17.12.1999

Die Machthaber im Maghreb pflegen die Völkerfeindschaft

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Die Machthaber im Maghreb pflegen die Völkerfeindschaft

Von LAHOUARI ADDI *

Als der marokkanische König Hassan II. im Juli 1999 starb, respektierte Algerien die Trauerzeit von drei Tagen, in denen der Verstorbene in den Medien ausgiebig gewürdigt wurde. Der neu gewählte algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika begab sich nach Rabat und äußerte sich demonstrativ warmherzig über das künftige Verhältnis zwischen den beiden Staaten.

Auch auf marokkanischer Seite zeigte man sich gewillt, ein neues Kapitel in den Beziehungen zu Algerien aufzuschlagen. Doch diese Idylle hielt sich nicht einmal einen Monat: Just an dem Tag, an dem die Vereinbarung über die Öffnung der Straßenverbindungen zwischen beiden Ländern für den 20. August 1999 angekündigt wurde, richteten die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) ein Massaker an, dem 36 algerische Zivilisten zum Opfer fielen. In Algier geht man davon aus, dass die Terroristen von Marokko aus operierten. Seither sind in der Presse wieder die üblichen gegenseitigen Vorwürfe zu lesen.

Obwohl die „Bruderländer“ ständig auf ihre sprachlichen, historischen und religiösen Gemeinsamkeiten verweisen, waren ihre Beziehungen seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 so, dass ein offener Bruch jederzeit denkbar war. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit von 1969 bis 1974. Diese Feindseligkeit entlud sich bereits 1963 in einem Scharmützel in Tindouf. Seit 1975 sorgt die Westsaharafrage dafür, dass beide Länder sich am Rande eines bewaffneten Konflikts bewegen. Der Widerspruch zwischen den gespannten Beziehungen einerseits und den gleichzeitigen Bekenntnissen zur Gemeinsamkeit hat mit den unterschiedlichen Formen zu tun, mit denen sich die autoritären Regime in den beiden Ländern legitimieren.

Das primäre strategische Ziel des marokkanischen Regimes ist der Fortbestand der Monarchie. Für das algerische Regime galt bis zum Abtreten von Houari Boumedienne im Jahre 1978 die Maxime, dass die Revolution scheitern müsse, wenn sie an der algerischen Westgrenze Halt mache. Beide Regime sahen in dem jeweils anderen eine Bedrohung; die Streitigkeiten um ein paar Sanddünen oder Landstreifen (wie 1963 um Tindouf oder nach 1975 um die Westsahara) waren nur Ausdruck dieser permanenten Rivalität. Das marokkanische Königshaus, das es seit den achtziger Jahren mit einer linken Opposition zu tun hatte, versuchte sich zu behaupten, indem es eine ewige historische Größe namens Marokko konstruierte und sich mit dessen Schicksal identifizierte. Demgegenüber bezogen die Machthaber in Algerien ihre revolutionäre Legitimation aus einer Perspektive der nationalen Emanzipation, die im scharfen Kontrast zur Westbindung des Nachbarlandes stand.

Seit 1962 sind die Grenzübergänge zwischen den beiden Ländern geschlossen. Könnten nun die Wahl Bouteflikas und der Tod von König Hassan II. für die marokkanisch-algerischen Beziehungen eine Wende bringen? Zweifel sind angebracht. Eine echte Entspannung würde voraussetzen, dass beide Regime grundlegende politische Reformen durchführten und bereit wären, ihre Legitimation aus Wahlen statt aus nationalistischen Versprechungen zu beziehen.

