Verstärkter Rüstungswettlauf
DIE USA PLANEN EIN NEUES RAKETENABWEHRSYSTEM
OBWOHL eine im November abgeschlossene Studie des amerikanischen Außenministeriums warnend darauf hinwies, dass die „Krieg der Sterne“-Projekte der USA bisher stets gescheitert sind, zeigt sich Washington fest entschlossen, ein neues Raketenabwehrprogramm zu realisieren. Offenbar sind weder die heftige Kritik Moskaus noch die europäische Ablehnung ausreichend, einen erneuten Rüstungswettlauf zu verhindern, der sämtliche in den letzten Jahrzehnten unterzeichneten Verträge über die Nichtverbreitung hinfällig machen würde.
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *
In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober starteten die Vereinigten Staaten auf dem Kwajalein-Atoll der Marschallinseln ein „Exoatmospheric Kill Vehicle“ (EKV). Dieses „jenseits der Atmosphäre operierende Tötungsvehikel“ fing in 225 Kilometer Höhe über dem Pazifik eine Langstreckenrakete vom Typ Minuteman ab, die von der Luftwaffenbasis Wandenberg/ Kalifornien aus, allerdings ohne Nuklearsprengkopf, in Richtung Westen gestartet worden war. Es war der erste erfolgreiche Test, bei dem eine Rakete in so großer Höhe mit derartiger Präzision abgefangen wurde. Auch ein weiteres Ereignis, das Ende Oktober stattfand, verweist auf die Optionen, die sich offenbar in den strategischen Planungen der Vereinigten Staaten durchsetzen: Trotz wiederholter Ermahnungen von US-Präsident Bill Clinton lehnte der Senat die Unterzeichnung des Vertrags über ein umfassendes Atomtestverbot (CTBT) ab. (Dazu der Beitrag von Phyllis Bennis auf den Seiten 1 und 5.)
Welche Bedeutung ist diesen US-Initiativen beizumessen? Welche Konsequenzen haben sie für die anderen Mächte und die internationale Staatengemeinschaft? Und was besagen sie über die allgemeine Ausrichtung der amerikanischen Politik?
Das neue Raketenabwehrsystem EKV ist natürlich nicht der erste Versuch der Vereinigten Staaten, sich gegen eventuelle Raketenangriffe feindlicher Mächte zu wappnen. Bereits 1956, knapp ein Jahr nach dem ersten erfolgreichen Test einer sowjetischen Interkontinentalrakete, verfolgten die USA das Programm „Defender“, das ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem mit dem Namen „Bambi“ (Ballistic Missile Boost Intercept) vorsah. Die praktische Umsetzung warf jedoch unlösbare Probleme auf, und so wurde das Projekt Anfang der sechziger Jahre eingestellt.
Danach konzentrierten sich die Forschungen auf das Ziel, feindliche Raketen in der Endphase ihres Anflugs zu zerstören. Die ersten positiven Resultate erzielte man mit der Boden-Luft-Rakete „Nike Zeus“, die im Juli 1962 getestet wurde. Auch die Sowjetunion hatte Anstrengungen in dieser Richtung unternommen und begann im selben Jahr, das Raketenabwehrsystem „Galoch“ im Umkreis von Moskau zu installieren. Die Vereinigten Staaten reagierten mit Überlegungen zu einem flächendeckenden Abwehrsystem, dem Programm „Sentinel“. Hinzu kam Anfang der siebziger Jahre das Projekt „Safeguard“ zum Schutz der Interkontinentalraketensilos.
Der Wettlauf im Bereich der Raketenabwehrsysteme hätte das nukleare Gleichgewicht zwischen den Supermächten ernsthaft bedroht, wenn es einer der beiden Mächte gelungen wäre, die Interkontinentalraketen des Gegners zu neutralisieren, bevor dieser dieselbe Fähigkeit entwickelt. Doch dazu kam es nicht: Beide Supermächte gaben frustriert ihre diesbezüglichen Anstrengungen auf. Am 26. Mai 1972 unterzeichneten Leonid Breschnew und Richard Nixon in Moskau das so genannte ABM-Abkommen, das die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen praktisch untersagt und die Zahl der bestehenden Systeme auf jeweils 100 beschränkt - bis die Kontrahenten beschließen, auch diese zu vernichten.
