14.01.2000

Eine globalisierte Welt braucht Pluralität

zurück

Eine globalisierte Welt braucht Pluralität

Von DENIS DUCLOS *

DAS Offensichtliche blendet. Wir sehen nicht mehr, was auf uns zukommt. Was auf uns zukommt, ist das Ende einer Vision, aber auch der Beginn einer anderen. Das Ende des verhängnisvollen Versuchs, die Menschheit durch die Macht des Geldes zu einen, und der Beginn eines Forschens nach Vielfalt. Das Ende eines Ideals, das die Allmacht über den Menschen zu erreichen suchte, und der Beginn eines neuen Strebens nach Selbstbestimmung und gegenseitiger Achtung.

Wir stehen vor dem Problem, die Einheit der Menschheit, wie sie sich durch die Informationstechnologien anbahnt, zu verwirklichen, ohne dem Totalisierungswahn zu erliegen, der diese Perspektive wie ein Schatten begleitet, und der die Freiheit des Einzelnen bedroht.

Wie der einzelne Mensch sich langsam aus der magischen Gedankenwelt der Kindheit herausarbeitet, gelangt jede kulturelle Einheit irgendwann an einen Punkt, an dem sie nicht mehr an die unmittelbare Wirkungsmacht ihres Denkens glauben kann. Folglich muss sie einen modus vivendi mit der Realität finden, also anerkennen, dass zwischen den Worten, die ihre Vision inspirieren, und ihrer Lebenswirklichkeit ein tiefer Riss verläuft.

Nun umfasst die kulturelle Einheit, mit der wir zu Beginn des dritten Jahrtausends auf Gedeih und Verderb konfrontiert sind, die gesamte Menschheit – wobei dieser Begriff sowohl für die Gattung als auch für die politische Organisation steht. Uns fällt die außerordentliche Ehre zu, einen Zustand, von dem die Philosophen der Aufklärung, und Kant zumal, nur träumen konnten, als den Unsrigen erfahren zu dürfen. Die Frage, die sich zwingend aus dem Begriff der Universalität ergibt, ist die nach dem universalen Anspruch auf Pluralität. Eine ebenso erregende wie erschreckende Perspektive, die globale wie persönliche, private wie öffentliche, nationale wie internationale Implikationen hat.

Der Jahrtausendwechsel, so belanglos und symbolisch er auch sein mag, ist ein willkommener Anlass, über einen „ganz simplen“ Sachverhalt und dessen unvermeidliche Konsequenzen nachzudenken. Das konfliktträchtige Ideal der einen Menschheit ist materielle Wirklichkeit geworden, und nur Vielfalt (oder Multipolarität, wie man unter französischen Diplomaten sagen würde) schafft die Spielräume, um in diesem eingefriedeten Reich einer globalen Menschheit überleben und frei atmen zu können.

Jede Kultur, jede Weltanschauung, jede Wirtschaftsordnung vertrat mit ihrem Verständnis von Menschheit bisher stets einen Ausschließlichkeitsanspruch. In gewissem Maß gilt dies bis heute, doch anders als Samuel Huntington mit seinem „Kampf der Kulturen“ prophezeit, stehen die kollektiven Formationen inzwischen unter dem Zwang, sich mit ihren Unterschieden zu arrangieren, sozusagen „eine Gesellschaft zu bilden“. Wie diese Gesellschaft im Einzelnen aussehen wird, ist noch ungewiss. Es wird wohl weder ein Völkerbund noch ein globales Gebilde, noch ein imperiales Reich sein, sondern irgendetwas dazwischen.

Solange sich noch keine klare Struktur verfestigt hat, wird jede hinreichend mächtige Gruppe dazu neigen, nur den eigenen Vorteil zu suchen und alles zu dominieren, freilich ohne es jemals zu schaffen. Selbst die Vereinigten Staaten, die letzte Vormacht unserer Epoche, können die Welt nicht mehr nach ihrer Façon organisieren, ohne zu ihren eigenen demokratischen und liberalen Grundsätzen in Widerspruch zu geraten. Und selbst der Kapitalismus, die letzte konkrete Erscheinungsform totalisierenden Denkens, ist außerstande, die Menschen völlig seiner Buchhalterlogik zu unterwerfen, die unter Anwendung wissenschaftlicher Präzision noch weit grausamer geworden ist.