In der Bevölkerung herrscht der ausgeprägte Wunsch nach einem vereinigten Maghreb ohne Grenzen, zumindest auf längere Sicht. Dieser Wunsch war während der Kolonialzeit noch deutlicher vorhanden: Nicht ohne Grund nannte sich die erste nationalistische Partei Algeriens, Vorläuferin der Nationalen Befreiungsfront (FLN), „Stern Nordafrikas“ (Étoile Nord-Africaine). Die erste Generation der Nationalisten unter Führung von Messali Hadj sah in der Befreiung Algeriens nur den ersten Schritt in Richtung eines gemeinsamen souveränen Staates Nordafrika. Die Unruhen in Marokko und Tunesien zu Beginn der fünfziger Jahre haben die Algerier ermuntert, 1954 den Aufstand zu wagen. Zwar ließ dann die Erhebung in den beiden anderen Protektoraten auf sich warten, aber Marokko und Tunesien waren das Hinterland für die Nationale Befreiungsarmee (ALN). Viele Bewohner in den marokkanischen und tunesischen Grenzregionen unterstützten die FLN, manche unter Einsatz ihres Lebens.

DIE anfängliche Begeisterung und die Bereitschaft zur Vereinigung wurden in der Folgezeit getrübt, auch auf Grund von Gebietsstreitigkeiten. Gewisse Kräfte in Marokko meinten, die französische Kolonialmacht habe ihr Land seines östlichen Territoriums beraubt. Im Namen eines „Groß-Marokko“, das in manchen Vorstellungen bis Mauretanien reichte, beanspruchte die marokkanische Rechte, allen voran die Istiqlal-Partei1 , einen erheblichen Teil Algeriens – von Mostaganem im Norden bis Beschar im Süden. Die linken Parteien, denen es mehr um soziale und wirtschaftliche Reformen ging, verschoben die Lösung der Grenzfragen in die Zukunft eines vereinigten Maghreb.2 Seit den Unabhängigkeitserklärungen setzte sich in der ganzen Region die Logik der Staatlichkeit durch. Aber die Grenzen stammten aus der Kolonialzeit und trennten Bevölkerungsgruppen, die sich miteinander verwandt fühlten.3

Der algerische Präsident Houari Boumedienne ging davon aus, dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen in seinem Land auf ganz Nordafrika auswirken würden. „Die marokkanischen Brüder haben uns geholfen, Frankreich loszuwerden, nun werden wir ihnen helfen, sich von einer feudalen Monarchie zu befreien, die sich an den Westen und vor allem an Frankreich und die USA verkauft hat.“ Für König Hassan II. hegte der Präsident des revolutionären Algerien keine Sympathien. Er sah in ihm das Haupthindernis auf dem Weg zur nordafrikanischen Einheit, aber zugleich wollte er sich in die inneren Angelegenheiten des Nachbarlands nicht einmischen und unterband daher jede Unterstützung für die legalen und illegalen Oppositionsgruppen in Marokko. Vielleicht befürchtete er auch, dass König Hassan algerischen Oppositionellen Zuflucht gewähren könnte. Jedenfalls nahmen die beiden Staaten in der Ära Boumedienne diplomatische Beziehungen auf, die auf gegenseitigem Respekt gründeten.

Die Politik der Verständigung, auf die man sich auf den Gipfeltreffen von Tlemcen (1969) und Ifrane (1971) verständigt hatte, fand ihr jähes Ende mit der Besetzung der Westsahara durch Marokko im November 1975. Aus der Sicht Boumediennes hatte sich die Monarchie durch diese Annexion – die ihr die Phosphatvorkommen der Region sicherte – die finanziellen Mittel für ihr Überleben verschafft. Boumedienne legte sich jedoch in der Westsaharafrage nicht völlig fest: Einerseits unterstützte er das Recht der Sahraouis auf Selbstbestimmung, andererseits blieb er dabei, sich nicht in die marokkanische Innenpolitik einzumischen. Zugleich gewährte er der Frente Polisario militärische und politische Unterstützung, wobei er wahrscheinlich hoffte, die sahraouische Guerillabewegung werde Marokko den Norden des umstrittenen Gebiets wegnehmen. Umso größer war die Enttäuschung, als es der Monarchie gelang, die Westsaharafrage zur historischen Mission zu erklären und ein heiliges Bündnis aller politischen Kräfte zu schmieden, das die Parole der „nationalen Befreiung“ propagierte.

In den sechziger Jahren hatte die marokkanische Monarchie auf nationalistische Großtaten gesetzt, um sich die Linke vom Leib zu halten. Zuerst forderte sie algerisches Territorium (im Wüstenkrieg von 1963), und im November 1975 besetzte sie die Westsahara. Der Verlauf der algerisch-marokkanischen Grenze wurde lange Zeit nicht anerkannt; eine offizielle Einigung erzielten König Hassan II. und Präsident Mohamed Boudiaf erst im Juni 1992.4 Mit ihrer nationalistischen Offensive wollte die Monarchie die wichtigste oppositionelle Kraft schwächen, die von Mehdi Ben Barka gegründete und geführte Union nationale des forces populaires (UNFP). Ben Barka pflegte gute Beziehungen zum algerischen Regime unter Ahmed Ben Bella5 . Im Juli 1963 verlor die Partei ihren Führer, dem „Verschwörung gegen den Staat“ vorgeworfen wurde. Ben Barka fand in Algier Exil, von wo er den „Wüstenkrieg“, der im Oktober desselben Jahres ausbrach, als „Aggression einer feudalen Monarchie gegen die algerische Revolution verurteilte. Die dem Herrscherhaus ergebenen marokkanischen Parteien nutzten die Gelegenheit, die Aktivisten der Linken offen des Verrats zu bezichtigen. Dieser Konflikt hat die UNFP dauerhaft geschwächt. Ben Barka wurde im Oktober 1965 in Paris ermordet, wobei maßgebliche Vertreter der französischen Polizei zu den Mitwissern des Anschlags zählten.6

Der Schock der Ereignisse von 1963 brachte die marokkanische Linke dazu, in den nationalistischen Chor einzustimmen und sich für die „Rückerlangung“ der unter spanischer Herrschaft stehenden Westsahara stark zu machen (mit Ausnahme der marxistischen Bewegung Ital Amam von Abraham Serfaty). 1975 mobilisierten auch die linken Parteien für den „Grünen Marsch“, der König Hassan dazu diente, das Gebiet zu besetzen: Am Tag des Abzugs der spanischen Truppen marschierten zehntausende Marokkaner, die Bilder des Königs und den Koran vor sich her trugen, in die Westsahara ein. Der König hatte sein Ziel erreicht: Seine gefährlichsten Gegner, die Erben Mehdi Ben Barkas, waren auf seine Linie eingeschwenkt.

Der Monarchie ging es auch darum, gegen das Auftreten eines marokkanischen Boumedienne gewappnet zu sein. Ein antimonarchistischer und nasseristischer Armeeoberst hätte sicher auf die Unterstützung der Ben-Barka-Anhänger (dessen UNFP nannte sich inzwischen USFP) rechnen können, was das Ende des Königshauses bedeutet hätte. Im Juli 1971 scheiterte der Staatsstreich von Oberst Mohamed Ababou in Skirat, der eine „Volksrepublik Marokko“ nach algerischem Vorbild errichten wollte. Die Aufbauleistungen im Nachbarland – Industrialisierung, Verstaatlichungen, Agrarrevolution und umfassende Bildungsprogramme – hatten auch Teile der marokkanischen Eliten fasziniert. Ein weiterer Umsturzversuch scheiterte 1972, als ein Attentat auf die Boeing des Königs fehlschlug.

Die Westsaharakrise kam wie gerufen, um Stimmung gegen die algerische Führung zu machen: Der Palast ließ verlauten, Algerien strebe eine Vormachtstellung in der Region an und wolle Marokko daran hindern, seine Befreiung zu vollenden. Der König versuchte, das „sozialistische Regime“ in der öffentlichen Meinung und bei der politischen Klasse herabzusetzen. Ebenso heftig agitierte der Hof gegen die Vorschläge, eine konstitutionelle Monarchie nach britischem Vorbild einzuführen.7

