17.12.1999

Die verblendete Russlandpolitik des Westens

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Die verblendete Russlandpolitik des Westens

Von JACQUES SAPIR *

NACH einer in Russland weit verbreiteten Behauptung soll die Haltung des Westens – ob von einzelnen Regierungen oder von internationalen Organisationen – seit 1991 bewusst und willentlich darauf abgezielt haben, das Land zu schwächen. Diese Verschwörungstheorie wurde hauptsächlich durch die Resultate der politischen Strategien genährt, zu denen offizielle oder halb offizielle ausländische Experten der russischen Regierung geraten hatten. Rapide Verbreitung erlebte sie nach dem Börsenkrach im August 1998, besonders als die westlichen Regierungen ihre Appelle vermehrten, mitten in der finanziellen Katastrophe die Reformen fortzusetzen. Die Nato-Intervention im Kosovo hat das Gefühl, Opfer eines Komplotts zu sein, noch verstärkt, und tatsächlich kommt in der neuen russischen Militärdoktrin, die im Oktober 1999 bekannt gegeben wurde, eine offen antiwestliche Position zum Ausdruck.1

Diese Sichtweise ist bezeichnend für eine Gesellschaft, deren Mitglieder jeder Möglichkeit beraubt sind, Einfluss auf das eigene Schicksal zu nehmen. Zur Popularität der Verschwörungstheorien trägt bei, dass sich die politische Macht des Landes immer mehr der gesellschaftlichen Kontrolle entzieht. Die Komplotttheorie ist freilich weit von der Realität entfernt.

Der Internationale Währungsfonds (IWF), ursprünglich geschaffen, um den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften bei der Überwindung vorübergehender Zahlungsbilanzkrisen zu helfen, hatte sich längst zum wichtigsten Instrument der globalen Liberalisierungspolitik entwickelt, als ihm Ende 1991 eine Hauptrolle bei den Hilfeleistungen für Russland zugewiesen wurde. Doch besaß man beim IWF weder Kenntnisse über die so genannten Transformationsgesellschaften noch die Kompetenz zur Bewältigung ihrer Krisen. Die Gewissheit, über ein unfehlbares wissenschaftliches Rüstzeug von unbegrenzter Reichweite zu verfügen, veranlasste den IWF, die Hilfe für Russland im Rahmen des üblichen theoretischen und praktischen Instrumentariums abzuwickeln.

Wie andernorts auch, sah man die Bekämpfung der Inflation und die Verringerung des Haushaltsdefizits als vorrangig an – mit Hilfe einer Geld- und Steuerpolitik, die die aus der sowjetischen Wirtschaft überkommenen sozialen und finanziellen Beziehungen der Unternehmen gänzlich ignorierte. Der Inflationsabbau gelang, allerdings auf Kosten einer Entmonetarisierung der Wirtschaft, eines enormen Steuerausfalls und einer Öffnung der Finanzmärkte, was die Kapitalflucht wiederum erleichterte. Hinzu kam, dass bestimmte Bereiche der Wirtschaft in die Kriminalität abglitten und sich ein Finanzmarkt von ausschließlich spekulativem Charakter entwickelte, auf dem russische Staatsanleihen, die GKO, gehandelt wurden. Diese Geldpolitik führte außerdem zu einer Überbewertung des Rubels, dessen realer Wert auf dem Devisenmarkt zwischen Januar 1993 und Dezember 1996 um das Vierfache gesunken ist – mit verheerenden Folgen für die Industrie.

Die asiatische Krise von 1997 und die russische Krise von 1998 bedeuteten ein brutales Erwachen. Das ganze Ausmaß des Schocks ist noch gar nicht deutlich geworden. Angesichts der heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Weltbank und dem IWF im September und Oktober 1998 muss man sich sogar fragen, ob der wissenschaftliche Autismus des IWF überhaupt heilbar ist. Kurz bevor er am 9. November 1999 seinen Rücktritt erklärte, ließ sich IWF-Präsident Michel Camdessus angesichts dieser beiden Krisen zu einem aufschlussreichen Geständnis verleiten: Die Politik seiner Organisation habe dazu beigetragen, in Russland eine „institutionelle Wüste in einem Ozean aus Lügen“ zu schaffen.2

In nicht wenigen Fällen übte Washington einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen des IWF und der G 7 aus. Deren Strategie bestand in einer Verbindung von relativ starren Zielsetzungen mit oftmals unkoordinierten Maßnahmen, die ihrerseits Ergebnis eines zunehmend fragmentierten Entscheidungsprozesses in den USA waren. Unter die erste Kategorie fallen die Nichtverbreitung von nuklearen, chemischen und biologischen Waffen sowie die Integration der Sowjetunion und später Russlands in das Weltwirtschaftssystem. In Hinblick auf die Nichtverbreitung von ABC-Waffen stellte sich Washington zwischen 1990 und 1993 an Moskaus Seite gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Sowjetrepubliken, insbesondere der Ukraine. Eine andere Konstante sind die Anstrengungen, die unternommen wurden, ein Abwandern der wissenschaftlichen Spitzenkräfte in Länder wie den Iran oder den Irak zu verhindern. So haben die Vereinigten Staaten, unterstützt von der Europäischen Union, einen Teil der russischen militärischen Forschungseinrichtungen finanziert.

DASS die amerikanische politische Klasse den Entwicklungen in Russland so kurzsichtig gegenübersteht, liegt größtenteils daran, dass sie die kulturellen Scheuklappen nicht ablegen kann und darum von den institutionellen und materiellen Bedingungen nichts weiß, die in einem Land wie Russland dem Rechtsstaat wie auch den Wirtschaftsbeziehungen eine relative Stabilität verleihen.

Verstärkt wurde diese Kurzsichtigkeit durch die weitgehend unbegründete, jedoch tief sitzende Furcht, es könne zu einer Restauration der UdSSR kommen. Weil sie unbedingt die „Rückkehr der Kommunisten“ verhindern wollte, war die amerikanische Diplomatie bereit, die Gruppe von Liberalen um Boris Jelzin zu unterstützen und den Erfolg oder das Scheitern der Transformation allein nach deren Einfluss zu bemessen. So haben die USA nicht einen Wandlungsprozess, sondern einzelne Politiker unterstützt. Andererseits haben sie große Energie darauf verwandt, bestimmte Personen zu schwächen, die vielleicht ihren Freunden gefährlich werden konnten: So erklären sich die Kampagnen gegen Arkadi Wolski3 in den Jahren 1992 und 1993 und gegen Jewgeni Primakow, der zwischen September 1998 und Mai 1999 Premierminister war.

Diese Haltung brachte das Weiße Haus dazu, wiederholt direkt oder indirekt in die politischen Entwicklungen Russlands einzugreifen. 1993, bei der Konfrontation mit dem Parlament, erhielt Boris Jelzin offen politische und finanzielle Hilfe aus den USA. Während des ersten Tschetschenienkriegs ging Präsident Bill Clinton so weit, den russischen Präsidenten mit Lincoln zu vergleichen. Von entscheidender Bedeutung waren auch die amerikanischen Beihilfen und Berater bei den Vorbereitungen zu den Präsidentschaftswahlen 1996. Überdies verbot das liberale Credo Washingtons jede Kritik an den Privatisierungen und Deregulierungen, geschweige denn deren Zurücknahme.

Um diese Entscheidungen zu verstehen, muss man die Fragmentierung der Entscheidungsprozesse in Washington betrachten. Anfang der neunziger Jahre spielte der Konflikt zwischen dem Pentagon und dem State Department eine wichtige Rolle. So waren die amerikanischen Militärs wesentlich stärker an einer sozialen und wirtschaftlichen Stabilität Russlands interessiert als der für die Beziehungen zu Russland zuständige Staatssekretär Strobe Talbott. Der Sieg des State Departments 1993 und die Allianz mit dem Finanzministerium führten dazu, dass die kurzsichtigen Kriterien von Privatisierung und Sparprogrammen den Vorrang erhielten.

Was diverse Geheimdienste an Informationen über den tatsächlichen Zustand der russischen Gesellschaft und über das Maß an Korruption und Kriminalität unter den „Freunden“ Amerikas lieferten, wurde systematisch zurückgewiesen oder zu den Akten gelegt. Den spektakulärsten Fall stellt ein Bericht dar, den die CIA an den Vizepräsidenten Albert Gore geschickt hatte, um ihn mit rüden Anmerkungen versehen zurückzuerhalten.

Die Fragmentierung drückt sich auch in der Unfähigkeit aus, das russische Problem in seiner Gesamtheit zu betrachten. Gedrängt von den amerikanischen Erdölinteressen, optierte die US-Regierung für eine offensive Politik am Kaspischen Meer, die ihre politischen Freunde in Moskau schwächte. In Aserbaidschan wurde die amerikanische Präsenz zunehmend bedrängender, sei es auf direkte Weise oder über den Umweg Türkei. Was die Ukraine betrifft, so suchte man (aus Furcht, die UdSSR könnte wiedererstehen), eine Annäherung an Russland zu verhindern.

Auch die Nato-Erweiterung ist ein Beispiel für die Inkohärenz der amerikanischen politischen Entscheidungen. Wenn das Pentagon dieser Option gegenüber sehr zurückhaltend blieb, so hat das State Department sie forciert, und zwar unter dem Druck osteuropäischer Lobbys und in der Hoffnung, auf diese Weise die Europäische Union zu schwächen.

Festzustellen ist, dass die USA gegenüber Russland nicht eine, sondern mehrere politische Linien verfolgt haben. Feindseligkeit und Kurzsichtigkeit kamen zusammen. Durch die Finanzkrise 1998 und den Korruptionsskandal 1999 ist diese Inkohärenz zutage getreten, die derzeit die Debatte um die Frage schürt: „Wer hat Russland zugrunde gerichtet?“

Die Europäische Union war außerstande gewesen, eine eigene klare Vorstellung davon zu entwickeln, wie ihre Sicherheitsinteressen in den Beziehungen zu Russland zu wahren seien. Bedenkt man, wie unterschiedlich die politischen Kulturen (nicht so sehr die Interessen) der einzelnen Mitgliedstaaten sind, so fragt sich, ob überhaupt die Möglichkeit eines gemeinsamen Sicherheitskonzepts besteht.

Die Finanzkrise von 1998 hat gezeigt, dass sich Frankreich und Deutschland angenähert haben: Man ging auf Abstand zu den USA und plädiert inzwischen für ein verstärktes Eingreifen des Staates. Und so stieß Primakow weder in Bonn noch in Paris auf jene Vorbehalte, mit denen man ihm in Washington begegnete. Demgegenüber haben sich die unverkennbaren Gemeinsamkeiten zwischen Großbritannien und den USA noch verstärkt, was es sehr unwahrscheinlich macht, dass Europa zu einer gemeinsamen und kohärenten Russlandpolitik gelangen wird.

Zu dieser politischen Handlungsunfähigkeit gesellt sich die wirtschaftliche. Der europäische Haushalt sah Hilfen in großem Umfang vor (etwa im Rahmen des für Osteuropa bestimmten Phare-Programms oder des auf Russland zielenden Tacis-Programms), doch deren Abwicklung erwies sich als vielfach beklagter Skandal. Das Geld floss nur in geringem Umfang in die russische Gesellschaft und Wirtschaft und ging in erster Linie an die westlichen Berater – wofür die Bürokratie der Kommission in Brüssel verantwortlich gemacht werden muss. Im Übrigen verfolgten die europäischen Politiker eher kurzfristige Ziele: So ging es unter dem Vorwand der Lebensmittelhilfe – die Russland kaum wirklich braucht und die für seine Landwirtschaft jedenfalls verheerend ist – in Wahrheit darum, die EU-Agrarüberschüsse abzusetzen.

Für die Bilanz der westlichen Politik gegenüber Russland ist auch der eher persönliche Charakter bestimmter politischer Beziehungen zu berücksichtigen. Eine Personalisierung, die üble Auswirkungen zeitigte: Es kam zu Absprachen, was wiederum die Entwicklung der Korruption begünstigt hat. So war Robert Rubin, zwischen 1996 und Anfang 1999 amerikanischer Finanzminister, früher Russlandbeauftragter bei Goldman Sachs, einer Bank, die maßgeblich bei der Öffnung der russischen Finanzmärkte mitwirkte. Sein Stellvertreter und jetziger Nachfolger Lawrence Summers ist ein ehemaliger Schüler des stellvertretenden IWF-Präsidenten Stanley Fisher.

Hinzugefügt sei, dass eine ganze Reihe von Wirtschaftsfachleuten, die die US-Regierung beraten, sowohl Freunde der russischen „Liberalen“ sind – insbesondere von Anatoli Tschubais – als auch Berater der in der Wall Street mit Spekulationsgeschäften befassten Fonds. Fritz Ermarth, ein früherer hoher CIA-Funktionär, der auch Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat war, hat offen den Einfluss kritisiert, den jene Kreise der Finanzwelt, die in großem Umfang in die russischen Staatsanleihen investiert hatten, auf die amerikanische Regierung ausübten.4

Die Personalisierung staatlicher Beziehungen und deren großer Einfluss rührt in hohem Maße daher, dass die Politik außerstande ist, ein kohärentes und fortschrittliches Konzept des Transformationsprozesses zu formulieren, weshalb die Absprachen und ihre Folge, die Korruption, ein solches Gewicht gewinnen konnten. Die liberale Ideologie, so pervers sie sein mag, war häufig nicht mehr als ein Mittel der Legitimation eindeutiger finanzieller Gelüste, Gelüste, die sich das Chaos zunutze machten, zu dessen Entstehung ebendiese Ideologie beigetragen hat.

* Dekan an der Ecole des hautes études en sciences sociales, Verfasser unter anderem von „Krach Russe“, Paris (La Découverte) 1998.

Fußnoten: 1 Siehe Krasnaja Swesda, Moskau, 9. Oktober 1999. 2 Libération, 31. August 1999. 3 Um diesen ehemaligen Gorbatschow-Berater sammelten sich 1992 und 1993 diejenigen Kräfte, die für eine schrittweise und pragmatische Transformation eintraten. Nach dem Zusammengehen von Jewgeni Primakow und Juri Luschkow schloss er sich 1999 dem Oppositionsbündnis an. 4 Siehe „Testimony of Fritz W. Ermarth on Russian organized crime and money laundering before the House Committee on Banking and Finance“, US-Kongress, 21. September 1999, Washington DC.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von JACQUES SAPIR