17.12.1999

Reformer, Retter, Stalins Enkel

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Reformer, Retter, Stalins Enkel

Von BORIS RAKITSKI und DENIS PAILLARD *

Das Ende der in Selbstherrlichkeit erstarrten Jelzin-Ära wird voraussichtlich mit den Wahlen im Dezember 1999 und Juni 2000 besiegelt sein. Doch es bleibt die Frage nach dem Fortbestand eines Regimes, das nach acht Jahren ebenso brutaler wie chaotischer Reformen das Land derart verheert hat, dass es „keinen Staat und keine Wirtschaft mehr“1 gibt. Denn Russland befindet sich, um einen Ausdruck von Igor Strojew, dem Präsidenten des Föderationsrates, aufzugreifen, in einer „Systemkrise“; die Gesellschaft ist ausgeblutet, die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Überlebenskampf befasst.

In diesem Kontext stellen die bevorstehenden Parlamentswahlen einen ersten Test dar, welche Kräfte (Parteien oder Wahlbündnisse) in der Lage sind, ein Programm zu präsentieren, das sich von dem Jelzins unterscheidet, und ob es ihnen gelingt, bedeutende Teile der Bevölkerung zu gewinnen. Es geht hier um mehr als um den Ausgang der Wahlen, bei denen aller Wahrscheinlichkeit nach die so genannten Oppositionsparteien (siehe nebenstehenden Kasten) einen überwältigenden Sieg davontragen werden. Aber diese neue Mehrheit läuft Gefahr, ebenso machtlos wie die jetzige Duma zu bleiben, wenn nicht grundlegende Änderungen an der Verfassung sowie an der Organisation der staatlichen Macht vorgenommen werden. Denn in den letzten vier Jahren beschränkte sich die Rolle der Abgeordneten darauf, die Kreml-Politik und den Reigen der Ministerpräsidenten (fünf in den vergangenen achtzehn Monaten) abzusegnen.

Das Aktionsprogramm, das die damalige Regierung Primakow Ende 1998 ankündigte, hat eine Reihe von entscheidenden Fragen auf die Tagesordnung gebracht. Was die Ökonomie betrifft, so unterstrich der damalige Ministerpräsident die Notwendigkeit, die Formen der Privatisierung einer Überprüfung zu unterziehen, denn sie hatten sich als groß angelegte Operation erwiesen, den Reichtum des Landes in wenigen Händen zu bündeln.2 Primakow versprach außerdem eine Reform des Bankensystems, das ausschließlich auf Spekulationsgeschäfte ausgerichtet war und eine Schlüsselrolle bei der massiven Kapitalflucht spielte. Ein weiterer Schwerpunkt seines Programms war die Bekämpfung der zunehmenden Wirtschaftskriminalität und ihrer Verflechtung mit dem Staatsapparat (nach vorsichtigen Schätzungen entziehen sich 50 Prozent der Wirtschaft jeglicher staatlichen Kontrolle). Und schließlich erklärte er, Russland durch die Wiederankurbelung der nationalen Produktion aus der politischen und ökonomischen Abhängigkeit von den internationalen Währungseinrichtungen sowie der G-7-Gruppe befreien zu wollen.

Jewgeni Primakows unvermittelte Absetzung im Frühjahr 1999 rückte einen anderen entscheidenden Punkt ins Licht: die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Verfassung, welche (im Oktober 1993 nach dem blutigen Coup Jelzins gegen das Parlament per Referendum – einem, so die Mehrzahl der Beobachter, manipulierten Referendum – angenommen) alle Macht in den Händen des Präsidenten konzentrierte. Sie lieferte der „Familie“, wie die russischen Medien seit einigen Monaten den Jelzin-Clan und die mit ihm verbündeten Oligarchen nennen, den „rechtlichen“ Rahmen, um die staatlichen Schlüsselfunktionen zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Die russische Verfassung weist der Duma den Status eines Rumpfparlaments zu, das stets mit Auflösung erpresst werden kann. Und die Regierung, vom Präsidenten ernannt, kann sich nur so lange halten, wie sie sich fügsam zeigt. Kaum gewann ein Ministerpräsident in der Vergangenheit ein eigenes, die Allmacht des Kreml in Frage stellendes Prestige, wurde er abgesetzt. So erging es nicht nur Jewgeni Primakow, sondern auch Wiktor Tschernomyrdin (im Frühjahr 1998) und Sergej Stepaschin (im August 1999). Den derzeitigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin könnte das gleiche Schicksal ereilen; und dass der Präsident ihn, dessen Popularitätskurve seit dem Beginn des Tschetschenienkriegs sprunghaft angestiegen ist, für die Präsidentschaftswahlen im Juni 2000 zu seinem Nachfolger auserkoren hat, ist keineswegs eine Garantie dafür, dass Putin sich im Amt halten kann, eher darf das Gegenteil angenommen werden.

