17.12.1999

Die Horizonte, die uns rufen

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Die Horizonte, die uns rufen

POLITISCHES ENGAGEMENT UND SPIRITUELLE NEUGIER

„Unser Leben beginnt stets in einer großartigen Dämmerung.“ (René Char)

Von BERNARD GINISTY *

DIE „Sinnsuche“ ist zu einem Gemeinplatz geworden. In ihr äußert sich eher ein Unbehagen als ein effektives Bemühen um die Rekonstruktion von kollektiven Sinngehalten. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entledigte sich die Gesellschaft der klerikalen Kräfte, die auf ihr lasteten. Heute erleben wir nach den Worten von Marcel Gauchet „die Erschöpfung der intellektuellen und spirituellen Kraftreserven des kämpferischen Laizismus“1 . Auch die Ideologien, die in diesem Jahrhundert die Massen mobilisiert haben, sind am Ende. Im Grunde haben sie alle nur ein einziges Dogma variiert: „Trachtet nach dem Reich der Wirtschaft, so wird euch das Übrige schon zufallen.“ Dieses Dogma galt im Osten wie im Westen. Umstritten war lediglich das Vehikel, mit dem es umzusetzen wäre: Im Osten setzte man auf die autoritäre Planwirtschaft, im Westen auf „die unsichtbare Hand des Marktes“. Beide Modelle sind in die Krise geraten. Das östliche ist darüber zusammengebrochen. Doch im Westen wird das Credo weitergebetet.

Weil der planwirtschaftliche Sozialismus des Ostblocks zum Gulag, zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zur Demoralisierung ganzer Völker geführt hat, gilt jedes politische Vorhaben, das die Wirtschaft einer Lenkung durch den Menschen unterstellen will, von vornherein als ruinös. Dass sich die sozialen Härten verschärfen und immer mehr Menschen aus dem System herausfallen, wird verharmlost und überspielt mit dem Hinweis auf die strahlende Zukunft, die im Takt der Finanzmärkte besungen wird. In den Hymnen auf die Modernität wird uns versichert, der Liberalismus sei nun einmal der neue Horizont unserer Zeit.

Diese idyllische Vision wird Lügen gestraft durch die Ereignisse der jüngsten Zeit. Unter dem Mantel der Modernität sehen wir überall auf der Welt ein neues Clanwesen entstehen. Schlimmer noch: Konflikte wie im Kongo oder in Afghanistan offenbaren eine Art objektive Allianz zwischen Tribalismus, Fundamentalismus und multinationalen Strategien. Für Jean Baudrillard stellt sich die Situation so dar: „Die siegreiche Globalisierung macht Tabula rasa mit allen Unterschieden und Werten und begründet damit eine vollkommen indifferente (Un-)Kultur. Ist das Universale erst ausgelöscht, bleibt nur noch eine globale, allmächtige Technostruktur übrig, die sich gegenüber den Erscheinungen des Besonderen, die in den Urzustand zurückgesunken und sich selbst überlassen sind, als allmächtig erweist.“2 In dieser Phase des Zusammenbruchs der verbindlichen kollektiven Diskurse haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, „die ein unvergleichliches Detailwissen über sich selbst aufweist, sich als Gesamtzusammenhang aber völlig unverständlich bleibt“.3

Nach dem theologischen haben wir nun angeblich auch das politische Zeitalter hinter uns gebracht und sind ins Zeitalter des Managements eingetreten. Alle Mühen des Denkens, des Kämpfens, der Erziehung und der Spiritualität, die dem Menschen die Würde eines selbstverantwortlichen, nicht auf seinen Clan, seine Religion oder seine Zunft reduzierbaren Bürgers verleihen sollten, sind damit in Frage gestellt. Das totale Auseinanderfallen von Wirtschaft und Gesellschaft, von Ware und menschlicher Bindung führt zu „barbarischen“ Verhältnissen. Die Universalität des Gemeinwohls steht nicht mehr über den Einzelinteressen, die mit ihren Clanstrategien die Gesellschaft überwuchern.

Da kollektive Zukunftsvisionen völlig fehlen, ist das Feld frei für alle Arten von Rückschrittlichkeit. Auf politischer Ebene erleben wir in Europa den Vormarsch der nationalistischen Parteien. Ähnlich düster sieht es auf religiöser Ebene aus.4 Die iranischen Mullahs und die afghanischen Taliban stehen laufend in den Schlagzeilen. In Indien zeigt sich der Hinduismus anfällig für extreme religiöse Intoleranz. Man sieht, wie sich christliche Kirchenführer durch ihre Rolle in den ethnischen Kämpfen Ruandas diskreditiert haben, oder wie orthodoxe Bischöfe mit dem verbohrtesten Nationalismus paktieren. Und dass sich eine der beiden großen Parteien der amerikanischen Demokratie durch die religiöse Intoleranz der „Christian majority“ instrumentalisieren ließ, zeigt uns nur allzu drastisch die Gefahren, die von einem christlichen Fundamentalismus ausgehen.

Sollen wir also in dumpfe Hoffnungslosigkeit versinken, in den Tag hinein leben und uns nur noch, soweit wir das Geld dazu haben, die von der Werbung angepriesenen individuellen Genüsse verschaffen? Bleibt uns nichts anderes übrig, als uns dem Einheitsparadigma des Marktes zu überantworten? Haben wir, nur weil wir von der Geschichte betrogen wurden, endgültig jedem politischen Engagement abgeschworen und, aus Abscheu vor religiösem Fundamentalismus und Klerikalismus, jede spirituelle Neugier eingebüßt? Nur weil wir uns einmal einen Anfall von heiliger Einfalt geleistet haben, sollten wir nicht gleich die Einfalt des Wirtschaftsliberalismus vergöttern. Das hieße, die Berufung an den Nagel hängen. Nur weil man sich von alten Götzen lossagen musste, sollte man nicht völlig unempfänglich für Impulse werden, die aus „unserem geheimnisvollen Inneren“ entspringen und die „nicht immer nur auf Verdauung aus sein und uns dafür einspannen“5 sollen, wie es Antonin Artaud kraftvoll ausdrückt.