Offenbar kann sich die Menschheit, ist der Zustand konkreter Universalität einmal erreicht, nicht mehr nur auf eine ihrer Erscheinungsformen, nur auf eine ihrer besonderen Ausprägungen einlassen (also etwa auf ethnische Identität, nationale Stärke, religiöse Orientierung oder Streben nach Reichtum, Macht oder Ordnung). Gleichzeitig mit dem Eintritt in die Universalität scheint auch ein die Leidenschaften beschränkendes und austarierendes Spiel aufgenommen worden zu sein.

Doch bedeutet ein solches Spiel der Balancen und Gleichgewichte auch das Ende der Geschichte? Mag sein, dass die partikularen Geschichten der Gemeinschaften, die früher um die allgemein gültige Wahrheit konkurrierten, zu Ende gehen. Das gilt vielleicht auch für die Geschichte des Kapitalismus, insofern dieser sich mit seiner abstrakten geistigen Herrschaft über die Massen tatsächlich vollendet hat. Damit beginnt indessen notwendigerweise eine andere Geschichte. Und diese Geschichte erzählen wir uns nicht mehr als Angehörige von Gemeinschaften, die sich in militärischer oder wirtschaftlicher Konkurrenz gegenüberstehen, sondern als Mitglieder der politisch verfassten Gattung Mensch. Ob Ende oder Anfang (logischerweise dürfte es sich um beides handeln), eines steht jedenfalls fest: Das zentrale Anliegen dieser Epoche wird die politische Organisation der Vielfalt sein. Die praktische Realisierung des Prinzips der Universalität sorgt selbst dafür, dass die Vielfalt das beherrschende Prinzip sein wird.

Nun wäre zu fragen, warum wir bisher nicht fähig waren, das Problem der Vielfalt als absolute Notwendigkeit zu denken und damit von allen vergangenheitsfixierten Assoziationen an ethnische oder partikulare Bindungen zu befreien. Die Erklärung lautet: Das politische Bewusstsein, das dieses Problem auf die Tagesordnung setzt, ist nicht Teil der objektiven Wirtschafts- und Technikgeschichte, sondern einer Geschichte des Subjekts, die ihrer eigenen Dialektik folgt. Wir haben die Frage der Vielfalt bisher noch nicht zum Fixpunkt unseres geschichtlichen Handelns gemacht, weil sie uns noch nie als Etappenziel unserer aufregenden Reise zu konkreter Universalität in den Blick gekommen ist.

Wir müssen zwei Dinge auseinander halten: die materielle Entwicklung der Menschheit im Zeichen einer von Sprache dominierten Kultur (mit ihrer brisantesten Konsequenz: der Technowissenschaft) und die Geschichte, wie sie für uns, die Subjekte, Sinn macht.

So sehr die materielle Entwicklung, ungeachtet regionaler Kontraste, von irreversibler Kontinuität geprägt ist, so sehr zerfällt die subjektive Geschichte in dramatische Zyklen, die aufeinander folgen oder parallel verlaufen. Geschichte als sinnhaftes Geschehen entfaltet sich als eine Erzählung, in der wir als Autor oder Akteur auftreten; als Erzählung mit einem Anfang, einer Entwicklung und einem Ende, deren Zyklus in anderer Weise, an anderen Orten und zu anderer Zeit von Neuem beginnen wird. In der Tat müssen wir, um den Sinn einer Erzählung zu erfahren, bis an ihr Ende gelangen – wozu sollten wir sie uns sonst auch erzählen. Und nach dieser Geschichte beginnt eine andere, denn wir wollen nicht in angsterfüllter Sinnleere leben. Solange die Menschheit als solche existiert, werden wir stets wünschen, dass unsere Geschichte weitergeht, und wenn sie zu Ende ist, werden wir eine andere erzählen wollen. Immer wieder. Dies ist ein anthropologisches Axiom, das so grundlegend ist wie die Relativität in der Physik. Schließlich kann die marktwirtschaftliche Demokratie nicht die symbolischen Bedingungen aufheben, denen wir seit den Anfängen der Sprache ausgesetzt sind.