Primakows Popularität im Lande ist auch nach seiner Entlassung nicht geschwunden; und dies, obwohl das von ihm nach der Finanzkrise im August 1998 angekündigte Programm zur Linderung der brutalen Einkommenseinbußen Papier blieb.3 Doch die Zielsetzungen seines Programms treffen die Grundstimmung in der Bevölkerung.

Die soziale Katastrophe wird von vielen als irreversibel eingestuft. Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung, quer durch alle Schichten, der jetzigen Führung jede Legitimität abspricht. Die Politik der „Reformen“, überwiegend gesehen als Phase der Umwälzungen und der unnötigen Tragödien, stößt auf Ablehnung; die mangelnde Anwendung der Gesetze auf ökonomischem und sozialem Gebiet wird ebenso kritisiert wie die Unfähigkeit der lokalen Behörden – allen voran der Miliz –, die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zu garantieren. Angesichts einer „machtlosen“ Macht, die am Gesetz vorbei handelt, ergreift die Bevölkerung zunehmend ein Gefühl der Ohnmacht; sie glaubt immer weniger daran, auf den Gang der Ereignisse Einfluss nehmen zu können.

In den letzten zwei Jahren gab es zahlreiche regionale bzw. berufsgruppenspezifische Protestaktionen insbesondere gegen die massiven Lohnrückstände. Der „Eisenbahn-Krieg“ im Frühjahr 1998, als die Bergleute den gesamten Schienenverkehr im westlichen Sibirien lahm legten, brachte die Regierung sogar zum Einlenken. Zwar gewann die Bewegung der Bergarbeiter im Sommer 1998 durch die Streikposten vor dem „Weißen Haus“ in Moskau eine unmittelbar politische Dimension. Doch am 10. Oktober wurden diese Posten, die sich zu einer Art politischem Treffpunkt entwickelt hatten, durch Sondereinheiten der Polizei aufgelöst. Andere Initiativen der Arbeiter, wie etwa die Arbeiterkontrollen, die in einzelnen Unternehmen eingerichtet wurden, um die Schließung des Unternehmens zu verhindern, wurden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Lediglich dort, wo die Polizei gegen die Arbeiter vorging, griffen die Zeitungen den Fall auf.

Neben derartigen meist auf den Bereich der Einzelunternehmen beschränkten Protestaktionen gibt es auch allgemeine soziale Initiativen, wie die Entstehung eines Netzwerks von Frauenorganisationen, die allerdings – freiwillig oder unfreiwillig – keinen Eingang in die Politik finden. Die Fähigkeit der Gesellschaft, sich aktiv um allgemeingesellschaftliche Thema zusammenzuschließen, die Ende der achtziger Jahre gut entwickelt war, ist wieder verschwunden. Ein typisches Beispiel stellt die Ökologiebewegung dar: Während der Perestrojka spielte sie eine wichtige Rolle bei der Kritik des bürokratischen Systems, heute ist sie, sieht man von einigen Zweigstellen internationaler Nichtregierungsorganisationen (wie Greenpeace) ab, nicht mehr existent.4 Ebenso muss es verblüffen, wie isoliert jene Russen sind, die gegen den zweiten Tschetschenienkrieg protestieren.5 Der erste Krieg (in den Jahren 1994-1996) war bei der Bevölkerung auf massive Ablehnung gestoßen, heute sind die Komitees der Mütter von Soldaten und einige übrig gebliebene Menschenrechtler allein auf weiter Flur.

