Im Geist des Imperiums
Von PHYLLIS BENNIS *
ALS der US-Senat Mitte Oktober 1999 die Unterzeichnung des Vertrags über ein umfassendes Verbot von Atomwaffentests (CTBT) ablehnte, interpretierten die Kommentatoren den Beschluss einmütig als Sieg der „neuen Isolationisten“. Damit lagen sie jedoch wieder einmal schief, denn die republikanische Senatsmehrheit ist keineswegs gegen das Prinzip der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Wäre die republikanische Rechte „isolationistisch“ gestimmt, würde sie die rund um den Globus stationierten US-Truppen nach Hause beordern und entlang der eigenen Staatsgrenzen stationieren. Sie würde die weltumspannenden Handelsnetze zerreißen und sich nicht mit dem Versuch begnügen, die Machtbefugnisse der Welthandelsorganisation (WTO) zu beschränken.
Das Votum des Senats lässt vielmehr etwas anderes erkennen: die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten zur unilateralen Intervention, ihre Ablehnung multilateraler Entscheidungsstrukturen, wie sie vornehmlich die Vereinten Nationen symbolisieren, die in den jüngsten Machtspielen Washingtons nur mehr als Sündenbock auftauchen.
Das war unschwer vorauszusehen. Schon wenige Wochen nach den Nato-Bombenangriffen auf Serbien warfen Vertreter der US-Regierung der UNO vor, sie sei unfähig, im Kosovo und in Restjugoslawien auch nur ansatzweise für Frieden zu sorgen. Der Nato-Angriff hat im Kosovo weder die ethnischen Säuberungen noch die Vertreibungen gestoppt, dafür aber Jugoslawien zerbombt und die Macht von Präsident Slobodan Milošević gestärkt. Erst als die Vereinigten Staaten einsehen mussten, dass sie in eine Sackgasse geraten waren, zeigten sie sich widerwillig bereit, die bislang beseite geschobene UNO in die Umsetzung eines Abkommens über den Rückzug der jugoslawischen Truppen und die Schaffung eines internationalen Protektorats im Kosovo einzubeziehen. Ungeachtet dieses verspäteten Schwenks lehnten die USA die Zuständigkeit der UNO weiterhin ab und verweigerten ihr ausreichende Ressourcen, Personal und Autorität. Damit nicht genug: Der US-Senat machte die Weltorganisation nur wenige Wochen nach Kriegsende für die blutigen Folgen des Krieges verantwortlich, den die Vereinigten Staaten unter ihrem Banner geführt hatten: „Wir müssen die UNO möglichst unter Druck setzen, damit sie größere Anstrengungen unternimmt“, hieß es in einer Resolution des Senats. Und Senator John W. Warner, Vorsitzender der Entschließungskommission, beschuldigte die UNO, sie komme ihrer „Verantwortung viel zu langsam“ nach.1
Indes ist vor allem der Geiz der Vereinigten Staaten dafür verantwortlich, dass der Hohe Kommissar für Flüchtlinge (UNHCR) von den versprochenen 400 Millionen Dollar, die für den Wiederaufbau der zerstörten Häuser im Kosovo nötig wären, effektiv nur 140 Millionen Dollar erhalten hat. Im Juli meldete die New York Times, dass bisher „nur 150 Polizisten im Kosovo eingetroffen sind, obwohl ursprünglich eine 3 110 Mann starke internationale Polizeitruppe vorgesehen war“2 . Man kann sich vorstellen, wie die US-Ablehnungsfront auf dieses neuerliche „Scheitern der UNO“ reagiert. Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass eine internationale Polizeitruppe von über 3 000 Mann erst einmal von den einzelnen Staaten in Form separater Einheiten rekrutiert werden muss, weil die Vereinigten Staaten die alternative Lösung durch ihr Veto blockieren: die Schaffung einer stehenden internationalen Polizeitruppe oder einer permanenten schnellen Eingreiftruppe der Vereinten Nationen unter dem Kommando des Generalsekretärs, die man rasch und präventiv in einer Krisenregion einsetzen könnte.
Die Clinton-Administration verweigert jede Wiederaufbauhilfe an Serbien, solange Slobodan Milošević an der Macht bleibt, und drängt die anderen Nato-Mitglieder, dasselbe zu tun. So erhält die albanischsprachige Bevölkerung des Kosovo Millionen von Dollar für den Wiederaufbau ihrer zerstörten Städte, während das übrige Serbien leer ausgeht. Angesichts der wachsenden ethnischen Spannungen stehen die Vereinten Nationen vor gewaltigen Aufgaben, deren Erfüllung durch die Haltung Washingtons nicht gerade erleichtert wird. Ähnliche Probleme werden auf die UNO bei einem weiteren Projekt zukommen, dessen Realisierung schätzungsweise 1 Milliade Dollar kosten wird: beim Wiederaufbau von Osttimor, das noch stärker zerstört ist als der Kosovo.