Drei Anläufe zur Globalisierung

DIE Narration folgt allerdings bestimmten Regeln. Im Allgemeinen versuchen wir, ein Problem, das uns über Jahrzehnte, mitunter über Jahrhunderte hinweg am intensivsten beschäftigt, erschöpfend zu klären. Wir testen nacheinander verschiedene Lösungsmöglichkeiten, wir loten gegensätzliche Erscheinungsformen derselben Metapher aus, die uns eine Zeit lang als Filter unserer Weltbefragung dient.

Seitdem wir massiv mit der konkreten Universalität konfrontiert sind, also mit dem Entstehen moderner Weltreiche und ihrer Fähigkeit zu totaler Wirklichkeitsbeherrschung ab Mitte des 19. Jahrhunderts, haben wir mindestens drei logisch miteinander verkettete Lösungen ausprobiert.

Am Anfang stand der Versuch, die globalisierte Welt durch eine dominierende Partikularmacht zu beherrschen. Es war die Zeit der imperialen Kriege, da jedes Imperium den Anspruch erhob, die Totalität zu verkörpern. Mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts fand diese Lösung ihre explosive und letztlich selbstzerstörerische Zuspitzung.

Es folgte der Versuch, globales Denken und partikulare Wirklichkeit auf einen Nenner zu bringen: verkörpert in dem Ideal des internationalistisch orientierten Nationalstaates, dessen Vorzüge und Risiken wir inzwischen sattsam kennen, namentlich in Gestalt der sowjetisch dominierten kommunistischen Bewegung, die diesen Lösungsansatz am umfassendsten verwirklichte.

Der dritte Versuch zielte darauf, das globale Denken ausschließlich auf den Grundlagen technischer Zusammenhänge zu realisieren. Dies ist die Zeit des „liberalen“ Ideals, das im Grunde genommen eine Computerisierung der Buchhalterlogik darstellt, um das menschliche Begehren in all seinen partikularen Ausprägungen zu regulieren.

Der noch ausstehende Vorschlag, der Versuch, den wir noch nicht unternommen haben, müsste demnach auf der Hand liegen: die Universalität zu realisieren und dabei auf das globalitätsfixierte Denken zu verzichten, ein Denken, das in all seinen politischen, wirtschaftlichen oder technischen Erscheinungsformen im Grunde nur kollektiver Abklatsch infantiler Allmachtsphantasie ist.

Doch um diese noch nicht erprobte Lösung zu „sehen“, müssten wir einen gewissen Abstand zu unserer eigenen Geschichte gewinnen. Dazu müssten wir aber die Position des Akteurs aufgeben, wozu wir nur selten bereit sind. Vielmehr sind manche von uns umstandslos von der zweiten zur dritten Lösung übergewechselt: Einst militante Verfechter der politisch-sozialen Metapher der Universalität, glauben sie jetzt kritiklos an die regulative Wundertätigkeit des Markts. Viele Linke unterschiedlichster Orientierung schämen sich heute für ihr früheres Engagement, weil ihr Projekt in einer Sackgasse gelandet ist. Doch so wie in einer Psychoanalyse die Scham eine Phase im langsamen Abklingen der Verdrängung ist, täten diese Leute gut daran einzusehen, dass ihre aktuelle Begeisterung für die technische (finanziell-informationstechnologische) Regulierung der Welt ein ähnliches Wahngebilde ist wie ihr einstiger Aktivismus.

Wahrscheinlich wirkt der jetzige Enthusiamus sogar noch fataler, da er alle Welt dazu bringt, immer nur auf den geschaffenen Wert zu „setzen“ – als verberge sich hinter der globalitätsduseligen Geschäftigkeit das heimliche Ziel, das Leben auf Gedeih und Verderb zu verwetten.

In beiden Fällen testen wir unsere Geschichte auf die zentrale Frage, wie weit sich der „Totalismus“ in seiner politisch-intellektuellen Spielart als Sozialismus und in seiner mechanistischen Form als Gesetz von Angebot und Nachfrage auf die Spitze treiben lässt. Kommunisten und Liberale haben unfreiwillig das zentrale Problem unserer Epoche herausgearbeitet: die Frage nach dem realen Wesenskern des Menschen, die jede vereinheitlichende Lösung – sei sie einem vernunftbegabten oder einem kybernetischen Gehirn entsprungen – übersteigt. Daher ist es nicht etwa das Ende der Geschichte, sondern das Zentrum unserer Geschichte, das sich heute zeigt.