Erst nach dem Tod von Houari Boumedienne, der das Ende der revolutionären und voluntaristischen Politik Algeriens markierte, konnte Marokkos König aufatmen. Boumediennes Nachfolger besaßen nicht sein Format und waren an der Einheit des Maghreb weniger interessiert. Unter Präsident Chadli Bendjedid begann das algerische Modell seine Schwächen zu offenbaren: Produktionsrückgang, anhaltende Versorgungsmängel, Korruption, sinkender Lebensstandard usw. Angesichts des Bürgerkrieges und der Ausbreitung der Gewalt in Algerien konnte Hassan II. in den neunziger Jahren sein Volk vor die Alternative stellen: „Ich oder das algerische Chaos“. Was Arbeitslosigkeit, Armut, Verschuldung und Abhängigkeit des Landes betrifft, konnte er zwar durchaus keine glänzende Bilanz präsentieren, doch im Vergleich mit der blutigen Anarchie in Algerien stand die Monarchie durchaus positiv da. Hassans Strategen konnten zufrieden sein, der Fortbestand der Monarchie war gesichert.

Unter dem Druck der wirtschaftlichen Probleme, die sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre aus dem Ölpreisverfall ergaben, ließ sich Chadli Bendjedid von seinen Beratern für eine Öffnung gegenüber Marokko gewinnen. 1989 wurde mit großem Pomp die Union des Arabischen Maghreb (UMA) aus der Taufe gehoben. Ihr Scheitern war freilich absehbar. Denn ihre Begründer gingen von der naiven Annahme aus, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern könnten normalisiert werden, ohne die Westsaharafrage anzugehen, die schon seit Jahren bei der UNO anhängig war.

Beide Seiten hatten ihre Hintergedanken, die gegensätzlicher gar nicht sein konnten. Aus marokkanischer Sicht war das Projekt ein erster Schritt zur Anerkennung seiner Positionen, während Algerien die Idee verfolgte, die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) solle der UMA beitreten. Unter Präsident Bendjedid entwickelte die algerische Diplomatie eine originelle Methode, die Konflikte mit dem Nachbarland zu behandeln: Man wollte Frieden und freundschaftliche Beziehungen, ohne die Meinungsverschiedenheiten zu leugnen. Die große Zeit der algerischen Diplomatie waren die siebziger Jahre gewesen, als sie sich in der Organisation der Blockfreien engagierte, die innerhalb der Vereinten Nationen eine beträchtliche Rolle spielte. Doch diese Zeit war vorbei. Im Unterschied zu Boumedienne, der ein Gesellschaftsmodell exportieren wollte, behandelte Chadli Bendjedid den Konflikt mit Marokko als ein Problem ungerechtfertigter Gebietsansprüche. Seitdem war die Konfrontation der Nachbarn nicht mehr als das normale Gerangel zwischen rivalisierenden nationalistischen Führungen. Und damit konnte König Hassan II. gut leben.

Dass in beiden Ländern beim Kampf um die politische Macht die nationalistische Klaviatur gespielt wurde, machte die Lösung des Westsaharakonflikts freilich nicht einfacher. Für die marokkanische Monarchie war der Verlust des Saharagebiets gleichbedeutend mit ihrer Abdankung. Hassan II. war daher entschlossen, bis zum letzten Marokkaner um die ehemalige spanische Kolonie zu kämpfen. Für die algerischen Generäle beruht ihre Macht auf dem nationalistischen Behauptungswillen: Wer Kompromissbereitschaft erkennen ließ, war automatisch abgemeldet. Die Westsahara war für die Militärs das Terrain, auf dem sie demonstrieren konnten, wie die Armee die nationale Souveränität verteidigt. Diese Botschaft galt vor allem den zivilen Politikern, denen man eine chronische Nachgiebigkeit in nationalen Fragen unterstellte und damit jede Legitimation bestreiten konnte. Der algerische Nationalismus war erstarrt und zum Fetisch geworden, er hatte nicht mehr die revolutionäre Qualität und die Bedeutung für den gesamten Maghreb, die er im November 1954 besessen hatte.8

