17.12.1999

Ein ganz gewöhnlicher Putsch

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Ein ganz gewöhnlicher Putsch

Von JEAN-LUC RACINE *

Am 12. Oktober erlebte Pakistan den vierten Militärputsch innerhalb von 41 Jahren. Der Tradition des Landes entsprechend handelte es sich um einen gewaltlosen Putsch, der von der Bevölkerung und den Medien eher positiv aufgenommen wurde, zumal sich die Regierung des abgesetzten Premierministers Nawaz Sharif vor dem Hintergrund der allumfassenden Krise in eine mehr oder weniger korrupte Autokratie verwandelt hatte. Es handelte sich zum einen um eine Regierungskrise, denn Pakistan gelang es nicht, eine halbwegs funktionierende parlamentarische Demokratie zu etablieren; zum anderen um eine Wirtschaftskrise, denn das überschuldete Land stand am Rande des Bankrotts; zum dritten um eine ideologische Krise, denn der Staat verstand sich nach der Teilung des indischen Subkontinents von 1947 als Zufluchtsort der indischen Muslime. Es war ihm aber weder gelungen, einen nationalen Konsens über den institutionellen Ort des Islam in der eigenen Gesellschaft herzustellen, noch einen Modus für das gedeihliche oder zumindest konfliktfreie Zusammenleben mit dem großen indischen Nachbarn zu finden. Hinzu kam eine Schwächung der Diplomatie, die einerseits auf die Afghanistanpolitik Islamabads und die Unterstützung der Taliban zurückzuführen war, andererseits auf das Scheitern der Politik im Kaschmirkonflikt, der das Land im Frühjahr 1999 an den Rand eines vierten Krieges mit Indien brachte.1

Der Staatsstreich von Armeechef General Pervez Musharaf darf nicht als Ausdruck reiner Machtgier verstanden werden. Die Rückkehr der Militärs an die Macht ist nur aus dem Zusammenhang der allgemeinen Krise zu verstehen. Schon seit Jahrzehnten üben die Militärs – wenn sie nicht gerade selbst die Staatsführung übernommen haben – die Kontrolle über die Zivilregierung aus und bestimmen die Entscheidungen in den Bereichen, an denen sie beteiligt oder die ihnen vorbehalten sind. Dazu gehören die Atomindustrie und die Sicherheitspolitik – vor allem in Bezug auf Afghanistan und Kaschmir, die bevorzugten Operationsgebiete der mächtigen Geheimdienste der Inter Service Intelligence (ISI), an deren Spitze von jeher ein Militär steht – sowie die Außenpolitik.

Der Rücktritt von Generalstabschef Jehangir Karamat Ende 1998 machte deutlich, dass die zivilen Kräfte eine Vormachtstellung errungen hatten. Karamat hatte die Situation des Landes kritisiert (und damit die Unzulänglichkeit der Regierung) und gefordert, dem Militär im Rahmen eines Nationalen Sicherheitsrates mehr Einfluss auf politische Entscheidungen einzuräumen. An seine Stelle berief Nawaz Sharif den General Musharaf, der seinem militärischen Rang nach eigentlich nicht der nächstliegende Kandidat gewesen wäre und zudem als Mohajir (zugehörig also jener Gruppe, die nach 1947 aus Indien in das neu gegründete Pakistan kam) nicht der Punjabi-Mehrheit angehörte, die unter den ranghöheren Beamten und den hohen Militärs dominiert. Offensichtlich rechnete Sharif darauf, einen solchen Mann gut unter Kontrolle halten zu können.

Doch durch eine Reihe von Ereignissen verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Nawaz Sharif und dem Generalstab. Mit Unterstützung der pakistanischen Armee hatte die islamistische Guerilla Ende April die Demarkationslinie überschritten, welche den pakistanischen Teil Kaschmirs vom indischen trennt. Der taktische Erfolg dieser Invasion führte jedoch zu einer kläglichen diplomatischen Kapitulation. Der Premierminister reiste überraschend nach Washington und stimmte dort am 4. Juli 1999 in einer gemeinsamen Erklärung mit Präsident Clinton dem Rückzug der Eindringlinge zu, wobei er die bis dahin bestrittene direkte Verwicklung der pakistanischen Armee eingestand.