Anders als viele glauben, war die Antwort des Welt-Kapitalismus auf den Kommunismus nicht ein Frontalangriff auf den Totalitarismus. So „euphorisch“ die Märkte reagieren mochten, so sehr zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass der Kapitalismus nur verzweifelt versucht, eine andere und viel absolutere Form des Totalismus zu retten: seinen eigenen schrankenlosen Wertzirkulationsmechanismus. Mit allen Mitteln wird versucht abzuleugnen, dass sich die dramatischen und tragischen Kräfte, die die Erzählung vom Menschen vorantreiben, im Gegensatz zu seinem globalen Finanzgebaren organisieren.

Der elektronische Kapitalismus will nicht einsehen, dass die Alternative Bürgersinn vs. automatisches Management – früher hieß es „Volkskommissar“ vs. „Financier“ – eigentlich jede Bedeutung verloren hat.

In Russland vertragen sich Privatvermögen und Bürokratie aufs Allerbeste. Das chinesische Regime hat sich zu einem funktionellen Anhängsel des Weltkapitalismus entwickelt und kommandiert an dessen Stelle (oder auch auf dessen Rechnung) ein Heer von niedrigst bezahlen Arbeitskräften. In den Vereinigten Staaten, dem angeblichen Paradies der Kleinanleger, stammen 70 Prozent der Rentenzahlungen noch immer aus dem staatlichen Umverteilungssystem und nur 30 Prozent aus den privaten Pensionsfonds. Der Wettbewerb zwischen diesen Rentensystemen spielt sich vor dem Hintergrund eines allumfassenden Bürokratismus ab, in dem der Unterschied zwischen Staatsbeamten und Marktagenten total verschwimmt.

Das globale Regime spielt die Komödie der falschen Gegensätze nur, um davon abzulenken, dass die Zivilisation heute in Wahrheit vor der Wahl zwischen einem allgemeinen Monopol und der Vielfalt steht. Die Zahl der Unternehmensfusionen und -übernahmen nimmt allenthalben zu. Damit entstehen gigantische globale Organisationen, die wiederum zu ein oder zwei Großstrukturen verschmelzen dürften, während die internationalen Organisationen zunehmend die Aufgabe erhalten, die nationalen und lokalen Souveränitätsrechte mehr und mehr zu begrenzen oder abzubauen. Schon vor diesem Hintergrund stellt sich die simple Frage: Wird die Welt als geeinte Welt noch erträglich sein?

Die Antwort liegt unseres Erachtens in der Weisheit der Kulturen, in ihrer unvordenklichen Erfahrung mit den Momenten der Einheit: Eine einheitliche Kultur ist nur dann erträglich, wenn sie Ausdruck realer Binnenvielfalt ist, das heißt einer Pluralität, die nicht selbst schon wieder durch ein herrschendes System aufgezwungen und vorgekaut ist. In diesem Sinne verführt der Kapitalismus mit einer scheinbar gigantischen Vielfalt von Gegenständen. Diese Vielfalt rührt indessen von einer ihr zugrunde liegenden extremen Homogenisierung, die auch in der Disziplinierung der Verbraucher kenntlich wird.

Nur ein vollkommen integriertes industrielles Produktionssystem kann seine Produktpalette in eine Unzahl von Wahlmöglichkeiten zerlegen; doch was die Internetshops in ihren riesigen Katalogen schließlich zur Auswahl stellen, unterscheidet sich nur scheinbar oder in oberflächlichen, perfekt kontrollierten Details. Dagegen werden regionale Spezialitäten bei der kleinsten Bakterie verketzert und vernichtet.

Wirkliche Vielfalt ist das in jeder Hinsicht zentrale Problem unserer Epoche und betrifft die materielle Grundlage unserer Gesellschaft ebenso wie uns als Menschen. Allerdings braucht es seine Zeit, bis sich der Sinn für die grundlegende Bedeutung von Vielfalt entwickelt, indem er sich von gewissen parasitären Gefühlen frei macht.