Rhetorisch zeigt sich die Regierung Clinton durchaus bereit, die UNO zu unterstützen. So fordert sie vom Kongress, die ausstehenden Beiträge an die Vereinten Nationen zu bewilligen (die USA sind mit über 1,5 Milliarden Dollar im Rückstand), unternimmt aber keine großen Anstrengungen, ein entsprechendes Votum durchzubringen.3 Auch will sie partout nicht anerkennen, dass ihr erklärtes Ziel einer friedlichen Welt ohne die Vereinten Nationen unmöglich zu erreichen ist. Sie bezieht die UNO nicht in ihre außenpolitischen Entscheidungen ein und legt nur ganz selten jenen „aggressiven Multilateralismus“ an den Tag, der für die US-Diplomatie noch in den ersten Monaten der Clinton-Administration kennzeichnend gewesen war.
ALS sich die US-Regierung an die Nato wandte, um grünes Licht für den Luftkrieg gegen Jugoslawien zu erhalten, verletzte sie eindeutig das Völkerrecht und die UN-Charta, die allein den Sicherheitsrat ermächtigt, militärische Gewaltanwendung zu beschließen. Und auch als sie die Entsendung einer UN-Friedenstruppe nach Dili blockierte, solange das Einverständnis ihres Verbündeten Indonesien nicht vorlag, blieb sie nur ihren Prinzipien treu – denn die einschlägigen UN-Resolutionen, die die Besetzung Osttimors durch Djakarta für unrechtmäßig erklären, spielten in Washingtons Indonesienpolitik noch nie eine Rolle.4
Unter den gegebenen weltpolitischen Bedingungen werden Menschenrechtsverletzungen wie in Osttimor oder im Kosovo wohl auch in Zukunft nicht auszuschließen sein. Deshalb braucht die internationale Staatengemeinschaft ein Instrumentarium, um auf dem Territorium eines souveränen Staats oder auf einem unrechtmäßig besetzten Territorium zu intervenieren. Entscheidungsbefugt ist in solch gravierenden Situationen allein die UNO.
Die Furcht vor einem Veto Russlands oder Chinas – das angesichts der beträchtlichen Wirtschaftshilfe des Westens weit weniger wahrscheinlich ist als üblicherweise angenommen – berechtigt die USA noch lange nicht, allein oder gemeinsam mit ihrem britischen Satelliten, die vorrangige Zuständigkeit der Vereinten Nationen in internationalen Friedens- und Sicherheitsfragen zu missachten. Jeder Alleingang der USA ist ein Schlag ins Gesicht aller anderen Nationen.
Warum tut die einst multilateral gestimmte Clinton-Administration alles, um die UNO und das Völkerrecht zu diskreditieren, wo der Krieg gegen Jugoslawien doch beendet ist und die schwere Arbeit des Wiederaufbaus in Osttimor noch kaum begonnen hat?
Zur Beantwortung dieser Frage mag es nützlich sein, einen Blick zurück in die Geschichte zu werfen. Wie haben sich die bisherigen Weltreiche auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Einflusses verhalten? Jedes dieser Reiche hat jeweils versucht, neue Spielregeln zu schaffen und sie der übrigen Welt sozusagen als „Gesetz des Imperiums“ aufzuzwingen. Schon Thukydides beschreibt, wie die Griechen – besorgt um die Stabilität ihres Reichs im so genannten goldenen Zeitalter – die Insel Melos im Anschluss an ihre Eroberung nach völlig anderen Grundsätzen regierten als die athenische Demokratie. Das Römische Reich orientierte sich ebenfalls an diesem Vorbild, desgleichen in den vergangenen 200 Jahren das britische Empire, „in dem die Sonne nie unterging“. In derselben Weise versuchen auch die Vereinigten Staaten von heute, die in militärischer wie in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht eine bisher unvorstellbare Machtfülle angehäuft haben, ihre einseitig definierten Normen in der internationalen Politik durchzusetzen.