Schlimmer noch: Am 13. September erklärte Naiz Naik – während des Kargilkonflikts Geheimbeauftragter der Regierung Sharif für die Verhandlungen mit Indien – gegenüber der Presse, dass der Konflikt den Militärs erlaubt habe, den Annäherungsprozess zu unterminieren, der durch die am 21. Februar in Lahore abgegebene gemeinsame Erklärung von Nawaz Sharif und dem indischen Premier Atal Vajpayee in Gang gesetzt worden war. Die Verhandlungen seien damals, so Naiz Naik, so weit gediehen gewesen, dass eine Lösung des Kaschmirkonflikts innerhalb weniger Monate zu erwarten gewesen wäre. Damit wurde der Armee die alleinige Verantwortung für das gefährliche und erniedrigende Abenteuer von Kargil zugeschrieben; gleichzeitig wurde sie durch die Behauptung bloßgestellt, dass die beiden Länder einen Vertrag angestrebt hätten, über den der Generalstab nicht informiert worden sei. Diese Äußerungen wurden von Naiz Naik anschließend dementiert.

EINE zweite Ursache des Konflikts war die Einmischung der Regierung bei der Ernennung von Militärs. Neben konkreten Fällen, in denen die Autorität des Generalstabschefs in Frage gestellt wurde, ging es um den Vorwurf, Premierminister Sharif habe versucht, die Armee zu politisieren und dadurch zu spalten. Ein solches Klima sei der Lösung von wichtigen Fragen der Verteidigung nicht gerade zuträglich. Seit langem wird Pakistan vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gedrängt, seine unverhältnismäßig hohen Verteidigungsausgaben (6 Prozent des BNP) zu kürzen. Aber gleichzeitig ist Indien, das im Mai 1998 das nukleare Wettrüsten in der Region eröffnet hatte, im Begriff, sein strategisches Potential erheblich auszubauen. Wie soll sich Pakistan dazu verhalten? Sollte es auf Druck der USA das Teststoppabkommen (CTBT) unterzeichnen? Man unterstellt Nawaz Sharif, den USA hinsichtlich des CTBT sowie in der Afghanistanpolitik und der Affäre um Ussama bin Laden zu sehr entgegengekommen zu sein.2

Nawaz Sharif erlebte am Ende einen rapiden Verlust seines politischen Einflusses. In seinem Machtstreben hatte er nacheinander den obersten Gerichtshof, das Präsidentenamt der Republik und das Parlament mundtot gemacht und damit unbesonnen die zivilen politischen Gegenkräfte unterdrückt. Er mag ein tüchtiger Geschäftsmann sein, seine Wirtschaftspolitik erwies sich jedoch als Fiasko: Der Schuldendienst paralysierte das Staatsbudget, alle ökonomischen Indikatoren sprachen für eine Krise, gleichzeitig schwächten Korruption, staatliche Wuchergebühren, Steuerhinterziehung und Nepotismus das System bis hin zu den Banken, die gezwungen waren, Kredite zu vergeben, welche niemals zurückbezahlt wurden. Die von Washington nach den Atomversuchen von 1998 verhängten Sanktionen schwächten das Land zusätzlich. Die öffentliche Ordnung wird mit Füßen getreten, in Karachi, wo die politischen Parteien und mafiöse Gruppen ihre Konflikte mit blutiger Gewalt austragen, ebenso wie im Punjab, wo sich sunnitische und schiitische Sekten bekriegen. Sogar der nationale Zusammenhalt ist geschwächt, weil die Provinzen Sind und Belutschistan sich als Opfer des übermächtigen Punjab fühlen, der Hochburg der Brüder Sharif: auf der einen Seite Nawaz, der Premierminister, auf der anderen Shabhaz, der (inzwischen ebenfalls gestürzte) Ministerpräsident der Provinz Punjab.

Die Opposition, durch Korruptionsvorwürfe gegen ihre derzeit im Londoner Exil lebende Führerin Benazir Bhutto angeschlagen, versuchte zu reagieren, indem sie eine Koalition bildete, die Große Demokratische Allianz (GDA), die einen politischen Kurswechsel forderte. Obwohl sie der GDA nicht angehören, riefen auch die islamistischen Parteien zum Sturz der in Misskredit geratenen Regierung auf. Die Gerüchte häuften sich in einem Maße, dass Washington am 20. September die Militärs warnte: „Wir werden uns deutlich gegen jeden Versuch wenden, einen Machtwechsel mit nicht verfassungsgemäßen Mitteln herbeizuführen.“3

Die USA haben, wie auch eine Reihe anderer Staaten, den Putsch verurteilt und zur Rückkehr der parlamentarischen Demokratie aufgerufen, doch dürften sie geneigt sein, dem neuen starken Mann in Pakistan eine Chance zu geben. Diese realistische Haltung hat einerseits mit der Person und dem Programm von General Musharaf zu tun, andererseits reflektiert sie die schlechten Erfahrungen mit der bisherigen demokratischen Praxis.

General Musharaf gibt sich das Image eines gemäßigten Politikers, der sich zum „Gegenschlag“ gegen eine Zivilregierung gezwungen sah, die „die letzte stabile Institution Pakistans“ angegriffen habe. Er hat wohlweislich nicht das Kriegsrecht verhängt, sondern begnügte sich mit dem Ausnahmezustand, wobei die Grundrechte und die Pressefreiheit weiter gelten, gleichzeitig aber die Arbeit des Parlaments suspendiert und die Verfassung außer Kraft gesetzt werden.