In der Rede von der bedrohten „biologischen Vielfalt“ beispielsweise schwingt die krude Idee der Rechtsextremisten mit, die den Begriff sowohl auf biologische Lebensformen als auch auf kulturelle oder ethnische Einheiten beziehen. Doch anstatt den genau entgegengesetzten Weg einzuschlagen und damit auf gefährliche ideologische Abwege zu geraten, sollten wir eher die verdrängte Sorge erkennen, die sich hinter dieser Vorstellung verbirgt: Was Angst macht, ist die Ausgrenzung mannigfacher individueller Fähigkeiten durch die Logik der Profitabilität, deren Maßstab die durchschnittliche Gewinnrate ist. Was bedrückend wirkt, ist der Funktions- und Bedeutungsverlust der lokalen und nationalen Eliten, ihre Verdrängung durch eine Hyperbourgeoisie, die im Generalstab der Globalisierung zusammengefasst ist. Was Angst und Schrecken auslöst, ist die Nivellierung des Verhaltens nach Maßgabe einer globalisierten Moral, die im Allgemeinen nur noch eine Existenz als passives Opfer und Manövriermasse der humanitären Milizen erlaubt.

Diese Sorgen sind ernst zu nehmen. Nur Zyniker können eine internationale Arbeitsteilung gutheißen, bei der die wissenschaftliche Forschung den Vereinigten Staaten vorbehalten ist, während Asien oder Europa Schuhe produzieren, Wasser verkaufen und Fahrzeuge montieren dürfen. Genau dies zeichnet sich aber mit der freiwilligen Abwanderung der Forschungsabteilungen europäischer Unternehmen ab. Auch werden nur Dummköpfe behaupten, es sei für die „lokale“1 Bevölkerung besser, wenn sie von einer globalen Kaste regiert wird statt von ihren eigenen Eliten. Doch genau dies kündigt sich an, wenn etwa die Führungsstäbe französischer Unternehmen in die anglo-amerikanischen Metropolen verlegt werden. Und nur Naivlinge können glauben, die Hilfslieferungen an die Opfer in aller Welt zeugten von purer Selbstlosigkeit und hätten nichts zu tun mit dem strategischen Kalkül des neuen Kolonialismus der „liberalen“ Länder. Wenn in immer mehr Bereichen dem Prinzip Vielfalt das Existenzrecht bestritten wird, mag uns das beunruhigen. Doch wir sollten diesen Sachverhalt viel eher als symptomatischen Ausdruck für eine neue Notwendigkeit sehen: eine völlig andere gemeinsame Vorstellung von Vielfalt. Wie aber soll sie aussehen, wenn eine Rückkehr zu den zersplitterten Verhältnissen der alten Identitäten nicht in Frage kommt?

Wir haben das Problem noch immer nicht genügend eingegrenzt. Wir haben noch nicht einmal das Banalste zur Kenntnis genommen, das uns täglich vorgehalten wird: Nicht diese oder jene Form der Achtung vielfältiger Erscheinungen wird heute in Frage gestellt, sondern das Prinzip der Vielfalt als solches.

Die Ideologie, die der Computerisierung der Welt innewohnt, negiert die Vielfalt als solche.

Pluralität beginnt erst dort, wo zwei Einheiten nebeneinander existieren. Diese Zweiheit tendiert unmittelbar zur Vielheit. Eine wirklich zweigeteilte Welt genügt sich nie selbst, da sie zwangsläufig ein Drittes erfordert: die Position des Kommentators, eine Vermittlung zwischen zwei „Andersheiten“. Eine plurale Logik impliziert mindestens drei Prinzipien: das Sein, die Abwesenheit des Seins (die ermöglicht, das Sein zu verorten und zu berechnen) sowie ihre Vermittlung. Ja, eine auch nur minimal plurale Welt besteht nicht nur aus drei, sondern aus mindestens vier Elementen.2 Geist, Körper und Kultur koexistieren innerhalb einer realen Raum-Zeit, die sich nicht in eine, und sei es noch so hoch formalisierte Symbolsprache übersetzen lässt, ohne Verrat an ihr zu begehen.