Nach den jüngsten Entwicklungen – die Wahl von Abdelaziz Bouteflika zum Staatspräsidenten und der Tod von König Hassan II. – erklärten beide Länder, nun müsse man ein neues Kapitel in den Beziehungen eröffnen. Ohne eine Lösung des Westsaharaproblems ist an Entspannung allerdings nicht zu denken. Zwar erklären sich die Algerier im Konflikt zwischen den Sahraouis und Marokko für neutral, doch die Marokkaner halten ihnen entgegen, dass sie der Frente Polisario Waffen liefern und Zuflucht gewähren. Durch den Tod von Hassan II. scheint die Situation noch komplizierter geworden zu sein, denn nur der verstorbene Monarch wäre in der Lage gewesen, seinem Volk einen Kompromiss aufzuzwingen. Der neue König hingegen würde, wollte er jetzt Zugeständnisse machen, wie ein Verräter am nationalen Vermächtnis und Andenken seines Vaters dastehen.

Hassan II. war es keineswegs leicht gefallen, der politischen Klasse Marokkos die Idee einer Volksabstimmung über die Westsahara unter Aufsicht der UNO nahe zu bringen. Die meisten Parteien hatten den Standpunkt vertreten, eine Volksbefragung müsse allen Marokkanern Gelegenheit geben, ihre Meinung über den Verzicht auf das Gebiet zu äußern. Nur mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit konnte der verstorbene König die Abstimmung durchsetzen, wobei er freilich sicher war, dass sie in seinem Sinne ausgehen würde. Denn er bestand darauf, dass die zahlreichen Marokkaner, die sich in der Zwischenzeit in der Westsahara angesiedelt hatten, in die Wählerlisten aufgenommen wurden. Demgegenüber kämpft die Polisario an allen diplomatischen Fronten für ihr Ziel, diesen „falschen Sahraouis“ das Stimmrecht abzusprechen.

Staatspräsident Bouteflika befindet sich in einer ähnlich schwierigen Situation. Ihm ist klar, dass die Armee sich ihre Zuständigkeit für die Westsahara nicht nehmen lassen will. Viel politischer Spielraum bleibt ihm nicht, solange er die Generäle nicht absetzen kann, die ihn bei den Wahlen auf den Schild gehoben haben. Bouteflika steht also vor einer klaren Alternative: Entweder er gibt sich mit einer Rolle als Superminister für auswärtige Angelegenheiten zufrieden, dann kann er seine Amtszeit zu Ende führen und sich vielleicht sogar zur Wiederwahl stellen. Oder er versucht, seine in der Verfassung verbrieften Vollmachten als Staatschef auszuüben: Dann aber muss er sich auf heftige Turbulenzen gefasst machen.

Trotz zahlreicher Absichtserklärungen hat Bouteflika noch nichts unternommen, was darauf hindeutet, dass er seine Befugnisse wirklich nutzen will. Das Programm der nationalen Versöhnung, die Neuauflage des Amnestiegesetzes (rahma: „Vergebung“) das von seinem Vorgänger Liamine Zéroual stammt – all diese Pläne sind so vage, dass sie für die zahlreichen politischen Akteure undurchschaubar bleiben. Und die Generäle haben Bouteflika noch nicht einmal gestattet, eine Regierung nach seinen eigenen Vorstellungen zu bilden. Mehrfach musste er seine Kabinettsliste ändern und erneut beim Verteidigungsminister vorlegen.9 Die Ermordung von Abdelkader Hachani, der Nummer drei in der Führung der Islamischen Heilsfront (FIS), hat den Bemühungen des Präsidenten einen weiteren Rückschlag versetzt.

In Marokko wie in Algerien suchen die Machthaber ihr Heil in der Idee nationaler Größe. Die Westsahara dient dabei als Projektionsfläche aller Hoffnungen und Enttäuschungen. Der gegen das Nachbarland gerichtete nationalistische Eifer könnte nur heruntergefahren werden, wenn beide Regime eine demokratische Öffnung zulassen würden. Erst dann wäre eine Entspannung möglich, könnten sich direkte Beziehungen zwischen den Menschen in beiden Ländern entwickeln, zwischen Unternehmern, Verbänden, Gewerkschaften, Parteien, Parlamentariern, Journalisten, Wissenschaftlern. Und nur auf diesem Wege könnten sich die gemeinsamen Traditionen neu beleben, könnte beiderseits mehr Verständnis für die Erwartungen und Befürchtungen der anderen Seite wachsen.