In seiner Erklärung zur allgemeinen Politik vom 17. Oktober 1999 distanzierte Musharaf sich deutlich vom Islamismus und forderte die Ulema auf, sich auf das wahre Gesicht des Islam zu besinnen („Toleranz, Brüderlichkeit, Frieden, Fortschritt“) und sich von „jenen Elementen zu trennen, die die Religion für ihre spezifischen Interessen missbrauchen“. Er brachte auch den Wunsch nach einer „wirklich repräsentativen Regierung“ in Kabul zum Ausdruck. Einem türkischen Journalisten verriet er seine Bewunderung für Atatürk, womit er sich sogleich den Zorn der Jamaat-i-Islami (der bedeutendsten islamischen Partei) zuzog, die verkündete, sie werde es nicht zulassen, dass jemand dem Kemalismus und dem Laizismus den Weg ebne. Gegenüber Indien und der internationalen Gemeinschaft nahm General Musharaf eine versöhnliche Haltung ein; er rief zur Wiederaufnahme des Dialogs auf, mahnte zur Zurückhaltung in der atomaren Aufrüstung und zog die an der indisch-pakistanischen Grenze stationierten Truppen zurück. In der Kaschmirfrage allerdings blieb Musharaf hart, daher die extreme Zurückhaltung in Neu-Delhi, wo man den „Mann von Kargil“ nach seinen Taten beurteilen will: man erwartet von ihm nicht weniger als eine Beendigung der subversiven Infiltration.

Die Armee war zwar in der Lage gewesen, auf den Coup des Premiers gegen den Generalstabschef zu reagieren. Eine politische Alternative hatte sie jedoch nicht parat. Daher dauerte es eine Weile, bis sie sich zwischen den beiden Alternativen – eine Regierung der nationalen Einheit, wie sie sich die Parteien erhofften, oder eine Übergangsregierung der Militärs – schließlich für die zweite entschied und eine Regierungsmannschaft aus Technokraten und Militärs aufstellte. Neben den Oberbefehlshabern der drei Waffengattungen bilden vier Zivilisten unter dem Vorsitz von General Musharaf den nationalen Sicherheitsrat, der nun das Land regiert. Dabei handelt es sich keineswegs um unbekannte Persönlichkeiten: Zwei von ihnen hatten bereits bei früheren Militärregierungen ein Amt inne. Der dritte ist der ehemalige Gouverneur der Pakistanischen Zentralbank unter der Regierung Sharif, unter dessen Amtsführung der Verfall der Rupie und der Anstieg des Haushaltsdefizits zu verzeichnen war.

Die Regierung besteht aus nur drei Ministern: Der Finanzminister wurde direkt aus New York eingeflogen, wo er Vizepräsident von Citibank war; der Justizminister ist ein Verfassungsexperte und bekleidete drei Mal das Amt des Generalstaatsanwalts; schließlich der Außenminister, ein „Falke“, was das Verhältnis zu Indien angeht, aber auch ein gewiefter Diplomat, der nach dem Krieg von 1971 den Vertrag von Shimla zwischen Indien und Pakistan ausgehandelt hatte, in dessen Folge Bangladesch ein souveräner Staat wurde. Die Militärs haben also sowohl in den nationalen Sicherheitsrat als auch in die Regierung Männer (und eine Frau) bestellt, die nicht in Affären verwickelt waren und Erfahrung mitbringen, gewiss aber keine Mannschaft darstellen, die für einen grundlegenden Wandel steht.

Dass das Volk den Putsch positiv aufgenommen hat, erklärt sich durch den wachsenden Misskredit, in den die gestürzte Regierung geraten war, und durch die Enttäuschungen, die ihre Scheindemokratie mit sich gebracht hatte. Doch die Probleme, die sich unter Nawaz Sharifs Regierung zugespitzt haben, reichen viel weiter zurück. Zweiundfünfzig Jahre nach der Staatsgründung ist Pakistan immer noch auf der Suche nach seiner Identität als Nation und als Staat. General Musharaf ist sich dieser Problematik bewusst und trägt ihr in seinem ehrgeizigen Programm Rechnung: Er möchte neues Selbstvertrauen schaffen, die Föderation und den nationalen Zusammenhalt stärken, die Wirtschaft sanieren, die öffentliche Ordnung und die Rechtsprechung wiederherstellen, die Administration entpolitisieren und die Regierenden der Rechenschaftspflicht unterwerfen. Möglicherweise wird es ihm bis zu einem gewissen Punkt gelingen, den Augiasstall zu reinigen und jene zur Verantwortung zu ziehen, die sich an öffentlichem Eigentum bereichert haben, möglicherweise auch, Säuberungen innerhalb der Administration vorzunehmen und die politische Klasse von korrupten Elementen zu befreien sowie die Wirtschaft wieder anzukurbeln, ja sogar eine Verfassungsreform durchzusetzen. Doch steht ihm dazu nur eine beschränkte Zeit zur Verfügung, auch wenn er keinen genauen Zeitpunkt für die Rückkehr zu einer Zivilregierung genannt hat.