Das Gesetz des Imperiums äußert sich heute darin, dass die USA von anderen Staaten die Einhaltung internationaler Abkommen fordern, an die sie sich selbst nicht gebunden fühlen. Ein Beispiel ist die Schaffung eines für Kriegsverbrechen und Völkermord zuständigen Internationalen Strafgerichtshofs. Noch Anfang 1998 ließ die Clinton-Administration durch David Scheffer, ihren Beauftragten für Kriegsverbrechen, ihre volle Unterstützung für den Aufbau einer solchen Instanz verkünden. Doch als der neue Gerichtshof im Juli 1998 mit den Stimmen von 102 Ländern gegründet wurde, schlugen sich die Vereinigten Staaten neben Israel, Libyen, dem Irak, China, Katar und dem Sudan zu der Ablehnungsfront.
Warum sich Washington in dieses seltsame Bündnis einreihte, erklärte David Scheffer am 31. August dieses Jahres: „Das Tribunal birgt ein Risiko für diejenigen, die die Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens und die Garantie internationaler Sicherheit auf sich nehmen.“ Für alle anderen Staaten braucht man ein Kriegsverbrechertribunal, tönt es aus den Sprachrohren der USA; doch die US-amerikanische Führung und die US-Soldaten müssen dem Zugriff der neuen Gerichtsbarkeit entzogen sein.
Das Gesetz des Imperiums zeigt sich in aller Deutlichkeit auch in der Weigerung der USA, das Abkommen über das Verbot von Antipersonenminen von 1997 zu unterzeichnen. Die Staatengemeinschaft hatte sich darauf verständigt, diese Waffen zu ächten, die zahllosen Menschen – Zivilisten wie Militärs – das Leben gekostet haben. Die Organisation, die sich weltweit für das Abkommen engagiert hatte, wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die US-Führung klatschte Beifall und äußerte ihr Bedauern über die Opfer dieser Minen, die von unverantwortlichen Nationen überall auf der Welt einfach liegen gelassen würden.
Für sich selbst jedoch fordern die Vereinigten Staaten eine Ausnahmeregelung: Nicht zur Disposition stehen soll der Einsatz der Todesmaschinen in der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea wie auch um den amerikanischen Stützpunkt von Guantanamo auf Kuba. Alle anderen Staaten sollen sich an das Verbot halten, doch für eine solch verantwortungsbewusste Weltmacht wie die USA muss man schon eine Ausnahme machen.
Der Anspruch auf eine Sonderrolle zeigt sich auch bei der Kampagne für den Schutz der Kinder in Kriegsgebieten. Das Abkommen über die Rechte des Kindes, das 1990 völkerrechtlich in Kraft getreten ist, dokumentiert eine weltweit wachsende Besorgnis über den Einsatz Minderjähriger als Soldaten, paramilitärische Arbeiter, Dienstboten und Sklaven (die Kinder und Jugendlichen werden zu diesem Zweck entweder entführt oder durch andere Menschen gezwungen, wobei häufig auch die sozialen Umstände eine Rolle spielen).
Im Juli 1998 regten sechs Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Verabschiedung eines optionalen Protokolls zur UN-Kinderrechtskonvention an, das die militärische Rekrutierung von Personen unter 18 Jahren verbietet.5 Aber obwohl die Vereinigten Staaten andere, weit restriktivere Zusatzbestimmungen lauthals befürworten, sind sie nach Kräften bemüht, das Protokoll zu torpedieren, weil das Pentagon auch weiterhin Siebzehnjährige für die eigenen Truppen rekrutieren möchte. Im Übrigen sind die Vereinigten Staaten neben Somalia das einzige Land, das die UN-Kinderrechtskonvention noch nicht ratifiziert hat.
AUCH im Hinblick auf das israelisch-palästinensische Verhältnis konnten die Vereinigten Staaten ihre restriktive Auslegung des Völkerrechts durchsetzen, und zwar auch hier im Alleingang. Sie befanden kurzerhand, von den einschlägigen UN-Entschließungen seien nur die Resolutionen 242 und 338 des Sicherheitsrats gültig, die das Prinzip „Land gegen Frieden“ festschreiben. Die anderen von der internationalen Staatengemeinschaft einschließlich der USA verabschiedeten Resolutionen wurden vom Tisch gefegt, darunter die Resolution 194 der UN-Generalversammlung über das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, aber auch die Resolution 181 vom 29. November 1947 über die Teilung Palästinas in zwei unabhängige Staaten, auf der die internationale Legitimität Israels basiert.