Rund ein Jahrzehnt später, am 23. März 1983, verkündete US-Präsident Ronald Reagan die Entwicklung eines neuen, weltraumgestützten Raketenabwehrsystems, die so genannte Strategic Defense Initiative (SDI). Die geplanten Laser- oder Teilchenstrahlenwaffen sollten in der Lage sein, feindliche Raketen in verschiedenen Flugphasen abzufangen und zu zerstören. Auch dieses Projekt wurde von Reagans Nachfolgern eingestellt, wenngleich am 10. Mai 1984 ein Test mit bescheidenerer Zielsetzung glückte: Eine Abfangrakete zerstörte den Gefechtskopf einer ballistischen Rakete 180 Kilometer vor dem programmierten Ziel.
Das Raketenabwehrsystem EKV verfolgt weniger ehrgeizige Ziele als Reagans Star-Wars-System. Letzteres sollte sämtliche feindlichen Raketen während ihres Flugs in den oberen Schichten der Atmosphäre mittels weltraumbasierter Systeme orten und ausschalten, was wohl nur unvollständig gelungen wäre. Das EKV-System hingegen besteht aus Boden-Luft-Raketen, deren Steuerung mit den Flugbahndaten feindlicher Raketen gefüttert wird, die amerikanische Beobachtungssatelliten zur Erde funken. Das EKV-System soll auch keineswegs das gesamte Territorium der Vereinigten Staaten schützen, sondern nur ausgewählte, potentiell bedrohte Gebiete - also Teile des amerikanischen Staatsgebiets selbst oder als besonders wichtig geltende Areale verbündeter Staaten.
ZIEL ist die Neutralisierung potentieller Raketenangriffe seitens der Schwellenmächte oder „emerging powers“, wie es im neueren Militärjargon heißt. In der Tat zeichnet sich die neuere militärstrategische Entwicklung in der Welt dadurch aus, dass immer mehr Staaten ballistische Raketen stationieren. Wer immer über die nötige Spitzentechnologie verfügt, kann Raketen mit sehr großer Reichweite und beträchtlicher Zielgenauigkeit herstellen.
Hier ist im Wesentlichen an die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zu denken: die Vereinigten Staaten, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Aber auch anderen Staaten - darunter Indien, Japan, Israel, Brasilien, Ukraine, Irak, Iran und möglicherweise Syrien - ist es gelungen, Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite bis zu 1 000 Kilometern herzustellen, obwohl das 1987 verabschiedete Raketentechnologie-Kontrollregime (MTCR) den Transfer ballistischer Raketentechnologie untersagt. Oft wurden dabei einfach Raketenmodelle der Großmächte weiterentwickelt, beispielsweise die sowjetischen Systeme Scud und SS 1 (Reichweite unter 300 Kilometer), die chinesische M 11, aber auch bestimmte US-Kurzstreckenraketen, deren Technologie bekannt ist. Nur Nordkorea soll im Begriff sein, Langstreckenraketen vom Typ Taepo-Dong 2 (mit einer Reichweite von rund 6 000 Kilometern) zu produzieren.
Die Umsetzung von Präventivmaßnahmen gegen tief fliegende Marschflugkörper wäre ein äußerst komplexes Unterfangen. Das neue Raketenabwehrsystem der USA richtet sich, sollte es denn beschlossen werden, gegen ballistische Mittel- und Langstreckenraketen, namentlich gegen die Raketensysteme der so genannten „rogue states“, in denen die USA heute ihre möglichen Feinde sehen: Iran, Libyen, Irak, vielleicht auch Syrien.
Manche Beobachter wundern sich, dass die US-Verteidigungspolitik ein derart schwieriges, langwieriges und kostspieliges Unternehmen in Angriff nimmt, wo doch die weltweite militärische Überlegenheit der USA völlig außer Zweifel steht. Aber sie vergessen, dass die US-Amerikaner die weltweite Überlegenheit nicht nur im Allgemeinen anstreben, sondern für jeden denkbaren Fall, für jede Art der Bedrohung und für jede Form von Konflikt.1 So wird etwa in der amerikanischen Militärliteratur mit Blick auf den Kosovo kritisiert, dass die Konzentration ausreichender Truppenverbände auf dem Balkan zu viel Zeit in Anspruch genommen habe. Obwohl die USA Jahr für Jahr 20 Milliarden Dollar für Nachrichten-, Überwachungs- und Aufspürungstechnik ausgeben, haben die entsprechenden Systeme immer wieder versagt: So habe man weder die indischen Atomversuche im Mai 1998 noch den Abschuss einer nordkoreanischen Rakete im August 1999 vorausgesehen, noch den Fehltreffer - so es denn einer war - vermeiden können, der zur teilweisen Zerstörung der chinesischen Botschaft in Belgrad führte.