Um zu solchen Formen des Austauschs zu kommen, müssten allerdings das marokkanische Herrscherhaus wie die algerische Armee ihren nationalistischen Alleinvertretungsanspruch aufgeben und eine freie und öffentliche Diskussion außenpolitischer Fragen in demokratisch gewählten Körperschaften zulassen. Letztlich wird die Zukunft des Maghreb davon abhängen, ob das Prinzip der Volkssouveränität in Form freier Wahlen Anerkennung findet. Für die derzeitigen Machteliten käme das einer revolutionären Umwälzung gleich. In Marokko würde dies die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie bedeuten – mit einem König, der herrscht, aber nicht regiert. In Algerien würde es eine Staatsform bedeuten, in der die Armee ihre traditionelle „Janitscharenmentalität“ überwindet, also nicht mehr darauf besteht, den Präsidenten zu bestimmen und ihm die politische Linie vorzugeben.

dt. Edgar Peinelt

* Professor am Institut für Politische Studien, Lyon; Mitglied von Forschungsgruppen an Cenep und Gremmo; von ihm erschien „Les mutations de la société algérienne“, Paris (La Découverte) 1999.

Fußnoten: 1 Siehe Atilio Gaudio, „Allal el Fassi ou l'histoire de l'Istiqlal“, Paris (Alain Moreau) 1972. 2 Siehe Claude Pazzolini, „Le Maroc politique“, Paris (Sindbad) 1974. 3 Ein Algerier oder Marokkaner aus einer Grenzregion muss unter Umständen mehr als 4 000 Kilometer zurücklegen, um am Begräbnis seiner Großmutter teilnehmen zu können, deren Wohnort nur 30 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Für einen Algerier könnte das zum Beispiel heißen, dass er sich aus seinem Dorf nach Marnia bringen lässt, wo er ein Taxi nach Oran nimmt (150 Kilometer), um dort im marokkanischen Konsulat ein Visum zu beantragen. Dann muss er den Zug nach Algier nehmen (450 Kilometer) und von dort mit dem Flugzeug nach Casablanca reisen (1 200 Kilometer). Es folgt eine Zugfahrt nach Oujda (600 Kilometer), dann wird er sich in ein Sammeltaxi setzen, das ihn zum Grab der Großmutter bringt, die schon drei oder vier Tage unter der Erde ist. Nach zwei oder drei Tagen bei den Verwandten muss er dann die Rückreise über alle die genannten Stationen antreten. 4 Kurz nach seiner Rückkehr aus Rabat, wo er mit dem König über die Lösung der Westsaharakrise verhandelt hatte, wurde Präsident Mohamed Boudiaf ermordet. Aus gut informierten Kreisen in Algier hieß es damals, das Attentat stehe im Zusammenhang mit dieser Frage und mit den Untersuchungen über die französischen Bankkonten bestimmter Generäle, die Boudiaf angeordnet hatte. 5 Ben Bella, der 1962 erster Präsident des unabhängigen Algerien wurde, musste 1965 nach einem Militärputsch unter Führung von Houari Boumedienne abtreten. 6 Vgl. Zakya Daoud und Maâti Monjib, „Ben Barka“, Paris, (Michalon) 1996. 7 1992 wurde Noubir Amanoui, Generalsekretär der Gewerkschaft Confédération démocratique du travail (CDT), die der USFP nahe steht, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er gegenüber der spanischen Tageszeitung El País den Vorschlag geäußert hatte, der König solle herrschen, ohne zu regieren. 8 Houari Boumedienne hat wiederholt erklärt, durch seinen Befreiungskampf habe Algerien den größten Teil des Maghreb befreit. Siehe „Discours de Houari Boumedienne“, Algier 1974. 9 Siehe Lahouari Addi, „The New Algerian President between the Army and the Islamists“, The International Spectator (Rom), Juli-September 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von LAHOUARI ADDI