17.12.1999

Der importierte Bürgerkrieg

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Der importierte Bürgerkrieg

Von ELIZABETH BLUNT *

Freetown 1997. Im Connaught Hospital liegt ein vielleicht siebenjähriges Mädchen auf einer alten Krankenhauspritsche. Ihre verschränkten Armstumpfe sind mit unzählige Narben übersät: Jemand hat mit der Machete auf sie eingehackt. Das Kind kommt aus dem „Hinterland“, den ländlichen Gebieten Sierra Leones, wo die Rebellen vor einigen Jahren ihr Dorf überfielen. Die Behandlung im Krankenhaus ist mittlerweile abgeschlossen, doch da in ihrer Heimatregion immer noch Krieg ist, kann sie nicht nach Hause.1

Zwei Jahre später, 1999, weiß man immer noch nicht viel über die Situation auf dem Lande, aber die Schrecken des Krieges sind mittlerweile bis in die Hauptstadt Freetown vorgedrungen, im Januar 1999 bis in die Nähe des Connaught Hospitals. Für den Rest der Welt sind Verstümmelungen wie das Abhacken von Händen und Füßen zum Kennzeichen dieser brutalen Auseinandersetzung geworden. Aber es ist nach wie vor schwer zu verstehen, wie solche Dinge in einem Land geschehen konnten, das einst als der friedlichste und lebenslustigste Zipfel Westafrikas galt.

Die Gräueltaten finden in einem der landschaftlich schönsten Flecken der Region statt. Von den Krankenhausfenstern aus hört man das Rauschen des Atlantischen Ozeans. Kilometerlange idyllische Sandstrände und Buchten erstrecken sich direkt vor der Stadt, vor dem Krieg hatte sich hier eine Tourismusindustrie entwickelt. Sierra Leone ist nicht überbevölkert – es gibt viel Boden und viel Regen. Doch andere so genannte Vorteile wie die lange Tradition westlich geprägter Entwicklung und Erziehung sowie die reichen Bodenschätze sind von zweifelhaftem Charakter und könnten zur Zersetzung des Landes mit beigetragen haben.

Wie das Nachbarland Liberia ist der moderne Staat Sierra Leone aus der Abschaffung des Sklavenhandels hervorgegangen. Liberia und die sierra-leonische Hauptstadt Freetown waren Zielorte für aus Amerika zurückkehrende befreite Sklaven. Die neu entstehenden Gemeinwesen galten damals als die modernsten und fortgeschrittensten der Region. In der liberianischen Hauptstadt Monrovia steht heute noch eine Statue des Gründungsvaters und ersten Präsidenten, der von zwei Frauengestalten gestützt wird – einer kaum bekleideten einheimischen Liberianerin und einer zurückgekehrten Amerika-Liberianerin mit Krinolinenkleid und Haube. Doch die Welten der beiden Frauen hatten wenig miteinander gemein: Die Entwicklung an der Küste berührte das Hinterland und seine einheimischen Bewohner so gut wie gar nicht.

Bereits 1827 konnte Freetown die erste Universität Westafrikas vorweisen, das Fourah Bay College, das auch Studenten aus den Nachbarländern anzog. Zudem hatte sich in der Stadt eine ihrer Würde bewusste Mittelschicht gebildet. Selbst heute noch spürt man den Einfluss dieser Schicht in Freetown: Es gibt eine große Zahl von Rechtsanwälten und Journalisten, das gesellschaftliche Leben gestaltet sich um die unzähligen Kirchen der Stadt herum. Doch jene Freetowner Gesellschaft war und ist völlig losgelöst von den ländlichen Gebieten. In Ländern wie der Elfenbeinküste oder Gabun sind die „Heimatdörfer der Präsidenten“ mit ihren Palästen, Luxushotels und internationalen Flughäfen zu einem schlechten Scherz geworden, doch zumindest symbolisieren sie auch die Nabelschnur, die die Elite mit der dörflichen Gesellschaft verbindet.

Die Bodenschätze, Sierra Leones zweiter vergifteter Trumpf, ermöglichten der Elite, die ländlichen Gebiete relativ ungestraft zu ignorieren. Die Diamanten- und Rutilgeschäfte lagen größtenteils in ausländischer Hand, brachten aber genügend Einkommen, damit das Land ohne ernst zu nehmende Bemühungen um eine breiter angelegte Entwicklung über die Runden kam. Die Vorkriegsstatistiken bezüglich sozialer Indikatoren wie Alphabetisierung und Kindersterblichkeit sind beschämend schlecht. Die Führungselite war geistlos und nichtssagend, die Armee unfähig und die Wirtschaft vollkommen erlahmt. Doch solange keine dieser Institutionen durch eine Krise gefordert wurde, konnte das Land weiter vor sich hin sumpfen.

Die Krise kam 1990, als im Nachbarland Liberia ein Krieg ausbrach. Anfang 1991 beschloss der liberianische Kriegsherr Charles Taylor, den die westafrikanische Interventionskraft Ecomog von ihren Stützpunkten in Sierra Leone aus bekämpfte, eine Rebellenbewegung in Sierra Leone aus dem Boden zu stampfen, um dort eine zweite Front zu eröffnen. An die Spitze der Bewegung setzte er einen alten Bekannten aus seinen libyschen Tagen, Foday Sankoh. Die RUF (Revolutionary United Front) war geboren, der Bürgerkrieg konnte beginnen.

Zu Anfang war die Rebellion ein Geschöpf Taylors, doch sie entwickelte sehr bald ein Eigenleben. Viele Länder Westafrikas werden ihrer Jugend nicht gerecht, aber Sierra Leone hat sich wirklich an ihr vergangen. Die meisten hatten weder Ausbildungsmöglichkeiten noch Zukunftsperspektiven und schlossen sich scharenweise der RUF an. Der Krieg kann als Revolte der Jungen gegen die Alten, der Armen gegen die Reichen, der ländlichen Gebiete gegen die Städte gesehen werden. Außer Foday Sankohs schwammigen sozialistischen Ideen hatte die Rebellion weder eine Vision noch eine Ideologie. Dennoch war sie für tausende Jugendliche eine vernünftige Berufswahl. Es war unendlich vorteilhafter, aus dem Dorf herauszukommen, eine Waffe zu besitzen, Fleisch zu essen und Erwachsene zu erschießen, als sich im Busch zum Überleben krumm zu arbeiten, ohne jegliche Aussicht auf Veränderung. In diesem Punkt gab es wenig Unterschiede zwischen den jungen Rekruten der RUF und der sierra-leonischen Armee. Die Armee zerfiel sehr schnell: viele Soldaten schlossen sich der Rebellion an oder wurden „Sobels“ – Soldaten am Tag, Rebellen bei Nacht.

Während die niederen Ränge aus Frust kämpften, ging es den Führern um Macht – und Diamanten. Es ist kein Zufall, dass die heftigsten Kämpfe in den Diamantengebieten an der liberianischen Grenze stattfanden. Dort investierte die RUF mindestens ebenso so viel Energie in das Schürfen nach Diamanten wie in den eigentlichen Kampf. Der Diamantenmarkt in Antwerpen meldete eine Steigerung des Kaufvolumens vorgeblich liberianischer Diamanten, die die bescheidenen Reserven dieses Landes bei weitem übersteigt: Letztes Jahr hat Liberia mehr als 2,5 Millionen Karat an Belgien verkauft, vor drei Jahren waren es nur 150 000 Karat.

DIE Diamanten haben den Krieg ermöglicht und finanzieren seine Weiterführung. Dieser Krieg kann nicht durch Waffenembargos von außen beendet werden. Er ist „autark“. Die Rebellen können sich auf dem freien Markt so viele Waffen und Söldner kaufen, wie sie wollen. Sie haben auch Söldner aus der Ukraine, Südafrika und anderswo angeheuert, die im Tausch gegen Diamanten nur zu gerne ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Auch heute, nach dem Friedensabkommen, erschweren die Diamanten noch immer eine Lösung des Konflikts. Da ändert auch das Engagement der Vereinten Nationen oder betroffener Mächte wie Großbritannien und Nigeria nichts.

Im Lauf der Zeit ist Sierra Leone zu einer Art Testfeld für internationale Friedensarbeit und Interventionen nach dem Ende des Kalten Krieges geworden, insbesondere für die optimistischen Verlautbarungen der späten neunziger Jahre – die Welt habe sich verändert, Staatsstreiche würden nicht mehr geduldet und ein Mindestmaß an Good Governance sei notwendig, damit ein Land als Mitglied der internationalen Gemeinschaft anerkannt würde.

Diese Theorien wurden in anderen Ländern weitaus weniger streng angewandt. Im Kongo, in Niger und kürzlich in Pakistan wurden Staatsstreiche zunächst mit mildem Tadel gerügt und schließlich akzeptiert. Doch Sierra Leone ist so klein, dass Nachbarländer und internationale Vereinigungen sich einbilden mögen, sie könnten in diesem Land den Lauf der Dinge beeinflussen – zumal sie durch den Krieg und seine unglaubliche Brutalität meinen, sich überzeugend auf ein moralisches Mandat berufen zu können, um friedliche und demokratische Verhältnisse zu schaffen.2

Doch bislang sind alle Versuche fehlgeschlagen: Das Abkommen von Abidjan vom 30. November 1996 erwies sich als ein Fetzen Papier, und auch die Umsetzung des Anfang Juli 1999 in Lomé in Togo nach zweimonatigem Waffenstillstand unterzeichneten Abkommens stößt auf große Schwierigkeiten. Dieses Abkommen unter der Patenschaft der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (Ecowas), der Vereinten Nationen und der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) konstatiert, dass die Rebellen der RUF und die abtrünnigen Exsoldaten nicht militärisch besiegt werden können und deshalb an den Regierungsgeschäften beteiligt werden müssen. Ihrern Führern werden entsprechend in Freetown Ministerposten angeboten. Die jungen Kämpfer, ob RUF-Rebellen, ehemalige Soldaten oder Mitglieder der regierungstreuen Milizen, sollen entwaffnet und demobilisiert werden. Weiterbildungen und Abfindungen sollen ihnen die Wiedereingliederung in ein ziviles Leben ermöglichen. Gleichzeitig muss sich Sierra Leones leidgeprüfte Zivilbevölkerung mit einer Generalamnestie für seine Folterer abfinden sowie mit der Perspektive, dass die verhassten Rebellenführer in Politik und Wirtschaft Einfluss gewinnen.

Weder Präsident Kabbah noch die meisten seiner Mitbürger waren besonders glücklich über dieses Abkommen, aber ihnen blieb keine andere Wahl. Trotz der Bemühungen der Ecomog-Truppen hatten die Rebellen im Januar 1999 Freetown beinahe eingenommen. Bald danach drohte (auf Grund der politischen Entwicklung in Nigeria) selbst dieser ungenügende Schutz abgezogen zu werden. Daher wurde das Lomé-Abkommen als letzte Friedenschance akzeptiert.

Angesichts der Bedenken aller Seiten bei der Unterzeichung des Abkommens waren seine Erfolgschancen bereits damals recht gering. Die Ereignisse der letzten vier oder fünf Monate geben keinerlei Anlass zu einer optimistischeren Sichtweise. Lange verzögerte sich die Rückkehr der Rebellenführer nach Freetown – eine Voraussetzung, um die neue Allparteienregierung einsetzen zu können. Der Gründungsvater der RUF, Foday Sankoh, hielt sich wochenlang zunächst in Lomé, dann in Abidjan auf, bis den dort Herrschenden die Geduld ausging und sie ihn in ein Flugzeug nach Freetown setzten. Johnny Paul Koroma, Führer der aufständischen Soldaten und Chef der Militärregierung von 1997, schien sich eine Zeit lang in Liberia oder im Osten Sierra Leones völlig in Luft aufgelöst zu haben. Schließlich tauchte er in Monrovia anlässlich eines offiziellen Meetings mit Sankoh wieder auf, von wo aus beide schließlich gemeinsam nach Sierra Leone reisten. Aber das Warten ging weiter, und erst fast einen ganzen Monat später konnten die Vertreter der Rebellen nach zahllosen Klagen über die Unangemessenheit der ihnen angebotenen Posten endlich den Regierungseid leisten. Die wichtigen Mehrparteienkomitees zur Kontrolle des Waffenstillstands und zur Demobilisierung funktionieren bis heute nicht.

In der Zwischenzeit wurden die Kämpfer ungeduldig. Einige waren aus dem Busch gekommen, sobald sie vom Friedensvertrag gehört hatten, und lungerten gelangweilt und unruhig in Freetown und anderen städtischen Zentren herum. Die ehemaligen Soldaten lebten in Ungewissheit: Würden sie weiterhin als Soldaten anerkannt, in die neue nationale Armee rekrutiert, bekämen sie vielleicht sogar den noch ausstehenden Sold seit der Zersetzung der alten Armee ausgezahlt? Die Entwaffnung wird in jedem Fall teuer: Jeder Kämpfer, der seine Waffe abgibt, hat Anspruch auf 300 US-Dollar. Bald kursierten Informationen, denen zufolge einige Parteien, unter anderem die regierungstreuen Milizen, immer noch rekrutierten. Örtliche Verantwortliche ließen sich 50 US-Dollar Gebühren für die Anwerbung jedes neuen Rekruten auszahlen, der erhoffte, seine Investition alsbald durch die Teilnahme am Wiedereingliederungsprogramm rentabilisieren zu können. Soren Jensen Peterson vom UNHCR charakterisierte dies als „sehr gefährliche Phase (...), ein Vakuum, in dem alles möglich wird“.

Im vergangenen November kam es in der Stadt Makeni erneut zu Kämpfen zwischen den beiden Hauptfraktionen der Rebellion, den ehemaligen Soldaten und der RUF. Die Zivilisten flüchteten in alle Himmelsrichtungen; der Friedensprozess war gefährdet. Foday Sankoh, der sich mittlerweile in einer großen Villa in Freetown eingerichtet hatte, spielte die Bedeutung der Kämpfe herunter. Er behauptete, es handele sich nur um kleine Unbotmäßigkeiten und nicht um eine Verletzung des Waffenstillstandsabkommens, da sich zwei Rebellengruppen in einer Art „Familienstreit“ bekämpften. Nur wenn seine Leute die Ecomog oder die regierungstreuen Milizen, die Kamajors, angegriffen hätten, wäre dies eine Verletzung des Abkommens gewesen. Für die Bewohner von Makeni und Umgebung hingegen war dies eindeutig ein Bruch des Waffenstillstands. Die Kämpfe warfen zudem die Frage auf, inwieweit Foday Sankoh und Johnny Koroma, die beide jegliche Verantwortung für die Auseinandersetzungen abstritten, ihre Leute noch befehligen können. Das Lomé-Abkommen basiert darauf, dass sie realiter die Vertreter ihrer Fraktionen sind, doch heute scheinen im Busch neue Führungskräfte heranzuwachsen.

Nun, da die „hoch gefährliche Phase“ überstanden ist, tauchen neue Hürden auf. Das Abkommen sieht demokratische Wahlen vor, an denen sich die ehemaligen Rebellengruppen als politische Parteien beteiligen können. Optimisten berufen sich auf die Entwicklung in Liberia, dessen Konfliktlage der in Sierra Leone ähnelte. Dort mündete ein vergleichbarer Friedensprozess in demokratischen Wahlen – mit internationaler Hilfe und ebensolcher Überwachung. Charles Taylor, der stärkste der liberianischen Kriegsherren, erlangte eine deutliche Mehrheit und somit über die Urnen den Sieg, der ihm mit der Waffe verwehrt gewesen war. Die liberianischen Wähler hatten sich wahrscheinlich ausgerechnet, dass Taylor, auch wenn er nicht ihr Wunschkandidat war, stark genug sein würde, im Falle eines Sieges die Macht zu erhalten und im Falle einer Niederlage für Konflikte zu sorgen.

Doch trotz all seiner Fehler ist Taylor ein schlauer und fähiger Mann, gebildet und weltoffen, und er besitzt sogar Regierungserfahrung. Zur Zeit der Wahlen in Liberia konnte er zudem noch auf die Loyalität einer gut organisierten jungen Kampftruppe zählen. Im Moment sieht es nicht so aus, als ob auch nur einer der möglichen Präsidentschaftskandidaten in Sierra Leone diese Kombination von Macht und Fähigkeit zu bieten hätte.

Ein Friedensprozess in Sierra Leone hat von heute aus gesehen kaum eine Chance. Doch seine Befürworter innerhalb und außerhalb des Landes kämpfen sich Millimeter um Millimeter voran, einen mühsamen kleinen Schritt nach dem anderen. Großbritannien und die Vereinigten Staaten investieren beeindruckende Summen. Kenia und Indien, aber auch Nigeria haben Truppen für ein UN-Kontingent zugesagt. Die Sierra-Leoner geben sich alle Mühe, ihre Bitterkeit und Wut hinunterzuschlucken, und sammeln Geld für die Demobilisierung der Kämpfer. Niemand glaubt ernsthaft, dass es einfach sein wird, aber alles andere wurde bereits ausprobiert und ist gescheitert. Dies ist ganz einfach die letzte, die einzige Chance für den Frieden

dt. Christiane Kayser

* BBC-Korrespondentin für Westafrika.

Fußnoten: 1 Siehe dazu Philippe Leymarie, „Viele kleine Konflikte zerrütten Westafrika“, und Thierry Cruvelier, „ Sierra Leone, Der Krieg und das Nichts“, Le Monde diplomatique, Januar 1996. 2 Der Konflikt hat bisher mindestens 20 000 Tote gefordert und fast die Hälfte der viereinhalb Millionen Sierra-Leoner mussten innerhalb oder außerhalb des Landes flüchten.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von ELIZABETH BLUNT