Verstärkte Verteidigungsanstrengungen erschienen daher dringend geboten. In der Tat nutzte die Clinton-Administration die jüngsten Haushaltsüberschüsse, um für das Haushaltsjahr 1999/2000 ein höheres Militärbudget vorzuschlagen, und der Kongress sattelte noch eins drauf. Mit einer Steigerung von 7 Prozent gegenüber dem Vorjahr beläuft sich der Militärhaushalt auf nunmehr 267,8 Milliarden Dollar. Vor allem der Bereich „Forschung und Entwicklung“ wird von dieser Erhöhung profitieren, so dass die USA ihren wissenschaftlichen und militärtechnischen Vorsprung weiter ausbauen werden. Sie behalten ihr strategisches Atomwaffenarsenal, das für jeden potentiellen Aggressor eine Abschreckung und Bedrohung darstellt. Sie behalten aber auch ihre luftgestützten “taktischen“ Atomwaffen, während Russland seit dem Doppelbeschluss vom September und Oktober 1991 auf diese Art von Atomwaffen verzichtet. Die USA betreiben also die Entwicklung eines neuen Raketenabwehrsystems, das geeignet ist, das Raketenpotential derjenigen „Schwellenmächte“ zu neutralisieren, die als potentielle Feinde gelten.
Damit verstoßen die Vereinigten Staaten, wie zumindest ihre westlichen Partner meinen, gegen ein internationales Abkommen, den ABM-Vertrag über ballistische Raketenabwehr von 1972. Auch Russland lässt es an Warnungen nicht fehlen. Am Rand der Osloer Gespräche überreichte der russische Ministerpräsident Wladimir Putin am 2. November 1999 US-Präsident Clinton einen Brief des russischen Staatspräsidenten, in dem Jelzin seinen amerikanischen Kollegen vor den „äußerst gefährlichen“ Konsequenzen des geplanten Raketenabwehrsystems warnt. Russland werde sich jeder Revision des ABM-Vertrags widersetzen, die den „Rüstungskontrollprozess“ in irgendeiner Weise gefährde.2
Nicht weniger deutlich lehnt Frankreich den amerikanischen Vorstoß ab. Seit die Strategie der nuklearen Abschreckung gilt, haben sich sämtliche Staatspräsidenten und Regierungschefs gegen jede Initiative gewandt, die die Abschreckungswirkung der ballistischen Interkontinentalraketen Frankreichs und damit ihre Fähigkeit, in feindlichen Luftraum einzudringen, unterminieren könnte. Dies war die Position Frankreichs, als Reagan sein weltraumgestützes Raketenabwehrsystem ankündigte, und dies ist die heutige Position im Hinblick auf das neue EKV-System.
China hat gegen das EKV-System ebenfalls einen diplomatischen Vorstoß unternommen. Auf der UN-Abrüstungskonferenz, die seit Anfang 1999 wieder tagt, erklärte Peking ganz offen, die Pläne der USA stellten einen Verstoß gegen den ABM-Vertrag von 1972 dar. Gleichzeitig regte China die Einrichtung eines Sonderausschusses an, der geeignete Maßnahmen zur Verhütung eines Rüstungswettlaufs im Weltraum prüfen soll.3 Die Fortsetzung der EKV-Forschung und die erfolgreichen Tests vom 3. Oktober 1999 zeigen jedoch, dass der Vorschlag sich wohl kaum durchsetzen wird.