In ihrem Buch „Götze Markt“ berichten Hugo Assmann und Franz J. Hinkelammert, dass Unternehmervereinigungen wie etwa das American Enterprise Institute über spezielle Abteilungen verfügen, die sich mit den theologischen Implikationen der Wirtschaft befassen. Sie schreiben: “Wer nicht auch seine götzendienerische Seite untersucht hat, versteht nichts vom Kapitalismus.“ Die Faszination am Geld produzierenden Geld sei lediglich eine neue Art der Vergötterung: „Wirtschaft ist im Grunde nichts anderes denn Naturalisierung der Geschichte, denn natürlich erscheinen zu lassen, was geschichtliches Produkt menschlichen Tuns ist. Alle gar zu augenfälligen Götter sind in der Regel Götzen, auch im Raum des Katholizismus. (...) Theologen der Befreiung sagen, der befreiende Gott sei kein Gegenstand der Ergriffenheit. Der befreiende Gott ist Transzendenz, nach der wir suchen, und Horizont, der uns ruft.“6

Für die Religion - nach Hegel auch für die Philosophie - ist Abraham das Leitbild. Er verlässt sein Land, seine Familie und seine Götter, um ins Ungewisse aufzubrechen. In der Übersetzung von Marie Balmary7 , die sich sehr eng ans Hebräische hält, hört Abraham nicht nur: „Verlasse dein Vaterland“, sondern auch: „Gehe dir entgegen!“ Wer alles aufzugeben bereit ist, geht auf den anderen zu, und auf sich selbst. In seiner mystischen Lyrik findet Johannes vom Kreuz einen glücklichen Ausdruck für diese “Wanderschaft“, für die der Suchende eine fröhliche Gelassenheit mitbringen muss: „Sein Wunsch ist ein Unbestimmtes / das unerwartet Gefundene.“

In der jüdisch-christlichen Tradition verwirklicht sich das Verhältnis zu Gott nicht im Ergriffensein durch denjenigen, dessen Name unaussprechlich ist, sondern in der Beziehung zu anderen, eine Beziehung, die eine konkrete Kritik der Götzenbilder mit sich bringt. Diese werden in der Bibel als „Werke von Menschenhänden“ bezeichnet, und sie fallen wie ein Bumerang als Unheil auf den Menschen zurück. Der Götze ist erstens dumm und zweitens böse. Dumm, weil er jedes schöpferische Denken über die Welt ausschließt, das sich außerhalb des Einheitsdenkens und der „Sachzwänge“ der Technokraten bewegt. Böse, weil er uns dazu verleitet, das Unglück der anderen als unvermeidlich zu betrachten.

Die zivile Gesellschaft ist eine der wichtigsten Ebenen der Auseinandersetzung mit diesen Götzen. Sie reagiert ebenso gegen die Verlockungen von Macht und Reichtum wie gegen die Intoleranz der Religionen. Wenn es einen Gott gibt, schrieb ein protestantischer Pastor des vorigen Jahrhunderts, so ist er ein Gott für alle Menschen, er ist also areligiös. In die Religion wird der Mensch hineingeboren, sie ist die Muttersprache des Sinns und spricht im Menschen die sensibelsten Themen an: Angst, Schuldbewusstsein, zwischenmenschliche Beziehungen, Weltbild, Leben und Tod. Durch Religion kann man ebenso gut zum fanatischen Eiferer werden wie sich auf das Wagnis einlassen, die überkommenen Überzeugungen aufzugeben. „Wir kommen zu spät für die Götter und zu früh für das Sein. Der Mensch ist ein vom Sein begonnenes Gedicht“, sagt Heidegger.

Keine Institution, keine politische Partei, keine Kirche und keine charismatische Persönlichkeit entbindet uns von der persönlichen Auseinandersetzung mit Werten, die ein Wagnis lohnen, oder mit sozialen Bewegungen, die gleichbedeutend sind mit neuen Aufbrüchen. Die Zukunft liegt weder in der Wiederholung des Vergangenen noch in der geschäftsmäßig betriebenen Kritik unserer Götzenkulte. Sie ist das, was wir gemeinsam beginnen werden. Und es erwartet uns, wovon der Dichter und Widerstandskämpfer René Char spricht: „das persönliche Abenteuer, das uns zugedachte Abenteuer, die gemeinsame Erfahrung unseres Aufbruchs in neue Tage“.

dt. Josef Winiger

* Herausgeber von „Témoignage chrétien“.

Fußnoten: 1 Marcel Gauchet, „La religion dans la Démocratie. Parcours de la laïcité“, Paris (Gallimard) 1998, S. 29. 2 Jean Baudrillard, „Le paroxyste indifférent“, Paris (Grasset) 1997, S. 32. 3 Marcel Gauchet, op. cit., S. 127. 4 Vgl. „L‘offensive des religions“, Manière de voir Nr. 48, November/Dezember 1999. 5 Antonin Artaud, „Das Theater und sein Double“, Aus dem Französischen von Gerd Henniger, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1975, S. 9. 6 Hugo Assmann und Franz J. Hinkelammert, „Götze Markt“, Übers. aus dem Portug. und Bearb. für die dt. Ausg.: Horst Goldstein, Düsseldorf (Patmos) 1992. 7 Marie Balmary, „Abraham ou le sacrifice interdit“, Paris (Grasset) 1995.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von BERNARD GINISTY