Die soziale und politische Hoffnungslosigkeit drückt sich nicht nur in Apathie und Desinteresse an öffentlichen Angelegenheiten aus, sondern verstärkt auch die Idee, nur ein „starker Mann“ könne – mit autoritären Methoden – das Land aus der Krise erretten. Dieser Mythos ist auch in den Strategien der Regierung wie der Parteien gegenwärtig. Die Tatsache, dass alle drei Ministerpräsidenten des vergangenen Jahres (Primakow, Stepaschin und Putin) zuvor an der Spitze der KGB-Nachfolgeinstitution FSB standen, ist gewiss kein Zufall.6 Während FSB-Kader in allen politischen Parteien willkommen sind, sind Kandidaten aus den Reihen der Armee diesmal auf den Wahllisten deutlich schwächer vertreten als früher.

Das Fehlen eines politischen Systems, das als Gesamtheit von Organisationen (Parteien, Vereinen, Gewerkschaften) in der Gesellschaft verankert wäre,7 lastet als schwere Hypothek auf den bevorstehenden Wahlen wie auf dem Schicksal Russlands. Für die Staatsmacht ist diese Situation ein wichtiger Trumpf, ebenso die Weigerung der Kommunistischen Partei, sich zur echten Opposition zu entwickeln: Die KP, die sich auf den Unmut und Widerstand bestimmter Segmente der Gesellschaft stützt, verfügt über die Mehrheit in der Duma, kam aber in der vergangenen Legislaturperiode über eine denunziatorische Rhetorik nicht hinaus.

Unter den Parteien und Wahlbündnissen, die auf föderaler Ebene mit Sicherheit die Fünfprozenthürde nehmen werden, beherrschen drei Gruppierungen das Feld, die alle zur Opposition gehören. Die „Kommunistische Partei der Russischen Föderation“, in deren Wahlplattform die Kritik an Jelzin mit nationalstaatlichen Positionen verschmelzen, hat sich zum einzigen und alleinigen Ziel gesetzt, möglichst viele Sitze zu erringen.

Der Block „Vaterland-Ganz Russland“, zu dem sich Luschkow und Primakow zusammengeschlossen haben, wird bereits als Wahlsieger gehandelt, überwiegend auf Grund des persönlichen Prestiges von Primakow. Das Wahlprogramm hebt die Notwendigkeit hervor, die staatliche Macht wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes zurückzugewinnen, wobei beim Moskauer Bürgermeister noch eine starke nationalistische Note hinzukommt (so fordert er die volle Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation und lehnt nach wie vor das im August 1996 geschlossene russisch-tschetschenische Friedensabkommen von Chassawjurt ab). In der Wirtschaft setzt die Koalition auf die Wiederankurbelung der Inlandsproduktion und des Konsums.

Ein anderes wichtiges Thema stellt die Aussöhnung der Regionen mit Moskau dar. „Vaterland-Ganz Russland“ wird von Vertretern der regionalen Eliten unterstützt, die überwiegend dem früheren Bündnis „Regionen Russlands“ angehört haben. Doch könnte das Gewicht der Regionen zu Spannungen innerhalb des Wahlbündnisses führen. Seit geraumer Zeit versuchen einige Gouverneure, das „Zentrum“ zu umgehen, insbesondere in Fragen wirtschaftlicher Außenbeziehungen. Überdies ist auf Kreml-Initiative hin ein Wahlbündnis namens „Medwed“ („Bär“) entstanden8 , das mittels budgetärem Druck auf die ärmsten Regionen einen möglichen Erfolg der Koalition in der Provinz zu verhindern sucht.

Die Liste „Vaterland-Ganz Russland“ erhält Unterstützung vom Verband der Unabhängigen Gewerkschaften (den „alten“ Gewerkschaften), und ihr „realistisches“ Programm kann wohl einige Wähler gewinnen, die traditionell ihre Stimme den Kommunisten geben, die aber einer unproduktiven und rückwärts gewandten Opposition überdrüssig sind. Im Übrigen sind ein Teil der Führung der „Agrarpartei Russlands“ sowie einige Kader der „Bewegung Patriotischer Kräfte“ (die nach wie vor mit der Kommunistischen Partei verbündet ist) zur Koalition von Luschkow und Primakow übergewechselt.

