Der verlorene Stolz der Arbeiterklasse
Von KARINE CLÉMENT *
ALLE Parteien und Wahlbündnisse, die zu den Wahlen am 19. Dezember antreten, geben sich in ihren Programmen gerne eine soziale Note, doch keine wendet sich explizit an die Arbeiter. Hier und da - eher selten - denken Politiker laut über die Zukunft nach: über die der Wissenschaft, der Jugend, des öffentlichen Sektors oder auch des Sozialsystems; aber die Arbeit und die Arbeiter selber kommen nicht vor, höchstens dort, wo die Gesetzgebung als „allzu arbeiterfreundlich“ oder der Widerstand „gewisser Kreise“ gegen die vollständige Liberalisierung des Handels und der Produktion kritisiert wird.
Mit Bezeichnungen wie „Nostalgiker“, “Unverantwortliche“, „Parasiten“, “Fürsorgeempfänger“, „Überflüssige“ werden die Arbeiter vielfach belegt - in verächtlichen Politikeräußerungen, karikierenden Zeitungskommentaren ebenso wie in schematischen soziologischen Analysen. Dabei werden die Arbeiter (58,9 Prozent der Erwerbsbevölkerung) meist mit dem alten System identifiziert, in welchem sie mythifizierend als „führende Klasse“ galten. Auch wenn sich nur wenige damals von diesen offiziellen, den eigenen Alltag Lügen strafenden Reden täuschen ließen, bezog man aus dieser Sprachregelung einen gewissen Stolz, eine Selbstsicherheit, die heute verloren ist.
Den großen Industriekomplex Sil im Zentrum Moskaus präsentierten die Sowjetführer ehedem gern als industrielle Speerspitze und wirtschaftliches wie soziales Erfolgsmodell, das ausländischen Staatsbesuchern einen Einblick in die glanzvolle Wirklichkeit des Landes gewähren sollte: ein Mammut-Kombinat mit gewaltiger Produktion, hohen Löhnen, umfangreichen und guten sozialen Einrichtungen - hier arbeitete die Arbeiterelite, die dank eines spezifischen Systems tatsächlich an der Planung und Leitung mitwirken sollte. Und tatsächlich gelang es dem Unternehmen, im Rahmen des „sozialistischen Wettbewerbs“ diverse Produktivitätsrekorde aufzustellen: Hier gab es scharenweise „Helden der Arbeit“, und man war stolz, in einem solchen Betrieb beschäftigt zu sein.
Die Menschen aus der Provinz standen Schlange nach einem Arbeitsplatz bei Sil, nicht zuletzt weil sie auf eine propiska hofften, eine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau. Und auch wenn niemand in der Arbeiterschaft sich dem Gerede von der führenden Rolle anschloss, benutzten sie es doch, um ihre Fähigkeiten herauszustreichen, auch und gerade dort, wo sie aktiv die Interessen des Kollektivs verteidigten oder individuell auf einen gesellschaftlichen Aufstieg hofften.
Mittlerweile zweifeln die Sil-Arbeiter, die tagtäglich mit ihrer Geringschätzung durch die Finanz- und Geschäftswelt konfrontiert sind, an sich selbst, an ihrer Anpassungs- und Handlungsfähigkeit, an ihrem Wert als Individuum. Wie angeschlagen ihr Selbstwertgefühl ist, verrät sich in dem, was sie über sich selber sagen: sie seien „niedergeschlagen, ohne Hoffnung und Zukunft“, wie eine „überflüssige Schraube in einer schlecht konstruierten Maschine“, und sie glaubten nicht mehr an „ihren Wert als Menschen“.