Autisten der Quantifizierung

DIESES vierte Element ist die Natur als das, was im etymologischen Sinn des Wortes „in die Welt kommen muss“, ob wir wollen oder nicht, ob wir existieren oder nicht. Natur ist das, was wir „sein lassen“, weil es den Hintergrund unserer theatralischen Handlungen bildet, ohne die das Theater nicht existieren würde. Gewiss, die Wissenschaft studiert die objektive Seite dieser äußeren Natur, aber sie mischt sich dabei in die Natur ein und vernachlässigt damit stets einige ihrer Aspekte.

Schließlich lässt sich die Prinzipienvielfalt bis zu einem „fünften Element“ weiterentwickeln, das die feurigen Heroinen in Luc Bessons Filmen – etwa in seiner jüngsten „Jeanne d'Arc“ – recht eindrucksvoll auf die Leinwand bringen: das unzerstörbare Begehren, das jenen Verboten entspringt, die jegliche Repräsentation der Welt mit sich bringt. Denn so pluralistisch eine quaternäre Welt auch sein mag, sie wäre doch um die Möglichkeiten ärmer, die sie um ihrer Existenz willen ausgrenzt. Folglich ist es die Aufgabe der Verrückten, der Liebenden und der Künstler, diese Welt in Frage zu stellen und den Weg für andere – künftige oder parallele – Geschichten freizuschaufeln.

Schon wenn wir in der näheren Zukunft die minimale Vielfalt von Geist, Körper, Kultur und Natur genießen könnten, wäre dies für uns eine große Erleichterung, eine Befreiung von der ungeheuren Tristesse, mit der die steinreichen Asketen des elektronischen Geldes im Namen der Einheit des Menschengeschlechts die Welt überziehen. Karl Marx hat gezeigt, wie der Kapitalismus die lebendigen Gebrauchswerte in der Abstraktion des Tauschwerts zum Verschwinden bringt. Nicht voraussehen konnte er freilich, wie die verallgemeinerte puritanische Ethik uns alle in meisterliche Autisten der Quantifizierung verwandelt. Man müsste Bertolt Brecht zum Leben erwecken, um ein Stück zu schreiben über jenen Magnaten der Weltfinanz, der mit seiner Jacht in einem „paradiesischen“ Hafen ankert und sein Leben in dem winzigen Büro auf dem Wasser damit verbringt, lauter Dinge und Menschen zu kaufen und zu verkaufen, die er nie kennen lernen wird. Ein Idol des modernen Menschen – aber was für ein armer Hund!

Vier souveräne Prinzipien also, die sich nicht mehr gegenseitig zerstören lassen.

Das erste ist die Natur, insofern sie das Nichtmanipulierte symbolisiert. Ist es ein Zufall, dass Menschen wie José Bové3 zu den wenigen Helden dieser Welt zählen, einer Welt des Kapitalismus, der im Verein mit der Wissenschaft unser Verhältnis zur Außenwelt, zur radikalen Andersheit des „wilden“ Lebens zerstört? Wir wollen nicht nur mit uns selbst konfrontiert sein. Wir lehnen einen inzestuösen Selbstbezug ab, wir wollen uns nicht selbst verzehren. Wir wollen Rohmilchkäse essen können – auch wenn wir dabei einige Listeria-Bakterien schlucken –, weil wir den aseptischen Wahn nicht für eine normale Wahrnehmung der Wirklichkeit halten. Unsere Weigerung, genetisch veränderte Lebensmittel zu verzehren, ist eine Form der Kritik an den multinationalen Zauberlehrlingen, die glauben, sie könnten das Leben im Netz ihrer industriell gefertigten Gene einfangen. Wir wollen Landschaftsräume erleben, die noch nicht durch die technizistische Ausbeutung der Welt verseucht sind, wo es möglich ist, kleine Abenteuer zu erleben, und zwar unmittelbar, also nicht in Warenform und „zu unserem Besten“ aufbereitet. Solche Schutzgebiete unter internationaler Schirmherrschaft sollten umgehend ausgewiesen werden. Das wäre ein erster Souveränitätsanspruch, den der Kapitalismus lernen muss anzuerkennen – im Frieden oder über gewaltsame Konflikte, die er unweigerlich provozieren wird, wenn er keine Einsicht zeigt.

