadt regelmäßig eine Wasserknappheit aus. In Ciudad Juárez-El Paso staut sich die verdreckte Luft zu einer dichten Dunstglocke über beiden Städten. Die Probleme haben solche Dimensionen erreicht, dass man jetzt mit dem Aufbau einer binationalen Infrastruktur für die Abwasseraufbereitung und die Messung der Luftverschmutzung begonnen hat.

Zur verminderten Lebensqualität tragen auch der Schmuggel, die Kriminalitätsrate und die allgemeine Unsicherheit bei. Drogenhandel und Prostitution sind durch grenzübergreifende Netzwerke organisiert. Zwar bestehen Bordelle und Zuhälterbanden in den Grenzstädten dieser „Toleranzzone“ schon sehr lange, doch haben Gewalt und Verbrechen neue Formen angenommen.8

In Tijuana und Ciudad Juárez wird der Drogenexport in die USA von Kartellen organisiert. In Tijuana sollen die Drogenhändler allein im Jahr 1997 für 600 Morde verantwortlich gewesen sein. Die Lokalzeitung Zeta9 schätzt, dass im Rahmen des Krieges zwischen dem Arellano-Kartell von Tijuana und der Mafia von Sinaloa bis Juli 1999 im Bundesstaat Baja California bereits 300 Morde begangen wurden. Und dieses Schattenregime tendiert dazu, sich über die Grenzen hinweg zu organisieren. Beide Gruppen kämpfen erbittert um die Kontrolle der Küstenstraße. Ebenfalls in Tijuana wurde am 23. März 1994 Luis Donaldo Colosio ermordet, der Präsidentschaftskandidat der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution). Und die Söldner des Arellano-Kartells, die in Guadalajara den Kardinal Posadas Ocampo ermordet haben, waren aus den Gangs rekrutiert, die im US-amerikanischen San Diego ihr Unwesen treiben. Nach Angaben von Zeta weigert sich die Polizei der betroffenen Staaten, in diesen Mordfällen zu ermitteln – entweder, weil sie Repressalien befürchtet, oder weil sie selbst in sie verwickelt ist.

Dennoch verstärken die Regierungen die Militärpräsenz auf beiden Seiten der línea (Linie, d.h. juristische Grenze). Denn Waren dürfen in der Nafta-Welt zwar frei zirkulieren (kaum fünf Kilometer von den Grenzkontrollstellen Tijuana-San Diego entfernt wird die línea problemlos von ganzen Schlangen blitzblanker, voll beladener Lastwagen passiert), aber das gilt für Menschen noch lange nicht. Neuerdings wurde auf einem Teilstück der Grenze eine etwa drei Meter hohe Metallwand errichtet. Sie schiebt sich zwischen die Zwillingssiedlungen, die sich im Zuge der beschleunigten und anarchischen Urbanisierung über ein zerklüftetes Hochplateau bis zur Pazifikküste ausbreiten, wo die Wand – wie ein neuer eiserner Vorhang – im Ozean verschwindet.

SEITDEM 1996 ein neues Gesetz über illegale Einwanderung und die Haftbarkeit der Emigranten verabschiedet wurde, müssen illegale Einwanderer in den USA mit Geld- oder Gefängnisstrafen rechnen. Im Februar 1996 beschloss die US-Regierung, so lange 1 000 zusätzliche Beamte jährlich einzustellen, bis die Grenztruppe die Stärke von 10 000 Mann erreicht hat. Gleichzeitig wurde der Haushalt der Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde SIN auf 2 600 Millionen Dollar aufgestockt, das entspricht einem mittleren Zuwachs von 72 Prozent seit dem Amtsantritt Bill Clintons 1993.

Diese so genannte Operation Gatekeeper (spanisch: Operación Guardián) hat die Grenze so strikt abgeriegelt und militarisiert wie nie zuvor. Die Jeeps der border patrols sind rund um die Uhr unterwegs, Hubschrauber kontrollieren pausenlos die Küste. Mit Unterstützung des Pentagons wurden Detektoren installiert, die die geringste Bewegung registrieren. Ein junger Mexikaner, der es nach fünf gescheiterten Anläufen endlich schaffte, die Grenze zu überwinden, weiß von Nachrichtentechnikern zu berichten, die mittels Infrarot-Kameras die Einwanderer auf ihren Bildschirmen verfolgen wie in einem Videospiel. Die Daten werden über Funk an Polizeibeamte vor Ort weitergegeben, die so die Illegalen aufspüren können.

Die Militarisierung hat den Einwanderungsstrom nicht unterbrochen. Sicher ist die Anzahl der illegalen Einwanderer, die in Kalifornien die Grenze überqueren, drastisch zurückgegangen: 1993 wurden in San Diego noch 531 689 illegale Immigranten gefasst, in den ersten acht Monaten von 1999 waren es nur noch 166 151.10 Dessen ungeachtet wird die Zahl der Personen, die illegal in die USA eingereist sind, für 1998 auf über eine halbe Million geschätzt.11 Im selben Jahr haben die USA zudem 20 000 mexikanische Minderjährige abgeschoben, die heimlich in US-Territorium eingedrungen waren.