Wer die amerikanische Ablehnung des Teststoppabkommens für eine bloße Verirrung hält, sollte sich an den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968 erinnern. Auch damals beanspruchten die Vereinigten Staaten eine Ausnahme, und zwar auf nur wenig subtilere Weise. Zwar unterzeichneten und ratifizierten sie den Vertrag und machten sich 25 Jahre später teils durch Pressionen, teils durch Bestechung für dessen unbefristete Verlängerung stark. Doch die Verpflichtungen, die sie durch ihre Unterschrift gemeinsam mit den anderen Atommächten Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China eingegangen waren, haben sie zu keiner Zeit ernst genommen: Sie vollzogen weder ernsthafte Abrüstungsschritte, noch wirkten sie auf ein „umfassendes Verbot und die vollständige Vernichtung aller Atomwaffen“ hin.
Allein ein solches Engagement könnte andere Länder zum Verzicht auf Atomwaffen bewegen. Auf der Genfer Abrüstungskonferenz im Januar 1995 gaben die US-Unterhändler freilich zu verstehen, dass sie die Vorstellung, Amerika könnte auf seine Atombewaffnung verzichten, „schlechthin lächerlich“6 finden. Der Vertreter Mexikos hat denn auch bei der Eröffnungssitzung angemerkt: „Wie Erwachsene gegenüber Kindern pochen sie darauf, dass die übrige Welt zu tun habe, was sie sagen – und nicht, was sie selber tun.“
Wie unhaltbar Washingtons Anspruch auf „moralische Überlegenheit“ ist, zeigt die Tatsache, dass man sich weigert, eine ganze Reihe anderer internationaler Vereinbarungen zu unterzeichnen beziehungsweise zu ratifizieren, darunter den UN-Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte (1976), die UN-Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (1981), die Menschenrechtskonvention der Organisation Amerikanischer Staaten (1978) und die Zusatzprotokolle von 1977 zur Genfer Konvention von 1949, die einen erweiterten Schutz für die Zivilbevölkerung in Kriegszeiten vorsehen.
Auch die UN-Seerechtskonvention von 1982 findet in Washington keine Zustimmung: Die Zugeständnisse an die Bedürfnisse der amerikanischen Kriegsmarine gehen Washington nicht weit genug, darüber hinaus werden die rechtlichen Befugnisse des vorgesehenen Schlichtungsorgans ebenso abgelehnt wie die Nutzung der Meeresressourcen, namentlich der mineralhaltigen Knollen, die der ganzen Menschheit zugute kommen soll.
Am deutlichsten zeigt sich das Gesetz des Imperiums vielleicht an der Art und Weise, wie die USA den Vereinten Nationen die Entscheidungsbefugnis über Interventionen der Staatengemeinschaft entzogen und wider alles Völkerrecht auf die Nato übertragen haben. 1990 stellten sie wohl aus Zynismus noch die UNO in den Vordergrund, um ihre Ziele zu erreichen. Mittels Bestechung, Drohungen und Sanktionen setzten sie sodann im Sicherheitsrat die Resolutionen durch, die den Krieg gegen den Irak vorbereiteten.
In der Krisenperiode 1992-1994, als alle Bemühungen um den Erhalt des Friedens in Bosnien, Somalia und Ruanda scheiterten, hat Washington unermüdlich den Vereinten Nationen die Schuld für die sukzessiven Misserfolge seiner und seiner Verbündeten Politik angelastet. Präsident Clinton gab zu verstehen, die Vereinten Nationen seien für den Tod von 27 amerikanischen Soldaten in Somalia verantwortlich, obwohl das Pentagon die internationalen Entscheidungsinstanzen umgangen und die Intervention in Somalia aus eigener Machtvollkommenheit beschlossen hatte.
1995 bezeichnete US-Außenministerin Madeleine Albright die UNO öffentlich als „Instrument der amerikanischen Außenpolitik“8 . Als die Vereinigten Staaten den Irak ein Jahr später abermals bombardierten, verkündete Washington, man sehe sich auch ohne UN-Resolutionen zum Luftangriff berechtigt. Und für die Operation „Wüstenfuchs“ im Jahr 1998 erhielten die Vereinigten Staaten nur von Großbritannien Unterstützung, während sich die Mehrheit der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats gegen die Militäraktion aussprach.
Inzwischen nehmen die Vereinigten Staaten keinerlei Rücksicht mehr auf die Vereinten Nationen. Anstatt sich dem völkerrechtlichen Entscheidungsmonopol der UNO in allen Fragen militärischer Gewaltanwendung unterzuordnen, verlassen sie sich nunmehr ganz und gar auf die Nato. Und zwingen damit einer Menschheit, die von Imperien nichts mehr wissen will, ihre imperialen Spielregeln auf.
dt. Bodo Schulze
* Forscherin am Institute for Policy Studies, Autorin von „Calling the Shots: How Washington Dominates Today's UN“, Northampton/Mass. (Interlink) 1996.