Das zweite Prinzip wird durch die Körper und ihr konkretes Verhältnis zur Welt repräsentiert. Ist es ein Zufall, dass einer der großen Kämpfe unserer Epoche der Kampf der „Vorstadtjugendlichen“ ist? Die Verwalter unserer Welt malen sie natürlich in den finstersten Farben, aber diese Helden unserer Zeit behaupten den Anspruch, lokale Einheiten zu bilden, mit eigenen Sitten, eigenen Verhaltens- und Sprechweisen (ich bin aus der und der Siedlung, aus dem 93. Departement usw.). Insofern sind sie keineswegs „Opfer sozialer Ausgrenzung“, sondern im Gegenteil eine Avantgarde des Widerstands gegen die Abstraktion der Internet-Virtualität. Eines Widerstands, der aus dem Körper kommt, aus dem Jetzt, aus dem Wohnviertel, aus dem Zusammenleben. Gewiss, man wirft ihnen oft vor, dass sie sich für die Symbole des Massenkonsums begeistern, dass sie der Spießerpöbel der Zukunft seien, dass sie gegen die gebildeten Eliten ihrer Gesellschaft die Synthese von McDonald’s und Dschihad verkörpern. Das sind schlechte Argumente. Sie mögen ein Körnchen Wahrheit enthalten, doch sie verfehlen das Wesentliche: Die urbane Subversion antizipiert den Widerstand von Gemeinschaften, die situativ entstehen, aus gemeinsamen Lebenszusammenhängen, Gemeinschaften von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die just deshalb ein grenzenloses Mobilisationspotential bergen. Die urbane Subversion bedeutet die Verteidigung des eigenen Körpers, der stets im Hier und Jetzt lebt, mit „dir“ (und auch gegen „sie“) sich bewegt, tanzt, isst und sich weigert, vor den Projektionsflächen des Allgemeinen strammzustehen. Auf diesem Kampfterrain muss noch vieles, fast alles erfunden werden, vor allem gemeinschaftliche Güter und Dienstleistungen, die sich den Marktmechanismen entziehen.

Das dritte Prinzip ist die Kultur. Auch sie bringt, als wesentlich zwischenmenschliche Kommunikation, ständig neue Erfahrungen und Sichtweisen hervor, und zwar jenseits eines industriell gefertigten Feuilletons. Deshalb lohnt es sich, die Verbreitungs- und Vertriebsnetze zu schützen und zu fördern, die der kulturellen Auszehrung entgegenwirken. Kein Zufall also, dass in den Debatten über die Deregulierung des internationalen Handels immer wieder über die Kultur gestritten wird. Dabei geht es nicht nur um das Problem, dass noch das dürftigste Hollywood-Produkt „ankommt“ (also um das Phänomen „freiwilliger Knechtschaft“, der Mitwirkung des Massenpublikums an der Verarmung der Kulturlandschaft). Viel wichtiger ist die Tatsache, dass man den Menschen jede konkrete Möglichkeit nimmt, ihre Verhältnisse spielerisch zu inszenieren und somit die Universalität selbst zu kommentieren. Wir verlieren die Fähigkeit, unsere Einschätzung der Gesellschaft und ihrer Verhältnisse anderen Mitgliedern dieser Gesellschaft mitzuteilen. Das kulturelle Defizit vertieft sich zum politischen Defizit, das wiederum den erdrückenden Totalismus der akulturellen automatischen Maschinerie verstärkt. Eine Möglichkeit, dieser Entwicklung zu wehren, wäre die finanzielle Unabhängigkeit der Kultur- und Bildungsinstitutionen. Voraussetzung wäre eine Öffentlichkeit, die endlich akzeptiert, dass diese Institutionen nicht so sehr „anwendungsorientiertes“ Faktenwissen produzieren sollen, sondern die Entstehung selbstbestimmter kultureller Milieus zu fördern hätten.