Wenn die Zahl der Grenzübertrittswilligen nicht zurückgeht, so liegt das an der Struktur des mexikanischen Arbeitsmarktes: Er verzeichnet ein jährliches Defizit von einer Million Arbeitsplätzen.12 Der Nafta-Vertrag hat sich für die USA vorteilhafter ausgewirkt als für Mexiko. Seine zerstörerischen Auswirkungen auf die bäuerliche Lebensweise erklären einen Großteil der Migrationsbewegungen aus den ländlichen Gebieten Mexikos in Richtung USA. „Für die jungen Generationen waren die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt seit Jahrzehnten nicht so finster wie heute“, meint der Unterstaatssekretär im mexikanischen Arbeitsministerium.13 Nach Angaben der Banco de Mexico schicken Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner, die um der Armut zu entkommen legal oder illegal, vorübergehend oder definitiv in die USA übergesiedelt sind, pro Jahr bis zu 5,5 Milliarden Dollar nach Mexiko, um die Not ihrer im Land verbliebenen Angehörigen zu lindern. Diese Transfers entsprachen im Jahr 1997 4,5 Prozent der gesamten Exporterlöse und nahezu 55 Prozent des Umsatzes der Maquiladoras14 .

Die Anziehungskraft des US-amerikanischen El Dorado lässt eine Firma neuen Typs florieren: Die Coyote Inc. Der organisierte Schmuggel illegaler Einwanderer durch kostenpflichtige Dienste der „coyotes“ oder „polleros“ genannten Schlepperbanden hat sich zu einem Geschäft ausgewachsen, das fast so einträglich ist wie der Drogenhandel. Für 650 Dollar pro Person, zahlbar bei Ankunft, überquert man die Grenze auf eigene Gefahr binnen eines Tages. Das ist der Mindesttarif. Von Mexiko-Stadt nach Phoenix, Arizona, kostet die Reise 1 200 Dollar, und 12 000 für eine Gruppe von mindestens zehn Personen. Und außerdem gibt es noch jene skrupellosen Führer, die den Flüchtigen 1 500 oder 2 000 Dollar abnehmen, nur um sie dann irgendwo in freier Natur zurückzulassen, wo sie von den Militärpatrouillen gejagt und häufig misshandelt werden.

Um den Kontrollen zu entkommen und die eiserne Mauer zu umgehen, die in den wichtigsten Grenzstädten errichtet wurde, versuchen die Migranten den Übertritt in Berg- oder Wüstenregionen. Im Jahr 1998 verdurstete eine Gruppe von zehn Leuten östlich von San Diego in der Wüste. Zuweilen schießen die Grenzpatrouillen auch: 89 Flüchtlinge wurden 1998 durch Schüsse verletzt oder getötet.15 Auf der mexikanischen Seite der Pazifikküste verzeichnet ein riesiges weißes Schild auf dem Eisenzaun die Liste der Toten seit 1995. Über 400 Menschen starben an Hunger, Durst oder Erschöpfung. Der Jüngste von ihnen war fünfzehn Jahre alt, der Älteste vierzig.

dt. Miriam Lang

* Dozentin an der Universität von Marne-la-Vallée und am Institut des hautes études d' Amérique Latine (IHEAL).

Fußnoten: 1 Das Nafta-Abkommen ist am 1. Januar 1994 in Kraft getreten, ihm sind Kanada, die Vereinigten Staaten und Mexiko beigetreten. 2 Maquiladoras oder Maquilas sind Zulieferbetriebe multinationaler Konzerne, die von sehr niedrigen Lohnkosten, der Zollfreiheit und der Nähe zu den USA profitieren, die der Exportmarkt für die fertigen Produkte sind. Siehe Maurice Lemoine, „Die Arbeiter Zentralamerikas als Geiseln der Maquilas“, Le Monde diplomatique, März 1998. 3 El País, Madrid, 8. August 1999. 4 Ramon Eduardo Ruiz, „Capitalismo global y la frontera norte“, Dialéctica, Nr. 32, Universidad Autónoma de Puebla, 1999. 5 Latin American & Nafta Report, London, 13. April 1999. 6 Hélène Rivière d'Arc, Ilan Bizberg, Jaimo Marqués Pereira u.a., „Competitividad del subdesarollo y flexibilidad del trabajo en el norte de México“, in: „Las regiones ante la globalización“, El Colegio de México, 1998. 7 Mike Davis: „Magical Urbanism“, New Left Review, London, März/April 1999. 8 194 Frauen wurden seit 1993 in Ciudad Juárez und Umgebung vergewaltigt, gefoltert und ermordet. Zu 80 Prozent waren die Opfer junge Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren, die in den Maquiladoras arbeiteten. Um ihre Untätigkeit zu rechtfertigen, versucht die Regierung diese jungen Frauen propagandistisch als Prostituierte mit Verbindung zu Drogenhändlern darzustellen. 9 Zeta, Wochenschrift, Tijuana, 16. Juli 1999. 10 Newsweek, New York, 30. August 1999. 11 El País, 14. August 1999. 12 Die mexikanische Wirtschaftskrise, der gemeinhin ein „glücklicher“ Ausgang bescheinigt wird und die Finanzfachleute enthusiastisch kommentieren, hatte infolge der katastrophalen Abwertung des Peso im Dezember 1994 den Verlust von einer Million Arbeitsplätzen nach sich gezogen. 13 Excelsior, Mexiko-Stadt, 16. Juli 1999. 14 El País, 4. Januar 1999. 15 Latin American Mexico & Nafta Report, London, 12. Januar 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von ANETTE HABEL