17.12.1999

Riesenspielzeug Weltwirtschaft

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Riesenspielzeug Weltwirtschaft

Von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT *

WAS die Kapitalkonzentration betrifft, so hat sich zwischen dem Anfang und dem Ende unseres Jahrhunderts nichts Wesentliches geändert. Bereits 1906 nahm Upton Sinclair (1878-1968) in seinem Roman „Der Dschungel“ die Fiktion vom „amerikanischen Paradies“ ebenso aufs Korn wie die Verbrechen des Kapitals im Zeitalter der „Räuberbarone“: „Wir befinden uns auf dem Höhepunkt eines Zeitalters unerbittlicher Handelskonkurrenz, in dem sich die Bosse von Beef Trust und Rockefellers Standard Oil bis aufs Blut bekämpfen, um den großen Coup zu landen und sich die Vereinigten Staaten unter den Nagel zu reißen.“1 Nach der großen Depression im Jahr 1878 hatte sich der Konzentrationsprozess in der Industrie und im Bankenwesen derart beschleunigt, dass 1912 die Ökonomen J. B. und J. M. Clark befanden: „Allein die jüngsten Fusionen haben ein Ausmaß angenommen, das alle, die diese Entwicklung mitverfolgt haben, alarmieren muss. Wenn wir in das Paläozoikum zurückkehrten und die Dinosaurier wieder die Erde bevölkerten, wären die Veränderungen für das Tierreich weniger spektakulär als jene von den Monstergesellschaften in der Geschäftswelt hervorgerufenen Umwälzungen.“2 Zu dieser Veränderung in der Konzentration von Reichtum und politischer Macht meinte Walter Rathenau, einer der einflussreichsten deutschen Industriellen und Gründer der AEG: „300 Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des [europäischen] Kontinents und wählen sich ihre Nachfolger aus den eigenen Reihen.“3

Seither hat sich in Europa lediglich die Zahl der Unternehmen verändert, die die „wirtschaftlichen Geschicke“ Europas bestimmen; sie ist von 300 auf weniger als 150 geschrumpft. Der Konzentrationsprozess hat die Zusammensetzung des Kapitals nicht nur in den Vereinigten Staaten umstrukturiert, sondern auch in Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Japan. In diesen fünf Staaten, die Anfang des Jahrhunderts die Weltwirtschaft beherrschten, sind auch heute noch 90 Prozent der 200 größten Konzerne der Welt ansässig. Diese 200 Megaunternehmen decken die Gesamtheit aller menschlichen Aktivitäten ab, von der Industrie zu den Banken, vom Groß- zum Detailhandel, von der extensiven Landwirtschaft bis zur letzten – legalen oder illegalen – Nische in der Finanzdienstleistungsbranche.

Für die „Großen“ im Banken- und Versicherungswesen ist der Unterschied zwischen „sauberem“ und „schmutzigem“ Geld praktisch schon lange verwischt. Bei den ökonomischen Umstrukturierungsprozessen gehen diese Akteure nicht besonders vornehm vor, sondern eher wie gefrässige Raubtiere auf der Jagd nach der immer fetteren Beute. In den USA vollzogen sich allein 1998 folgende Übernahmen: Mobil wurde für 86 Milliarden Dollar von Exxon geschluckt, Citycorp für 73,6 Milliarden Dollar von der Travelers Group, Americatech für 72,3 Milliarden Dollar von SBC Communications, GTE für 71,3 Milliarden Dollar von Bell Atlantic und Media One für 63,1 Milliarden Dollar von AT & T. Die Gesamtsumme dieser Fusionen und Übernahmen liegt bei 372 Milliarden Dollar, weltweit kommen 2,5 Billionen Dollar zusammen, 1999 wird die Summe auf 3 Billionen Dollar steigen. Die seit Anfang der neunziger Jahre für Fusionen aufgebrachten Gelder summieren sich zu 20 Billionen Dollar – das Zweieinhalbfache des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der USA.