Gerechnet wird mit einem Übergangszeitraum von zwei bis drei Jahren. Aber welche Regierung kommt danach? Die Armee füllt nicht einfach das Vakuum aus, das von einem manipulierten, ineffizienten und unglaubwürdig gewordenen politischen System hinterlassen wurde, und sie ist nicht das, was sie zu sein vorgibt: der letzte Garant für „Stabilität, Einheit und Unverletzlichkeit des Landes“. Sie ist nicht neutral, sondern selbst Partei innerhalb von etablierten Machtstrukturen, die seit den fünfziger Jahren eine Elite von Großgrundbesitzern, Unternehmern, hohen Beamten und Offizieren begünstigt, auf Kosten des Mittelstandes und der kleinen Leute, die in einem Netz von Abhängigkeiten und Klientelismus gefangen bleiben.

Wenn das neue Regime es ernst meint mit seinem Vorsatz, das Land zu sanieren, dann müsste es auch die Beziehung zwischen Armee und Nation neu definieren und seine Politik gegenüber Afghanistan und Kaschmir überdenken, folglich auch die Drogen- und Schmugglerringe zerschlagen, die Geheimdienste kontrollieren und die Koranschulen reformieren, die unter dem Einfluss bewaffneter Extremisten stehen. Jene Kräfte in Pakistan, die fordern, man müsse endlich Prioritäten setzen und sich auf die Wirtschaft, den Sozialbereich und die Einrichtungen für die Grundversorgung (Gesundheit, Bildung, Trinkwasser etc.) konzentrieren, wissen nur zu gut, dass man dafür die Militärausgaben senken müsste – während sich zugleich das indisch-pakistanische Wettrüsten bei den Atom- und konventionellen Waffen weiter beschleunigt. Die Armee, die den legitimen Erfordernissen der nationalen Sicherheit Rechnung zu tragen hat, müsste so den Ast absägen, auf dem sie sitzt.

Wenn die Armee an der drängenden Aufgabe scheitert, das Staatsschiff wieder flottzumachen, könnte die Verlockung, an der Macht zu bleiben und die Wahlen hinauszuzögern, groß sein. Gelingt es ihr, die elementaren Aufgaben zu erfüllen, dann kann sie den Rückzug von der Macht antreten. Doch die entscheidende Frage bleibt: Es gilt, die Grundlagen neu zu überdenken, auf denen der Staat und die Nation beruhen, die Fundamente der politischen und gesellschaftlichen Macht, der Wirtschaftspolitik und der regionalen Beziehungen. Ein neuerlicher militärischer und in der Folge ziviler Misserfolg würde katastrophale Konsequenzen haben, die Anarchie könnte zum Bürgerkrieg, sogar zu einem Zerfall des Landes führen, und im Gegenschlag wieder eine Militärregierung, diesmal jedoch für längere Zeit, etablieren. Es gibt auch Anhänger einer neuen Ordnung, die eine andere Alternative vorschlagen: eine islamistische Revolution, getragen von jenen jungen Offizieren, die der neue pakistanische Regierungschef in seiner Rede vom 17. November als „Frömmler“ kritisierte, die „ein negatives Bild des Islam erzeugen“. Welche Glaubwürdigkeit würde ein solches Regime haben, und welche Nuklearpolitik würde es vertreten?

dt. Andrea Marenzeller

* Forschungsdirektor am Centre d’études de l’Inde et de l’Asie du Sud (CNRS-EHESS).

Fußnoten: 1 Vgl. Negarajan V. Subramanian, „Ein nuklearer Schatten über Kaschmir“, Le Monde diplomatique, Juli 1999. 2 Ussama bin Laden, der islamistische Milliardär aus Saudi-Arabien und Volksfeind Nr. 1 der USA, gilt als verantwortlich für die beiden antiamerikanischen Attentate am 7. August 1998 in Tansania und Kenia. Der im Exil in Afghanistan lebende Bin Laden unterstützt die aufständischen Muslime im Kaschmirkonflikt gegen Indien. Vgl. Ahmed Rashid, „Allahs Goldene Horde“, Le Monde diplomatique, November 1999. 3 Le Monde, 14. Oktober 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von JEAN-LUC RACINE