In den seltenen Fällen, in denen einige Sil-Arbeiter trotzdem gemeinsam eine Aktion, eine Versammlung oder einen partiellen Streik gewagt haben, haben die Argumente und die Vorgehensweise der Unternehmensleitung sie jedesmal derart verunsichert, dass sie an der Berechtigung ihrer Aktion zu zweifeln begannen. Als sie sich etwa im Februar 1996 versammelten, um die Auszahlung der fünfmonatigen Lohnrückstände einzufordern, nahm ihnen der Direktor jeden Wind aus den Segeln, indem er erklärte, er sei die falsche Adresse, da die Unternehmensleitung bis zum Hals in Schulden stecke; sie sollten sich besser an die Regierung wenden. Ratlos gingen die Versammelten auseinander.
Werden die Gewerkschafter, die kampfbereiter sind als die anderen, eine Aktion gegen unbezahlte Überstunden starten? Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow - Hauptaktionär des Unternehmens - lässt sich zu einer Stellungnahme herbei: Er fordert die Arbeiter auf, die Ärmel hochzukrempeln, um die Fabrik wieder flottzumachen, und kritisiert die niedrige Produktivität. Misstrauisch empfangen die Beschäftigten die Gewerkschafter, man ruft ihnen zu: “Arbeitet lieber, statt zu protestieren und die Zeit zu verplaudern!“
Während die Unternehmensleiter sich heute durch Macht und materiellen Erfolg legitimiert sehen - Kennzeichen einer guten Anpassung an die “moderne“ Welt und den „Markt“ -, fühlen die Arbeiter sich ausgeschlossen und überflüssig. Dabei verdankt das Land seine noch vorhandene Produktivität (trotz des seit 1991 um 50 Prozent gesunkenen Bruttoinlandsprodukts) der Tatsache, dass sich die Arbeiter ihrer Fabrik nach wie vor verbunden und verpflichtet fühlen. Der Mangel an Investitionen und der marode Zustand der Maschinen werden in gewisser Weise durch einen kaum anerkannten und kaum entlohnten Einsatz von Arbeitskraft kompensiert. Die Löhne sind - außer in lukrativen Bereichen wie der Gas- oder Erdölproduktion - sehr niedrig, ja liegen oft unterhalb der Armutsgrenze.
Die Finanzkrise vom August 1998 hat die Reallöhne noch einmal um die Hälfte schrumpfen lassen, und dies, obwohl die Arbeiter gegenüber 1992 - damals wurden die Preise freigegeben - bereits 50 Prozent ihrer Kaufkraft verloren hatten.1 Inzwischen hat man begonnen, die Lohnrückstände auszuzahlen: dank der Inflation und einer leicht gestiegenen Industrieproduktion. Aber die Tendenz kann sich bei der nächsten Konjunkturänderung umkehren. Was die öffentlichen Bediensteten - im Gesundheitswesen, in den Schulen und der Kultur - anbetrifft, so liegen ihre Durchschnittslöhne noch unter denen der übrigen Arbeiter; in der Industrie wiederum war die soziale Ausgrenzung schneller und brutaler.
Das Einkommen kann allerdings nicht ausschließlich nach der Höhe des Lohns berechnet werden, da es zu einem nicht unwesentlichen Teil auch in Form von Naturalien bzw. sozialen Leistungen gewährt wird. Doch die Naturalien, deren geldlicher Gegenwert nicht festgelegt ist, sind im Wesentlichen ein Mittel zur Lohnsenkung. Und die sozialen Einrichtungen (Kindergärten, Krankenhäuser, Ferienlager, Wohnungen), die traditionell an einen Betrieb angeschlossen waren, sind im Niedergang begriffen. Da der Staat sich jedoch von seiner wirtschaftlichen und sozialpolitischen Rolle verabschiedet, übernimmt er auch nicht jene Aufgaben im Sozialbereich, die von den Unternehmen nicht mehr erfüllt werden. Folglich ist die soziale Absicherung der Arbeitnehmer immer schlechter und lückenhafter.