Die dritte und letzte bedeutende Kraft bei den bevorstehenden Wahlen ist „Jabloko“, eine Partei von liberal-demokratischer Orientierung, die nun allerdings auch in die Turbulenzen der kurzfristigen Politspekulation hineingeraten ist. Das Zusammengehen mit Stepaschin kann dem Bild der Partei nur schaden, die sich als einzige wirklich demokratische Kraft profiliert und als bedingungslose Opposition darzustellen verstanden hat.

Es sieht so aus, als gelänge es der derzeitigen Führungsriege, obwohl ihre Macht abzubröckeln beginnt – oder vielleicht gerade deshalb –, den politischen Kampf in den Grenzen jenes Terrains zu halten, das sie abgesteckt hat und auf dem seit Jahren das politische Leben Russlands durch Intrige, Verrat und Skandal gekennzeichnet ist. Die überall in den Medien gehandelten Szenarien lassen die Situation noch undurchsichtiger erscheinen. Und der Tschetschenienkrieg, in dem sich alle politischen Kräfte der imperialen Ideologie nackter Gewalt verschrieben haben, könnte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den wesentlichen Fragen ablenken, um die es bei diesen Wahlen geht. Es bleibt also offen, ob die Wahlen eine positive Wendung bringen – etwa indem eine neue Regierung ein wirkliches Programm vorlegt, die gesellschaftlichen Bewegungen wieder aufleben oder die eine oder andere Region an Profil gewinnt –, ob die Gesellschaft sich in naher Zukunft um einen starken Mann, einen Heilsbringer schart und dem großrussischen Nationalismus huldigt (der in einigen südlichen Republiken bereits um sich greift), oder ob es gar zum Krieg kommt.

dt. Passet/Petschner

* Boris Rakitski ist Professor an der Lomonossow-Universität, Moskau, Denis Paillard Forscher am Centre National de Recherches Scientifiques, Paris.

Fußnoten: 1 Siehe Moshe Lewin, „Staatskrankes Rußland“, Le Monde diplomatique, November 1998. 2 Wladimir Polewanow, ein früherer Mitarbeiter Tschernomyrdins, hat eingeräumt, dass 500 der größten russischen Unternehmen, deren Wert seinerzeit auf 200 Milliarden Dollar geschätzt wurde, den neuen Besitzern für 7,2 Milliarden Dollar überlassen wurden. 3 Vor den Reformen entsprach der Lohn eines russischen Arbeiters bei gleicher Qualifikation und Tätigkeit 25 Prozent des Lohns eines westlichen Arbeiters. Bis 1995 sank diese Zahl auf 5 Prozent und nach der Geldentwertung vom August 1998 noch einmal auf 1,5 Prozent. 4 Der engagierte Journalist und Umweltschützer Gregori Pasko, der mehr als zwanzig Monate in Untersuchungshaft saß, weil er gefilmt hatte, wie die russische Marine Nuklearabfälle im Pazifik versenkte, teilte mit, dass von den 22 000 an die russische Regierung gerichteten Briefen, die seine Freilassung forderten, ein einziger aus Russland kam (siehe Libération, 11./12. September 1999). 5 Vgl. Jean Radvanyi, „Russischer Wahlkampf im Kaukasus“, Le Monde diplomatique, November 1999. 6 Selbst die liberal-demokratische Partei „Jabloko“ hat mit der Aufnahme eines Sergej Stepaschin die Tür zu einer autoritären Entwicklung der Partei aufgestoßen. Der angestammte Chef, Grigori Jawlinski, wird von dem Neueinsteiger bereits zusehends unter Beschuss genommen. 7 Siehe Moshe Lewin, a. a. O. 8 Dieser von Sergej Schojgu, dem Minister für Besondere Angelegenheiten, angeführte Block genießt die Unterstützung einer bedeutenden Zahl von Gouverneuren, die ein breites politisches Spektrum repräsentieren. In Umfragen erkären mehr als 7 Prozent der Wähler ihre Absicht, „Einheit“ ihre Stimme zu geben.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von BORIS RAKITSKI und DENIS PAILLARD