Andererseits spricht aus dem chinesischen Vorstoß die Befürchtung, dass womöglich Asien als eines der ersten Einsatzgebiete für das amerikanische Raketenabwehrsystem ausersehen ist. So könnte etwa Japan auf einen Schutz gegen die ballistischen (Atom-)Raketen Nordkoreas pochen, obgleich diese Waffe kaum einsatzbereit sein dürfte. Eine Installation auf Taiwan könnte von China als direkter Affront und konkrete Bedrohung der anvisierten Wiedervereinigung interpretiert werden. Und die hat für China, auch wenn sie erst in ferner Zukunft möglich sein wird, höchste Priorität.
In jedem Fall wird die Stationierung eines amerikanischen Raketenabwehrsystems unweigerlich zu einem neuen Rüstungswettlauf im Bereich der davon betroffenen Waffensysteme führen. Dies gilt sowohl für die strategischen Interkontinentalraketen - wovon zumal die alten Atommächte Russland und China betroffen wären - als auch für die Kurz- und Mittelstreckenraketen der „emerging powers“.
Die amerikanischen Rüstungsinitiativen sind symptomatisch für die allgemeine Ausrichtung der US-Verteidigungspolitik und die in Washington vorherrschende Mentalität. Über alle Parteigrenzen hinweg teilen die politischen und militärischen Entscheidungsträger die Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten freie Hand brauchen, um auf jede denkbare Bedrohung ihrer weltweiten Interessen antworten zu können. Allem Anschein nach sehen sie dabei auch in den Bestimmungen eines internationalen Abkommens kein unüberwindliches Hindernis. Wie von Regierungsseite und aus halbamtlichen Quellen wiederholt verlautete, bedarf der ABM-Vertrag 27 Jahre nach seiner Unterzeichnung einer “flexiblen“ Auslegung. In diesem Sinn verabschiedeten Senat und Repräsentantenhaus im März 1999 ein Verteidigungsprogramm, das sich explizit gegen die Bedrohung durch die Raketensysteme der „rogue states“ richtet und den Startschuss für die Entwicklung des EKV-Systems und den gelungenen Test vom 3. Oktober darstellte.
Auch die Ablehnung des Vertrags über ein umfassendes Atomtestverbot (CTBT) durch den Senat am 13. Oktober deutet darauf hin, dass sich die USA mit Blick auf weitere Abrüstungsschritte nicht vertraglich binden wollen. Manche Gegner des Vertragswerks haben dabei ihre Ablehnung durchaus paradox begründet: Schließlich sei nicht auszuschließen, dass andere Staaten insgeheim Versuche durchführen, während sich die Vereinigten Staaten an ihre Verpflichtungen halten.
Weit wahrscheinlicher ist allerdings der umgekehrte Fall. Die Erfahrung hat gezeigt, dass man in den Tiefen des amerikanischen Territoriums und im Schutz der eigens angelegten Silos unbemerkt Experimente mit geringem seismologischen Ausschlag durchführen kann, die für die Entwicklung zielgenauerer Nuklearsprengköpfe von großem Nutzen sind. Überdies haben die Vereinigten Staaten einen erheblichen technologischen Vorsprung bei der Entwicklung und Nutzung computergestützter Simulationssysteme, die zumindest bis zu einem gewissen Punkt die vom CTBT-Vertrag verbotenen Atomversuche ersetzen können.
Den Ausschlag gaben wieder einmal innenpolitische Erwägungen. Da die republikanische Opposition die Ablehnung des Vertragswerks in ihre Offensive gegen die Clinton-Administration einbaute, votierten mehrere republikanische Senatoren gegen das Abkommen, obwohl sie es eigentlich befürworten. Deutlicher tat im September 1999 George W. Bush, der Favorit für die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner, seine Ablehnung kund: Er „verpflichte sich feierlich, das amerikanische Volk und dessen Verbündete zu schützen, anstatt einen Rüstungskontrollvertrag fortzuschreiben, der vor nahezu dreißig Jahren unterzeichnet wurde“4 .
US-Präsident Clinton wird sich im Juni nächsten Jahres entscheiden müssen, ob er die Stationierung des EKV-Systems genehmigen will. Die Frage ist, ob er es überhaupt noch riskieren kann, nein zu sagen. In jedem Fall wird das EKV-System den Präsidentschaftswahlkampf im November 2000 beherrschen.
dt. Bodo Schulze
*Journalist, Autor u. a. von „De Gaulle“, erscheint im Januar 2000 (Librairie Perrin, Paris).