17.12.1999

Helden der Arbeit wider Willen

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Helden der Arbeit wider Willen

Von MARK HUNTER *

Die glücklichen Gewinner des Internetbooms und seiner Optionsgeschäfte sind auf dem besten Wege, jenseits des Atlantik eine neue Klasse von Millionären zu bilden. Dennoch bleibt die wichtigste Tendenz des letzten Jahrzehnts mehr denn je spürbar: Das von Karl Marx beschriebene Heer von Arbeitslosen ist, so scheint es, von den Arbeitgebern durch ein Heer von Überbeschäftigten ersetzt worden – Opfer eines ständigen Konflikts zwischen wirtschaftlichen Zwängen und Privatleben.

Nach Meinung der Wirtschaftsexpertin Juliet Schor müssen die Amerikaner, um ihren Lebensstandard von 1973 zu halten, heute 245 Stunden bzw. sechs Wochen pro Jahr an Mehrarbeit leisten.1 Auch wenn die Zahlen in den verschiedenen Studien nicht immer übereinstimmen, unbestritten bleibt: In den Vereinigten Staaten steigt die Arbeitszeit unaufhörlich. Dem jüngsten Bericht des International Labour Office (ILO) zufolge ist die jährliche Arbeitszeit in den USA zwischen 1980 und 1997 von 1 883 Stunden auf 1 966 Stunden pro Jahr gestiegen.2 Im gleichen Zeitraum soll die jährliche Arbeitszeit in allen entwickelten Ländern – außer in Schweden – kürzer geworden sein. In Frankreich ging sie von 1 809 Arbeitsstunden pro Jahr auf 1 656 Stunden zurück, in Japan von 2 121 auf 1 889 Stunden, in Norwegen von 1 512 auf 1 399 Stunden.3

Bei US-amerikanischen Männern, die verheiratet sind und Kinder unter 18 Jahren haben, beträgt die wöchentliche Arbeitszeit bis zu 51 Stunden, amerikanische Frauen in der gleichen familiären Situation arbeiten pro Woche bis zu 41,4 Stunden. Eine Studie des New Yorker „Families and Work Institute“ kommt zu dem Schluss, dass eine solche Entwicklung – gemessen an der Situation im Jahre 1977 – eine wöchentliche Mehrarbeitszeit von 2,8 Stunden für die Männer und von 5 Stunden für die Frauen bedeutet.4 Der Prozentsatz der Amerikaner, die gerne weniger arbeiten würden, ist demzufolge von 47 Prozent im Jahre 1992 auf 64 Prozent gestiegen.

Auf die Frage, warum sie so viel mehr arbeiten, antworten 20 Prozent der Befragten, ihr Unternehmen lasse ihnen keine andere Wahl; 46 Prozent geben an, mit der Mehrarbeit ihre Kosten decken zu wollen. Nach der Rezession der beginnenden achtziger Jahre haben laut der Studie von Juliet Schor viele Unternehmer Neueinstellungen vermieden und lieber mehr Überstunden eingeplant. So muss jeder fünfte Lohnempfänger einmal in der Woche Überstunden machen, ohne vorher darüber informiert worden zu sein, jeder zweite erlebt diese Situation einmal im Monat.5 Auch Führungskräfte bleiben davon nicht verschont: Heute bewältigen drei leitende Angestellte ein Arbeitspensum, das zu Anfang der achtziger Jahre noch von fünf Leuten geleistet wurde. Dies bedeutet bisweilen eine wöchentliche Arbeitszeit von 70 Stunden. Das Berufsleben beginnt früher und endet später. Viele Jugendliche gehen einer bezahlten Arbeit nach und haben dadurch weniger Zeit für Mahlzeiten, Schlaf und Schulaufgaben. Das National Research Council fordert bereits eine strengere Regulierung der Jugendarbeit. Auch die Zahl der Arbeitnehmer über 55 wird bis zum Jahr 2006 voraussichtlich um sechs Millionen steigen.6

Der Tag hat nun mal nicht mehr als 24 Stunden, und so wird das Recht auf Arbeit bezahlt mit dem Verzicht auf Freizeit und persönliche Bindungen. In Meinungsumfragen zeichnet sich dies deutlich ab: Gespräche werden seltener, und ihre Qualität lässt nach; mehr und mehr Fertiggerichte werden verkauft; gleichzeitig kommt ein fast obsessives Bedürfnis nach „quality time“ zum Ausdruck, womit die wertvolle Zeit des Zusammenseins mit nahe stehenden Menschen gemeint ist. Es entsteht das Bild einer Gesellschaft, die unter einem Mangel an zwischenmenschlichen Begegnungen leidet. Wenn 1977 noch 55 Prozent der Amerikaner angaben, mit ihrem Familienleben – ein Thema, bei dem Optimismus zum guten Ton gehört – sehr zufrieden zu sein, so sind es heute nur mehr 39 Prozent.7

Die Grenze zwischen Arbeitsplatz und Zuhause verschwimmt immer mehr. Nach Hunderten von ausgewerteten Gesprächen kommt die Marketingspezialistin Judith Langer zu der Einschätzung: „Die Leute spüren, dass all das, was sie für ihre Arbeit aufwenden müssen, wie etwa berufsorientierte Lektüre, Fortbildung, der Umgang mit E-Mail und Telefon, mehr und mehr auch ihr übriges Leben bestimmt. Über 50 Prozent der US-amerikanischen Haushalte verfügen über einen Computer, und dies erleichtert die Ausweitung des Beruflichen ins Private: Büro und Wohnung sind nicht mehr streng getrennt. In einem Leserbrief der Zeitschrift Modern Maturity heißt es: „Wir arbeiten immer mehr, um technisches Spielzeug zu kaufen, das in Wahrheit nur glorifiziertes Arbeitsgerät ist. Und wir brauchen dieses Gerät, um das Geld zu verdienen, mit dem wir es erwerben können. Wir sitzen also in der Falle.“8

Sicher gibt es noch andere Gründe für Mehrarbeit. In einer Zeit, in der immer mehr Ehen zerbrechen, mag das Bedürfnis, den Unwägbarkeiten des Privatlebens zu entfliehen, eine Rolle spielen. Auch der Wunsch, an einer expandierenden Wirtschaft zu partizipieren und selbst reich zu werden, ist hier von Bedeutung. Die Soziologin Arlie Hochschild ist der Frage nachgegangen, warum Arbeitnehmer den Familienurlaub, der ihnen eigentlich von Rechts wegen zugestanden hätte, nicht in Anspruch nahmen. Sie kommt zu dem Schluss, dass „die Arbeit zu einer Art Zuhause und das Leben zu Hause zu Arbeit geworden ist“. Nach ihrer Darstellung empfinden viele Angestellte ihr Büro als „einen Raum, in dem sie mehr soziale Anerkennung und Wärme bekommen“ als in ihrem Heim, wo die „emotionalen Anforderungen immer verwirrender und komplizierter geworden sind.“9

Entsprechend geben 91 Prozent der Arbeitnehmer an, sehr oder ziemlich zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz zu sein, und die Medien scheinen ihnen Recht zu geben: Die Fernsehserien zeigen Büros, in denen freundschaftliche und amouröse Beziehungen eine größere Rolle spielen als die Arbeit. Arbeit als Selbstverwirklichung – die Leitidee der Gegenkultur der Sechziger – dient in einer üblich gewordenen Verdrehung heute der Identifikation der Arbeitnehmer mit den Interessen des Unternehmens. Dennoch steht fest, dass die große Mehrheit der Familien und Paare unter der Verlängerung der Arbeitszeit leidet. War vor zwanzig Jahren meist das Geld Auslöser für Ehekonflikte, so scheint heute in erster Linie Zeitmangel zu Problemen zu führen.10

Eine weitere Veränderung ist bedeutsam: Während mit dem Wort „Stress“ negative Aspekte der Arbeit beschrieben wurden, die in erster Linie die Männer plagten11 , stellt heute das Dilemma „Leben-Arbeit“ eine Belastung für die Partnerschaft dar, die auf Kosten beider Teile geht. Im Internet gab es eine Umfrage, bei der 2 000 schwangere Frauen gefragt wurden, ob sie gleich nach der Geburt ihres Kindes wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren würden. (Man muss dazu sagen, dass es in den USA den bezahlten Mutterschaftsurlaub kaum gibt.) Zwei von drei Frauen bejahten die Frage, aber zwei Drittel von ihnen empfanden diese Entscheidung als zwiespältig, und nur ein Drittel zeigte sich damit zufrieden.

Auch die Männer beklagen sich mittlerweile über die Beschränkung ihres privaten Lebensraumes. Als die Frauen in den siebziger und achtziger Jahren auf den Arbeitsmarkt drängten, um den Kaufkraftverlust ihrer Männer auszugleichen, bedeutete dies für sie zunächst vor allem, dass zu den traditionellen Pflichten (Haushalt, Küche und Kindererziehung) nun noch die Belastung durch eine bezahlte Arbeit dazukam.12 Doch seit den Achtzigern hat sich auf diesem Gebiet eine Revolution vollzogen. Nach eigenen Aussagen widmen die Männer, die früher nur wenig mit Haushalts- und Familienpflichten zu tun hatten, heute zwischen viereinhalb Stunden pro Werktag und elfeinhalb Stunden am Wochenende diesen Aufgaben. Das ist zwar noch zwei Stunden weniger als das, was Frauen in diesem Bereich leisten, aber es ist immerhin zwei Stunden mehr als früher.

In der neuen amerikanischen Zweiklassengesellschaft definiert sich die soziale Bruchlinie nicht mehr nur über Arbeits-, Einkommens- und Kaufkraftunterschiede, die soziale Stellung wird auch über das Maß an Kontrolle erkennbar, das ein Arbeitnehmer über seine Arbeitszeit hat.

Zu der neuen Klasse der Privilegierten gehören außer den Reichen, die durch eine ebenso gut bezahlte wie anstrengende Arbeit zu Wohlstand gekommen sind, auch verheiratete Paare, bei denen beide Teile eine bezahlte Arbeit mit sehr flexiblen Arbeitsbedingungen ausüben. Nach Angaben der feministischen Stiftung „Catalyst“ (New York) gehören 20 Prozent aller Ehepaare dieser neuen Elite an. Diese „treuen Verdiener“ sind – so der Bericht der Stiftung – sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, sie empfehlen ihr Unternehmen ihren Bekannten weiter, sie gehen über das normalerweise geforderte Arbeitspensum hinaus, sie sind für ihre Leistungen ausgezeichnet oder befördert worden und rechnen damit, noch lange bei ihrem Arbeitgeber zu bleiben.

Wichtig sind diesen Leuten vor allem Arbeitsbedingungen, die ihnen erlauben, über ihre Karriere und ihre Zeit selbst zu bestimmen. Sie wünschen nicht nur hohe Gehälter, sondern auch eine Unternehmensleitung, die auf ihre Vorstellungen eingeht und ihnen selbständiges Arbeiten ermöglicht (72 Prozent). Viele von ihnen wollen selbst die Produktivitätskriterien bestimmen (67 Prozent) und ihre Arbeitszeit frei einteilen (58 Prozent). Sie stellen besonders hohe Ansprüche in Bezug auf Familienurlaub und Arbeitsmöglichkeiten zu Hause, und sie erwarten, dass sich der Arbeitgeber an den Kosten für die Kinderbetreuung beteiligt. Das heißt: Je höher der Status eines Angestellten in seinem Betrieb ist, desto mehr fordert er das Recht auf Privatleben ein – ein Recht, das für die Mehrzahl der Arbeitnehmer reine Theorie bleibt.13 Diese so genannten „treuen Verdiener“ sind auf Grund ihrer hohen Qualifikation nur schwer ersetzbar. Auch wenn der Arbeitgeber lieber Angestellte hätte, die ausschließlich ihrer Arbeit leben, haben sie größte Chancen, ihre Ansprüche erfüllt zu sehen. Zudem gehen sie mit ihren Forderungen kein allzu hohes Risiko ein, da in vielen Fällen zwei hohe Gehälter pro Haushalt bezogen werden.

Obwohl die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist, bleibt sie doch als Gefahr im Bewusstsein der meisten US-Amerikaner präsent. Denn der Anteil an Arbeitnehmern, die mindestens zehn Jahre lang für das gleiche Unternehmen gearbeitet haben – ein guter Maßstab für die Sicherheit des Arbeitsplatzes – ist zwischen 1979 und 1996 von 41 Prozent auf 35,4 Prozent gesunken.14 Fast zwei Fünftel der Arbeitnehmer bezweifeln, dass sie wieder eine Stellung finden könnten, die ihnen die gleiche Bezahlung und das gleiche Maß an sozialer Sicherheit bieten würde. Nach Schätzungen des Arbeitsministeriums aus dem Jahr 1993 konnten nur 20 Prozent der Personen, die nach einer Entlassung eine vom Staat bezahlte Umschulung in Anspruch genommen hatten, eine Stelle finden, für die sie mindestens 80 Prozent ihres früheren Lohnes bezahlt bekamen. Indessen steigt die Anzahl der wirtschaftlich begründeten Entlassungen unaufhörlich und schlägt alle bisherigen Rekorde. Die Ursache dieser Entwicklung liegt in den sich häufenden Fusionen und Umstrukturierungen industrieller Betriebe, welche den Anlegern höhere Dividenden garantieren sollen.

Aber die Gewinne der Wall Street sind schlecht verteilt: So konnte die Durchschnittsfamilie erst 1998 wieder den Lebensstandard von 1989 erreichen, während die enormen Börsengewinne – der Dow Jones Index stieg zwischen April 1991 und Mai 1999 von 3 000 auf 11 000 Punkte – von einer Minderheit sehr reicher Haushalte (10 Prozent) eingestrichen wurden. Millionen meist begüterte US-Amerikaner beginnen nun, ein Leben zu führen, das nicht vollständig von der Arbeit aufgesogen wird. Doch diese Errungenschaft liegt für den Großteil ihrer Mitbürger in weiter Ferne.

dt. Dorothea Schlink-Zykan

* Amerikanischer Wirtschaftsjournalist.

Fußnoten: 1 Siehe Juliet Schor, „The Overworked American: The Unexpected Decline of Leisure“, New York (Basic Books) 1992, S. 79-82. 2 International Labour Office, „Key Indicators of the Labor Market 1999“, Genf 1999, S. 166. 3 In Deutschland sank die Jahresarbeitszeit nach Angaben des Statistischen Bundesamts von 1 625 Stunden im Jahre 1990 auf 1 580 Stunden 1998. 4 James T. Bond et. al. „The 1997 Study of the Changing Workforce“, Families and Work Institute, New York 1998, S. 8. 5 Ebenda, S. 74. 6 Bureau of Labor Statistics, „Civilian labor force participation rates by sex, age, race and hispanic origin, 1976, 1986, 1996 and projected 2006“, Monthly Labor Review, Washington, November 1997, Tabelle 4, S. 28. 7 Siehe „The 1997 Study of the Changing Workforce“, a. a. O. S. 60. 8 Frank Hopkins, Leserbrief, Modern Maturity, September/Oktober 1999, S. 8. 9 Siehe Arlie Hochschild, „The Time Bind: When Work Becomes Home and Home Becomes Work“, New York (Metropolitan Books) 1998. 10 In 56 Prozent der Fälle, dazu: „Two Careers, One Marriage: Making it Work in the Workplace“, Catalyst Foundation, New York 1998, S. 28. 11 Für eine feministische Perspektive siehe Barabara Ehrenreich, „The Hearts of Men: American Dreams and the Flight from Commitment“, New York (Doubleday) 1983. 12 Nach „The 1997 Study of Changing Workforce“ (a. a. O.) widmen berufstätige Frauen ihren Kindern an Arbeitstagen weiterhin die gleiche Anzahl von Stunden, obwohl sie immer mehr in ihrem Beruf arbeiten. Siehe S. 38-41 der Studie. 13 Dazu Kirsten S. Wever, „The Family and Medical Leave Act“, Cambridge (Radcliffe Public Policy Institute) 1996. 14 Dazu Lawrence Mishel et al., „The State of Working America“, Ithaca (Cornell University Press) 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von MARK HUNTER