Ambivalenz der Information

ALS viertes Prinzip schließlich die Information. Unsere Kritik an ihrem Anspruch, sich die gesamte Wirklichkeit des Menschen einzuverleiben, zielt selbstverständlich nicht auf ihre Zerstörung. Denn es ist einzig und allein der Information zu verdanken, dass Vielfalt im Universalen zur zentralen Frage unserer Geschichte geworden ist. Ganz zweifellos trägt die Information den Einigungsprozess der Menschheit, doch sollte sie sich angesichts dieser gewaltigen Verantwortung nicht verleiten lassen, ebendiese Menschheit in die absolute Unmenschlichkeit buchhalterischer Transparenz zu stürzen. In ihrem kollektiven Sadismus fügen manche Führungskräfte von Großunternehmen ihren Beschäftigen schon heute Qualen zu, die einer kybernetischen Kaserne angemessen sind. Unter dem Deckmantel der Anpassung an globale Normen werden die Beschäftigten wie Insekten ans Planungsboard eines neuen Taylorismus gespießt und darüber hinaus wie nie zuvor nun auch einer Kontrolle des Geistes unterworfen. Nicht nur muss dieser monströsen Tendenz Einhalt geboten werden, es wäre auch von höchstem Nutzen, wenn die drei anderen unabhängigen Instanzen (Kultur, lebendiger Körper und Natur) sich in die Festungen der produktivistischen Perversion einschleusen ließen. Wenn sich die Forscher bei Elf im französischen Pau für die Weiterführung nicht unmittelbar profitträchtiger Forschungsvorhaben einsetzen, die nicht im Shareholdervalue-Konzept der Unternehmensführung aufgehen, so nehmen sie damit den umfassenderen Kampf vorweg, der gegen die Verengung des Arbeitslebens auf reine Gewinnorientierung geführt werden muss.

Die in der Globalisierung bereits verwirklichte Universalität kann nur dann erträglich sein, wenn wir das Prinzip der Vielfalt anerkennen. Mit der unendlichen Zerstückelung der gegenständlichen Welt und der menschlichen Gesellschaft, mit der die Versandhauskataloge auf unser Herz und auf unseren Geldbeutel zielen, hat dieses Prinzip nichts zu schaffen. Vielfalt heißt zunächst Zweiheit: ich und der andere, nicht Null oder Eins; der Geist und der Körper, nicht die durch den Geist dechiffrierten und mit dessen Instrumenten zerlegten Körper. Aus dieser elementaren Zweiheit leitet sich das dritte Element ab: Kultur ist die unabdingbare Voraussetzung jeder Diskussion über die „rechte Weise“, einander eine von gegenseitiger Achtung geprägte Geschichte zu erzählen. Dies kann keine Wissenschaft vom Menschen, keine Statistik der Meinungsforschung, keine Videoüberwachungsanlage ersetzen. Insofern ist die Kultur womöglich der wichtigste Bereich der Politik, denn hier reden wir über das Stück, das wir spielen werden, und nicht nur über Detailfragen in diesem oder jenem Akt, über die Rollenbesetzung und die Gage der Schauspieler. Schließlich braucht diese Dreiheit einen stillen Zeugen: die Natur. Aus purer Konvention beschließen wir, einen Teil der Natur nicht zu bearbeiten, damit wir nicht der wahnhaften Verwechslung zwischen uns selbst und der Welt anheimfallen, zwischen unserer Lebenswirklichkeit und unserem Gestaltungswillen.

Eine Welt der Vielfalt setzt sich aus mindestens vier Kardinalinstanzen zusammen. Sie müssen sich gegenseitig wertschätzen, ihre elementaren Denk- und Handlungsweisen gegenseitig anerkennen und die prinzipielle Unterschiedlichkeit ihrer grundlegenden Symbole respektieren, als da sind: das Geld (für die Information), der Ort der Gegenwart (für den Körper), das Wort (für die Kultur) und das „wilde“ Leben (für die Natur).

Bringen wir den Willen zu diesem Mindestmaß an Vielfalt auf?

dt. Bodo Schulze

* Soziologe, Forschungsleiter am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) Paris; Autor u. a. von „Nature et démocratie des passions“, Paris (Presses universitaires de France) 1996.

Fußnoten: 1 Die bekannte englische Buchhandlung Smith in Paris ordnet die französische Literatur unter der Rubrik „local“ ein. 2 Wir knüpfen hier an die Arbeiten von Dany Robert-Dufour an. 3 José Bové ist Landwirt und Mitglied der Bauernvereinigung Confédération paysanne. Siehe Le Monde diplomatique, Oktober 1999, S. 2.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2000, von DENIS DUCLOS