Nur ein paar große Industriekombinate, die ein ausreichend hohes Produktionsniveau halten konnten und mit Gewinn arbeiten, führen den aus Sowjetzeiten überkommenen Sozialbereich weiter. So zum Beispiel das Autokonsortium Gas in Nischni-Nowgorod im Wolgagebiet. Die Löhne, die die Arbeiter erhalten, sind im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten völlig unzureichend (zwischen 500 und 1 000 Rubel im Sommer 1999, manche sogar weniger), aber sie überleben dank der betriebseigenen Einrichtungen, die sie unentgeltlich nutzen können, sowie dank der sehr niedrigen Preise im Industrieviertel selbst, das fast ganz dem Unternehmen gehört. Allerdings sind die Beschäftigten mehr oder weniger in diesem Viertel gefangen, da sie kein Geld haben, anderswohin zu ziehen oder gar ganz fortzugehen. So geraten sie in Abhängigkeit von der Unternehmensleitung, die Leistungen gewährt oder nicht und das gesamte Leben des Viertels organisiert. Schließlich gestalten sich die Zugangsmöglichkeiten zum betriebseigenen sozialen Netz überaus ungleich: Die Leistungen sind in großem Umfang den Angestellten und „verdienten Arbeitern“ vorbehalten.
Paternalistische und autoritäre Kontrolle sowie ein flexibler Einsatz der Arbeitskräfte greifen ineinander und bewirken, dass die Arbeiter sich nicht nur am Arbeitsplatz übermäßig engagieren, sondern dem Betrieb bis zur Selbstaufopferung dienen. Um ihr Einkommen zu verbessern und ihre Unersetzbarkeit unter Beweis zu stellen, betreiben die Arbeiter des Automobilkonzerns eine derartige Selbstausbeutung, dass ihnen ihr Lohnarbeiterdasein wie Sklaverei erscheint, wie sich Tatjana aus der Gießerei ausdrückt: „Wir können machen, was wir wollen, wir ändern ja doch nichts. Irgendjemand profitiert immer von dem Ganzen, und wir sind nur Sklaven!“ Sascha, Monteur, setzt noch eins drauf: „Wir arbeiten unter Scheißbedingungen. Aber wen interessieren schon die Arbeitsbedingungen? Hauptsache, wir arbeiten weiter. Und wir machen wirklich immer weiter, wie Sklaven!“
Tamara, die in der technischen Fertigung arbeitet, versucht, sich dem Druck der Unternehmensleitung zu widersetzen; sie verweigert die Samstagsarbeit und widmet sich stattdessen ihrem Stück Land, um sich das Lebensnotwendige für den Winter zu organisieren. „Wenn wir Überstunden machen, erlauben sie sich nur, uns noch weniger zu zahlen. Sie erzählen uns, wir müssten samstags arbeiten, weil wir das Wochenpensum nicht erreicht hätten. Mit anderen Worten: Wir sind schuld, dass die Rohstoffe nicht rechtzeitig eingetroffen sind oder das Fließband kaputtgegangen ist. So streichen sie uns die Prämie und zwingen uns obendrein zu Überstunden, die dann nicht als Überstunden gelten!“
So liegt Russland im wirtschaftsliberalen Wettstreit um die „Flexibilisierung der Arbeit“ an vorderster Stelle.2 Längst haben die Arbeitgeber eine nahezu vollkommene Verfügungsgewalt über ihre Beschäftigten - über die Länge der Arbeitszeit, die vereinbarten Regelstunden, die Arbeitsleistung, den Ort und die Entlohnung. Im Durcheinander des “Übergangs“ nutzen sie geschickt die Tatsache, dass die Beschäftigten materiell wie emotional an ihrem Arbeitsplatz hängen. Für die Arbeiter ist die Ausbeutung freilich nicht durchschaubarer geworden, sie hat ihren hinterhältigen Charakter bewahrt, ja mitunter mag sie verwechselt werden mit einer „Freiheit“ von Zwängen, die das alte System auferlegt hatte (wie etwa strikte Arbeitszeitregelungen, unveränderliche Normen, staatliche Vorschriften und Regulierungen).
Wer die neuen Spielräume zu nutzen versteht, dem verschaffen sie die Gelegenheit, einen höheren Lebensstandard oder eine bessere berufliche Position zu erlangen, eine freiberufliche oder unternehmerische Tätigkeit aufzubauen. Aber der Mehrzahl der Arbeiter fehlt es am nötigen Startkapital - in Form von Geld wie von Beziehungen -, und so erleben sie ihre Freiheit als ein Ausgestoßenwerden an den unteren Rand der Gesellschaft und als die Einsicht, dass sie auf keinerlei institutionelle oder gesellschaftliche Mechanismen, auf keinerlei Solidarität mehr setzen können. Wenn sie verarmen, während sie doch frei sind, so müssen sie an ihrer Armut selber schuld sein! Auf Russisch wird das so formuliert: „Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Schiffbrüchigen selbst.“
Die Arbeiter befinden sich in einer grausamen Zwangslage: Sie sind zu einem Umgang mit ihrer Freiheit aufgefordert, für den man ihnen weder die Mittel noch die Macht gegeben hat; und wenn sie scheitern, so bezichtigt man sie, ewig die Hand aufhalten zu wollen. Die realen Erfahrungen des “Sich-Durchwurstelns“ zeigen deutlicher als alles andere den ganzen Zynismus dieser Ethik, die dem Einzelnen die Verantwortung für sein Leben aufbürdet, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen.3 Und doch: Gegen jede eigene Erfahrung machen sich die Arbeiter die Idee der Eigenverantwortung zu eigen; sie neigen zu der Ansicht, dass es gut ist, wenn man „trotz allem zurechtkommt“, wenn man „nur auf sich zählt“, wenn man „für sich verantwortlich ist und keinen um etwas bittet“.
Und in der Tat „wursteln“ sie sich auf tausenderlei Weise „durch“: durch Überstunden, Klauen im Betrieb, Schwarzarbeit innerhalb oder außerhalb des Unternehmens, durch Zweit- und Drittjobs und Hausarbeiten kommerzieller oder nichtkommerzieller Art, durch Bewirtschaftung eines Stückchens Land und sprudelnden Einfallsreichtum beim Einsparen des einen oder andern Rubels und so weiter.
Aus diesem Übermaß an Aktivitäten und an Kreativität erwächst zweifelsohne das Gefühl, man habe sein Leben in der Hand. Doch wird dieses Gefühl unablässig in Frage gestellt, da das “Sich-Durchwursteln“ die Menschen in steter Unsicherheit hält. Der inoffizielle Job kann von heute auf morgen zu Ende sein; eine kleine einträgliche Sache kann plötzlich nichts mehr abwerfen; ein Gewitter kann in wenigen Stunden die ganze Kartoffelernte vernichten; das Ergebnis der Arbeit von mehreren Tagen kann sich irgendein Chef eines inoffiziellen Netzwerks (das mafiös oder auch nicht sein mag) in einem Handstreich unter den Nagel reißen. Nichts ist garantiert, alles ist eine Sache von Zufall, Beziehungen, inoffiziellen Zusagen, also jederzeit widerrufbar. In der Schattenwirtschaft ergeht es den Arbeitern nicht besser als in den offiziellen Beschäftigungsverhältnissen: Im Gegenteil, es ist noch schwieriger, ein Minimum an Stabilität zu finden.
Wenn die russischen Arbeitnehmer ihren westlichen Kollegen also inzwischen einiges an Erfahrung voraushaben, was die „Arbeitsflexibilität“ betrifft, so mag das auch daran liegen, dass die „Liberalisierung“ in Russland besonders günstige Voraussetzungen gefunden hat. Die sozialen Rückschritte in den achtziger Jahren, die Kluft zwischen den Arbeiterparolen und der Realität sowie das vom alten Regime geprägte und zusehends verunsicherte Bewusstsein - all dies hat dem Ultraliberalismus als Sprungbrett gedient.
dt. Passet/Petschner
* Soziologin an der Universität Paris VIII, Vincennes-St. Denis, Verfasserin von „Ouvriers russes dans la tourmente du marché 1989-1999“, das im Jahr 2000 in den Editions Syllepse, Paris, erscheinen wird.