Die beiden Tabellen geben einen Eindruck von diesem Kosmos der Konzentrationsbewegungen. Tabelle 1 geht von der Börsenkapitalisierung aus, das heißt von den in Dollar notierten momentanen Aktienkursen multipliziert mit der Zahl der in Umlauf befindlichen Wertpapiere. Tabelle 2 demonstriert anhand von Umsätzen und Gewinnen die geografische Verteilung der transnationalen Macht. Tabelle 1 veranschaulicht erstens die erdrückende Vormacht der amerikanischen Giganten, die 71,8 Prozent der Börsenkapitalisierung der 50 größten Unternehmen repräsentieren, und zweitens die großen Unterschiede zwischen den sechs führenden imperialen Volkswirtschaften. Sie enthüllt die wahren Verhältnisse und entzaubert das Märchen von der „Marktwirtschaft“, die angeblich die optimale Verteilung von menschlichen und finanziellen Ressourcen bewirkt. Zugleich dokumentieren diese Zahlen die enorme Macht der transnationalen Unternehmen, die durch den Globalisierungs-Mythos verschleiert wird. Tabelle 2 zeigt eine andere Dimension der internationalen Machtverhältnisse auf. An Umsätzen und Gewinnen gemessen, verteilen sich die 200 Megaunternehmen geografisch auf dieselben sechs Länder, aus denen die (nach dem Kriterium der Börsenkapitalisierung) führenden 50 Unternehmen stammen. Insgesamt haben 88 Prozent aller Unternehmen ihren Sitz in diesen Ländern, wobei die Anzahl seit sechs Jahren ständig zunimmt. Für die USA ist die Zahl der Unternehmen von 60 auf 74 gestiegen, für Japan hingegen von 60 auf 41 zurückgegangen.

Seit 1982 ist der Umsatz der 200 führenden Unternehmen von 3 auf 7 Billiarden Dollar angewachsen. Das jährliche Umsatzwachstum dieser Unternehmen in Marktpreisen liegt seit mehreren Jahren etwa doppelt so hoch wie das Wirtschaftswachstum der 29 Mitgliedsländer der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Und seit 1992 übersteigt der Umsatz der 200 größten Unternehmen das aufsummierte BIP aller Länder, die nicht der OECD angehören. Obwohl die herrschende Lehre die Kapitalakkumulation als Spartätigkeit und Investition darstellt, sei daran erinnert, dass diese horrenden Summen, die die Börse aufblähen und den Appetit der Großraubtiere nur noch weiter anregen, auf Verschuldung beruhen. Die kumulierte globale Verschuldung von Privathaushalten, Unternehmen und Staaten ist zwischen 1997 und 1999 von 33,1 auf 37,1 Billionen Dollar gestiegen. Das entspricht einem exponentiellen jährlichen Wachstum von 6,2 Prozent und damit dem Dreifachen des weltweiten Bruttoinlandsproduktes – ein gefährliches Gemisch, das jederzeit explodieren kann. Doch die Riesenunternehmen spielen mit dem Feuer. Begriffe wie „Kostensenkung“ und „Wertschöpfung“ bedeuten heute dasselbe wie „Rationalisierung“ in den zwanziger und dreißiger Jahren: die Vernichtung hunderttausender Arbeitsplätze. Es ist daher kein Zufall, dass die Kampfbereitschaft der Arbeitnehmer wieder zunimmt.4 Die hit men, jene „Killerkapitalisten“ aus den Chefetagen der Großunternehmen, die wie Al Capones Gangster hinter der Hausecke einer Schwarzbrennerei ihren Konkurrenten auflauern, sollten gelegentlich darüber nachdenken, welches Schicksal dem wahren Al Capone blühte.

dt. Birgit Althaler

*  Ökonom

Fußnoten: 1 Upton Sinclair, „Der Dschungel“, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1985. 2 J. B. und J. M. Clark, „The Control of Trusts“, New York (Macmillan) 1912. 3 Neue Freie Presse, Wien, Weihnachten 1909. 4 Vgl. Frédéric F. Clairmont, „Fusionen und feindliche Übernahmen“, Le Monde diplomatique, September 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT