14.01.2000

Nachrichten vom biologisch-medizinischen Komplex

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Nachrichten vom biologisch-medizinischen Komplex

Von MARTINE BULARD *

IN Afrika sind 22 Millionen Menschen HIV-positiv - das entspricht 65 Prozent der weltweit vom Aidsvirus Befallenen. Südafrika, das am stärksten betroffene Land, hat dem Kampf gegen diese Seuche oberste Priorität eingeräumt. Die Forschungslabors der Pharmafirmen leisten dabei keine Unterstützung. Ihnen sind ihre Patente wichtiger, auch wenn dies bedeutet, dass den Kranken in den ärmsten Ländern der Zugang zu Medikamenten verwehrt bleibt. Patente bedeuten private Kontrolle über den Zugang zum Wissen, und sie erstrecken sich mittlerweile auch auf die genetische Substanz von Pflanzen und Säugetieren. Wäre es nicht an der Zeit, das Genom und die Biodiversität des Planeten zum Welterbe erklären?

Jahr für Jahr fallen 150 000 Menschen der Schlafkrankheit zum Opfer, vor allem in Afrika. Gegen diese wieder stark in Ausbreitung begriffene, durch die Tsetsefliege übertragene Krankheit gibt es ein Medikament, das 1985 von der amerikanischen Firma Merell Dow entwickelte Eflornithin (Ornidyl). Nachdem das Produkt zuerst zu horrenden Preisen verkauft wurde und somit für die am stärksten betroffenen Bevölkerungsschichten unerschwinglich blieb, wurde die Produktion später eingestellt. Der Konzern Hoechst Marion Roussel, dem das Medikament zugefallen war, als er Merell Dow aufgekauft hatte, willigte schließlich ein, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Vermarktungsrechte zu übertragen. Doch dieser fehlt es an Geld, um das Medikament zu produzieren.

Nach mehrjährigen Verhandlungen hoffen Ärzte ohne Grenzen und andere Nichtregierungsorganisationen, dass es nun Anfang dieses Jahres wenigstens in beschränktem Umfang wieder zur Verfügung gestellt werden kann. Die längerfristige Weiterführung des Produkts hängt allerdings davon ab, ob sich ein großzügiger Mäzen findet, der die Finanzierung sichert. Microsoft-Chef Bill Gates soll sich dazu bereit erklärt haben.

Bei dem Medikament gegen bakterielle Gehirnhautentzündungen, die insbesondere in den Ländern des Südens stark verbreitet sind, ist eine solch günstige Wendung nicht in Sicht. Chloramphenicol besaß aus ärztlicher Sicht den doppelten Vorzug, leicht anwendbar und billig zu sein. 1995 stellte das Unternehmen Roussel Uclaf, das 1997 mit der Hoechst-Gruppe zu Hoechst Marion Roussel fusionierte, die Produktion ein. Die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA) sorgte zunächst dafür, dass ein Labor auf Malta das Arzneimittel weiterführte, mittlerweile ist die Herstellung jedoch mangels Finanzierung nicht mehr gewährleistet.

Ebenfalls unrentabel ist das Molekül gegen Leishmaniose, eine in Afrika weit verbreitete parasitäre Krankheit, die gravierende Hautläsionen verursacht und oft zum Tod führt. Dieses Medikament liegt in den Labors bereit, doch die Herstellung lässt auf sich warten, weil die Rentabilität nicht gesichert ist. Die Liste von entdeckten, aber nicht verwerteten Substanzen und wirksamen, aber wieder aufgegebenen Medikamenten ist lang. Dr. Bernard Pécoul, Koordinator des Medikamentenprojektes von Ärzte ohne Grenzen, weist darauf hin, dass von den zwischen 1975 und 1997 auf den Markt gebrachten 1 223 Substanzen nur 13 speziell auf Tropenkrankheiten ausgerichtet waren, fünf davon entfielen zudem auf den Veterinärbereich.1

Während zahlreiche schon ausgerottet geglaubte Krankheiten wie Paludismus (Malaria), Schlafkrankheit und Tuberkulose wieder verstärkt und heftiger denn je auftreten, sind die alten Medikamente oft nicht mehr wirksam, da immer mehr Bazillen mehrfachresistent sind. Neue Mittel sind dagegen oft unbezahlbar. So werden beispielsweise keinerlei ernsthafte Anstrengungen unternommen, um eine Ersatzimpfung für das altbewährte BCG (Bacille-Calmette-Guerin) zu entwickeln, obwohl sich Jahr für Jahr acht Millionen Menschen mit Tuberkulose infizieren. Rund 400 000 unter ihnen sind, laut Schätzungen von MSF, zahlungsfähige Patienten - oder sollte man besser von Kunden sprechen? Eine Zahl, die deutlich unter der Rentabilitätsschwelle für Investitionen liegt. Weltweit stirbt unterdessen alle zehn Sekunden ein Mensch an Tuberkulose.2

Ein großer Markt - konkret: drei Viertel der Erdbevölkerung - reicht noch nicht aus, damit ein Arzneimittel in Umlauf kommt. Es muss auch Geld einbringen. Viel Geld. Und so schnell wie möglich. Wie Gro Harlem Brundtland, Generaldirektorin der WHO und von Beruf Ärztin, feststellt, wird „für über eine Milliarde Menschen das 21. Jahrhundert beginnen, ohne dass sie von der Revolution im Gesundheitswesen profitiert haben“3 .

Tatsächlich kommen vier Fünftel der weltweit für Gesundheit ausgegebenen Gelder nur einem Fünftel der Weltbevölkerung zugute. Während zwischen 1993 und 1999 der Verkauf von Medikamenten in Nordamerika und in geringerem Maß auch in Europa sprunghaft anstieg, ging er, mit Ausnahme von Japan, in den Ländern Afrikas und Asiens zurück. In Bezug auf Aids ist die Situation noch deprimierender: 92 Prozent der Weltbevölkerung müssen sich mit 8 Prozent der Gesamtausgaben begnügen.

“Wenn die reichen Länder nichts unternehmen, könnte dieses humanitäre Ungleichgewicht bedrohlich werden“, warnt Professor François Bricaire, Leiter der Abteilung für Parasitologie und Tropenkrankheiten am Pariser Krankenhaus Pitié-Salpêtrière. „Die Menschen wissen, dass es Medikamente zur Heilung oder Linderung ihrer Krankheit gibt, die sie sich aber nicht leisten können.“ So bleibt beispielsweise den Aids-Kranken in den Ländern des Südens der Zugang zur Tritherapie praktisch verschlossen, während sich im Westen dank dieser Kombination aus drei antiretroviralen Medikamententypen die Zahl der Todesfälle um 60 Prozent senken ließ.

“In unserer Abteilung tauchen Patienten aus Afrika auf, die sich jeden Pfennig zusammengespart haben, um zur Behandlung hierher zu kommen“, führt Bricaire weiter aus. “Wir helfen ihnen wieder auf die Beine, wissen aber gleichzeitig, dass die meisten nicht genügend Geld besitzen, um nach der Rückkehr in ihr Land die Behandlung fortzusetzen. Ganz zu schweigen von den illegal Einreisenden. Wer brächte es fertig, sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Wir versuchen also unser Bestes. Doch solche punktuellen Maßnahmen bleiben zwangsläufig unbefriedigend.“

Nach Angaben der Weltbank wird “die Zahl der Menschen, die in Afrika an Aids sterben, bald die Zwanzig-Millionen-Grenze überschreiten. Sie liegt damit höher als die Zahl der Opfer der Pestepidemien, die zwischen 1347 und 1351 in Europa wüteten.“4 Mit dem kleinen Unterschied, dass man damals der Tragödie hilflos ausgeliefert war. Heute wäre die Wissenschaft in der Lage, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Oft wird versucht, diese Tatsache mit dem Hinweis zu verschleiern, es gebe nicht genügend zuverlässige Gesundheitseinrichtungen in den betroffenen Ländern. Gewisse Langzeittherapien wie die Tritherapie gegen Aids seien dadurch nicht durchführbar oder riskant, wird behauptet. Diese Probleme sind nicht zu bestreiten. Infolge von Kriegen und der Vertreibung der Bevölkerung ist in gewissen Ländern das Gesundheitssystem zusammengebrochen. In anderen Ländern hat dagegen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank empfohlene Politik, mit ihren Auflagen zur drastischen Verringerung der öffentlichen Ausgaben, praktisch zum gleichen Ergebnis geführt.

Geschäft mit Pharma-Patenten

WELCH bittere Ironie, dass diejenigen, die zur Zerschlagung der Pflegeeinrichtungen beigetragen haben, nun Dringlichkeitsprogramme mit dem Argument ablehnen, diese Systeme wiesen Mängel auf. Zum einen ließen sich solche Gesundheitsnetze wieder aufbauen. Zum anderen gibt es schon heute geeignete Einrichtungen und qualifiziertes Personal (Einheimische wie Missionsärzte und - pfleger), um sowohl die klassischen Infektionskrankheiten zu behandeln als auch langfristige Aids-Therapien in die Wege leiten zu können - vorausgesetzt, dass erstklassige Medikamente zu erschwinglichen Preisen erhältlich sind.

Die Pharmaindustrie scheint kaum bereit, neue Wege zu beschreiten. Bernard Lemoine, Generaldirektor des französischen Dachverbandes der Pharmazeutischen Industrie (SNIP), hält mit seinem Ärger über die Kampagne verschiedener Vereinigungen kaum zurück. Er verweist auf das Entgegenkommen der Labors, die vorübergehend Preisnachlässe gewähren, nicht verwendete Substanzen spenden und Stiftungen unterstützen, um dann gnadenlos zu dem Schluss zu kommen: „Ich sehe nicht ein, warum man von der Pharmaindustrie besondere Anstrengungen verlangt. Niemand verlangt von Renault, Autos an Menschen zu verschenken, die bisher kein Fahrzeug besitzen.“ Doch bei Medikamenten handelt es sich eben nicht um beliebige Waren.

Die Pharmaunternehmen bestimmen nicht nur den Preis der Arzneimittel und wählen ihre Märkte einzig nach den zu erwartenden Kursgewinnen an der Börse aus, sondern bekämpfen auch jede Initiative, die von anderen ausgeht. In Thailand gab es bis Mitte 1998 nur ein einziges Medikament zur Bekämpfung der oft in Zusammenhang mit Aids auftretenden tödlichen Kryptokokkenmeningitis: das vom amerikanischen Labor Pfizer vor Ort unter dem Markennamen Triflucan hergestellte Fluconazol. Dieses wirksame Mittel kostete pro Packung mit 50 Tabletten 12 000 Baht (rund 500 Mark), ein für die meisten Kranken unerschwinglicher Preis. Zu Beginn einer Behandlung entstehen Kosten von 15 000 Baht pro Monat - das entspricht dem Eineinhalbfachen des Gehalts einer Führungskraft. Schließlich gelang es zwei thailändischen Unternehmen, ein gleichwertiges Produkt zum Preis von 4 000 bis 4 500 Baht pro Packung auf den Markt zu bringen. Das Medikament wurde also wesentlich billiger, auch wenn es für die Mehrheit der Betroffenen immer noch unbezahlbar war. Sechs Monate später wurde der Verkauf eingestellt. Auf Drängen von Pfizer hatte die US-Regierung den thailändischen Behörden gedroht, wichtige Exportgüter wie Holz, Juwelen und Mikroprozessoren mit Strafzöllen zu belegen, sollte auf die Herstellung von Fluconazol nicht verzichtet werden.

Südafrika wäre es beinahe genauso ergangen. 1997 verabschiedete die Regierung Gesundheitsgesetze, die es den örtlichen Labors gestatten, unter Umgehung der Großkonzerne, denen die Patente gehören, Aids-Therapeutika herzustellen oder zu importieren. Daraufhin reichten die großen amerikanischen Pharmaunternehmen, die zum Teil Tochterfirmen am Kap haben, Klage ein und drängten ihre Regierung, ähnliche Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen wie gegenüber Thailand. Der amerikanische Vizepräsident Al Gore, der die Kommission für bilaterale Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Südafrika leitet, nahm sich der Sache höchstpersönlich an.

Bei dieser Kraftprobe setzten Vereinigungen zur Bekämpfung von Aids (Act-Up New York, AIDS) und das Consumer Project on Technology von James Love und Ralph Nader die amerikanische Führung von Anfang an unter Druck. Al Gore konnte keinen öffentlichen Auftritt im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen bestreiten, ohne auf das Thema angesprochen zu werden. Diese Kampagne, verbunden mit der Hartnäckigkeit der südafrikanischen Regierung, bewog im September 1999 die Regierung Clinton/Gore, von jeder weiteren Klage oder Vergeltungsmaßnahme abzusehen. In der Folge zogen auch die Labors ihre Klagen zurück. Südafrika wird zweifellos noch einige Zeit brauchen, bevor es sein erstes Generikum wird erzeugen können, dennoch ist ein erster Sieg errungen.

Die Tragweite dieses Erfolges lässt sich besser ermessen, wenn man sich die Änderungen der Spielregeln des Welthandels vor Augen führt, die seit Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) beschlossen wurden.5 Bis 1994 konnte de facto jede Nation selbst ihre Gesundheitspolitik bestimmen und Generika herstellen, ohne abwarten zu müssen, bis die Patente allgemein zugänglich würden. Auf dieser Grundlage konnten beispielsweise Indien, Ägypten und Argentinien ihre Importe substituieren und eine lokale Pharmaindustrie aufbauen.

Seit 1994 sind die Mitgliedstaaten der WTO verpflichtet, sich dem “Abkommen über die handelsbezogenen Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum“ (Trips) zu unterwerfen. Damit ist es grundsätzlich nicht mehr möglich, Medikamente ohne Einwilligung eines Erfinders, der ein zwanzigjähriges Nutzungsrecht über sein Patent hat, und ohne Bezahlung entsprechender Abgaben zu produzieren oder in einem anderen Land zu kaufen. Unter dem Druck von Ländern wie Spanien und Kanada6 wurden im Rahmen des Trips jedoch Ausnahmeklauseln festgelegt. Jede Regierung ist berechtigt, sich im Falle eines Gesundheitsnotstands oder der Beeinträchtigung des freien Wettbewerbs - wenn der Erfinder den Verkauf der Lizenz ablehnt oder einen überhöhten Preis verlangt - mit Zwangslizenzen (compulsory licences) oder Parallelimporten zu behelfen. Erstere erlauben die Herstellung eines Produktes ohne Einwilligung des Erfinders, Zweitere die Einfuhr eines Medikaments aus einem anderen Land, in dem es billiger verkauft wird.

Südafrika, wo nach Schätzungen der WHO jeder sechste Erwachsene HIV-positiv ist, befindet sich ganz offensichtlich in einem Gesundheitsnotstand. Das war den großen Pharmakonzernen durchaus bewusst. Doch die südafrikanischen Gesetze würden, wie Jeffrey Trewhitt, Sprecher des amerikanischen Pharmaindustrieverbandes (PhRMA), unverblümt feststellt, „einen wirklich schlimmen Präzedenzfall schaffen, der weltweit den legitimen Schutz von Patenten untergraben könnte. Der Schaden, der durch die jüngste Entwicklung angerichtet werden kann, wird vermutlich auch auf viele andere Entwicklungsländer übergreifen.“7

Im Übrigen lastet auf allen Entwicklungsländern ein ungeheurer Druck. Indien müsste im Rahmen der WTO auf Preiskontrollen und die Herstellung von Generika verzichten, obwohl sich nur ein Drittel der Bevölkerung Medikamente überhaupt leisten kann. Die Folgen sind klar: Kleinbetriebe werden schließen müssen, und der Anteil der behandelten Personen wird noch weiter zurückgehen. „Die eingeleiteten Reformen und die laufende Liberalisierung eröffnen den pharmazeutischen Labors neue Perspektiven“, schreibt dazu aus Sicht der Unternehmer die französische Zeitschrift Pharmaceutiques.8

Zweifellos ist es noch zu früh, genaue Schlussfolgerungen aus dem Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum zu ziehen. Wohl bekannt ist dagegen, wie sehr den lateinamerikanischen Ländern die seit 1988 durchgesetzten Deregulierungsmaßnahmen geschadet haben. Innerhalb von vier Jahren sind laut WHO in Mexiko die Arzneimittelpreise um 44, in Brasilien um 24 und in Argentinien um 16,6 Prozent gestiegen. Dennoch hoffen die Lobbys der pharmazeutischen Industrie, mit Hilfe der WHO jegliche Ausnahmebestimmung im Patentrecht abzuschaffen und gleichzeitig einen verbesserten, sprich kostenlosen und uneingeschränkten Zugriff auf Pflanzen durchzusetzen. Denn dem Wissen über deren genetische Zusammensetzung kommt in der Entwicklung zukünftiger Arzneimittel entscheidende Bedeutung zu. Es geht der Pharmaindustrie mit anderen Worten darum, frei über die Rohstoffe verfügen, gleichzeitig aber immer undurchlässigere Schranken um die aus diesen Pflanzen gewonnenen Erkenntnisse aufrichten und den Ursprungsländern dieses Wissen vorenthalten zu können.9

Überdies wird der durch Patente geschützte Bereich immer weiter ausgedehnt, was „ein beträchtliches Hindernis für die Gestaltungsfreiheit“ bedeutet, wie Professor Axel Kahn, ehemaliger Vorsitzender der französischen Ethikkommission, erklärt. „Bis vor einigen Jahren gab es eine klare Unterscheidung zwischen Entdeckungen, die als Allgemeingut gelten, und Erfindungen, die patentiert werden können. Zu letzteren zählen Produkte und Verfahren.“10 Durch die Vorverlagerung des Schutzes wird der Bereich des Allgemeinwissens eingeschränkt. Gegenwärtig findet sich in privaten Datenbanken mit begrenztem, kostenpflichtigem Zugang fünf bis zehn Mal mehr Wissen über Genome als in frei zugänglichen, staatlichen Labors. Folge: „Die Anwendung der Patente oder der exorbitante Preis für Lizenzen begrenzt den Zugang zur medizinischen Versorgung, vermindert deren Qualität und verteuert sie unverhältnismäßig“, schreibt eine Gruppe amerikanischer Ärzte und Forscher in einem offenen Brief.11

Der Trend geht in Richtung Monopolisierung des Lebendigen, während gleichzeitig eine Handvoll Unternehmen die genetische Vielfalt unter ihre Verfügung bringen. Die Gefahr ist groß, dass sich die reichen Länder offiziell zu einer Art „G 8“ der Arzneimittel oder, anders gesagt, zu einer technologischen und finanziellen Führungsmacht aufschwingen, die von der Forschung bis zur Lancierung oder Nichtlancierung eines Produktes alles entscheidet. Damit würde sich das Ungleichgewicht noch deutlicher zugunsten der Industriestaaten verschieben, die über die Kaufkraft verfügen, sich neueste, äußerst kostspielige und durch die geistigen Eigentumsrechte geschützte Therapien zu leisten. Die anderen Länder kämen erst nach Ablauf der Nutzungsrechte eines Patents in deren Genuss - zwanzig Jahre und mehrere hunderttausend Tote später.

Gegen diese Gefahr mobilisieren Nichtregierungsorganisationen, Betroffeneninitiativen, Ärzte und Forscher. Ihre Strategien unterscheiden sich, aber alle sind sich einig, dass zumindest die Ausnahmen, die im Abkommen über die handelsbezogenen Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum gegenwärtig vorgesehen sind, in den Verhandlungen der Millenniumsrunde beibehalten werden müssen. Diese Mindestgrundlage könnte den zeitlichen Spielraum schaffen, um nach dem Vorbild der Ausnahmeregelungen im kulturellen Bereich auch eine gesundheitspolitische Ausnahme durchzusetzen, wie es Ärzte ohne Grenzen vorschlägt.

Das Patentrecht darf nicht über die menschlichen Grundbedürfnisse gestellt werden. Es wäre nicht abwegig, das menschliche Genom und die Biodiversität zum Bestandteil des gemeinsamen Erbes der Menschheit zu erklären. Wenn Kulturdenkmäler wie der Tempel von Angkor oder das Stadtzentrum von Venedig zum Welterbe gehören, warum dann nicht auch die menschlichen Gene? Desgleichen muss der Plünderung der Dritten Welt Einhalt geboten werden. Es wäre geboten, eine Gebühr auf die Nutzung von Pflanzen aus diesen Regionen zu erheben und allen Ländern den Zugang zu Therapien zu gewährleisten, die auf Grundlage dieser Pflanzen entwickelt werden.

Aber wie können unterdessen die Epidemien bekämpft werden, die ganze Völker in den armen Ländern heimsuchen? Um die Arzneimittel erschwinglich zu machen, könnte ein rascher Preisnachlass erwirkt werden, ohne dass damit die wirtschaftliche Gesundheit der Pharmakonzerne gefährdet würde. Für Werbung und Absatzförderung geben beispielsweise in Frankreich ansässige Unternehmen 11,3 Prozent des Umsatzes aus, fast ebensoviel wie für Forschung (14 Prozent).12

Zudem „gibt es im Pharmasektor ernste Probleme, weil im Gegensatz zum übrigen Gesundheitswesen dort keine Konkurrenz herrscht“, wie German Velásquez, Sarah Benett und Jonathan Quick feststellen, die im Auftrag der WHO eine ausführliche Studie über Gesundheitssysteme erstellt haben.13 Man sieht es an den Preisen: Zwei Drittel des Weltmarktes befinden sich in der Hand von rund zwanzig Großkonzernen. Der Konzentrationsprozess beschleunigt sich, jüngste Beispiele sind die Fusion zwischen Hoechst Marion Roussel und Rhône-Poulenc oder die gegenwärtige Annäherung zwischen der schweizerischen Novartis und dem amerikanischen Riesen Monsanto. Von den fünfundzwanzig weltweit meistverkauften Medikamenten stammen zwanzig aus den Vereinigten Staaten. Es gibt fast so etwas wie einen globalen Einheitspreis, der sich an den in den USA gängigen Preisen orientiert, die zu den weltweit höchsten zählen. Darum schlagen Dr. Pécoul und andere vor, eine Steuer auf Gewinne von Pharmaunternehmen zu erheben und die Gelder einem Fonds zur Erforschung von Tropenkrankheiten und zur Herstellung dringend benötigter Arzneimittel zukommen zu lassen.

Dass die Verantwortung für diese Situation ganz überwiegend bei den Pharmakonzernen liegt, soll keine Entschuldigung für die internationalen Organisationen und Regierungen sein. Zwar hat Frankreich in einem Anfall von Aktivismus am UN-Programm über HIV und Aids (UNAIDS) teilgenommen und war tonangebend bei der Gründung des Internationalen Fonds zur Unterstützung von Therapien (FSTI), in den die armen Länder große Hoffnungen gesetzt haben. Diese Programme sind jedoch an einem toten Punkt angelangt. Die Franzosen haben das Handtuch geworfen, die Europäer sind untätig geblieben, und die USA verweigern den meisten großen gemeinsamen Aktionen ihre Mitarbeit.

Seitens der Weltgesundheitsorganisation hat man sich endlich dazu durchgerungen, jene Länder zu unterstützen, die auf Zwangslizenzen zurückgreifen. Dennoch bleibt die WHO weit hinter den Erfordernissen zurück, funktioniert nach wie vor undurchsichtig und hängt überholten Vorstellungen von den eigenen Aufgaben nach. Das beeinträchtigt ihre Fähigkeit, innovativ vorzugehen und neue Ziele in der weltweiten Gesundheitspolitik festzulegen. Natürlich spielt auch der Mangel an Finanzmitteln eine entscheidende Rolle. Dennoch wären beispielsweise Dringlichkeitskampagnen vorstellbar, in deren Rahmen Ärzten und dem Pflegepersonal armer Länder Medikamente zum Selbstkostenpreis und sogar darunter zur Verfügung gestellt würden. Der Differenzbetrag könnte durch die Pharmaunternehmen, die Regierungen der betroffenen Länder und die Industriestaaten übernommen werden. Ein ähnliches Modell wurde in den fünfziger und sechziger Jahren praktiziert, um gegen die - seit 1977 weltweit ausgerotteten - Pocken vorzugehen.

Nach Ansicht des Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen liegt “das wahre Übel nicht in der zögernden Finanzierung, sondern in der Verwendung staatlicher Gelder zu Zwecken, deren gesellschaftlicher Nutzen keineswegs erwiesen ist, wie etwa die enormen Militärausgaben in zahlreichen armen Ländern (...). Bezeichnend für die verrückte Welt, in der wir leben, ist die Tatsache, dass ein Arzt, ein Lehrer oder eine Krankenschwester eher Opfer der Sparpolitik werden als ein General oder ein Luftwaffenkommandant.“ Und er fügt hinzu: „Untätigkeit und Apathie könnten sich in Form von Krankheit und Tod rächen.“14

dt. Birgit Althaler

* Journalistin

Fußnoten: 1 Bernard Pécoul, Pierre Chirac, Jacques Pinel und Patrice Trouille, „Access to essential drugs in poor countries. A lost battle?“, Journal of the American Medical Association, Chicago, Bd. 281, 27. Januar 1997. Siehe ebenfalls das Dossier der Zeitschrift Messages, Nr. 102, Januar/Februar 1999, veröffentlicht von Médecins sans frontières, 16, rue Saint Sabin, 75011 Paris. http://www.msf.org/. 2 Angaben der WHO. Zu beachten ist, dass die Opfer in 98,8 Prozent der Fälle in Drittweltländern leben. 3 Dr. Gro Harlem Brundtland, Rede im Rahmen der 52. Weltgesundheitsversammlung (WHA), „L‘avenir de l‘OMS après une année de changement“, Weltgesundheitsbericht, Genf (WHO) Mai 1999. 4 „L‘action de lutte contre le VIH/sida en Afrique se renforce“, Weltbank, Region Afrika, Genf, Juni 1999. 5 Siehe Le Monde diplomatique, November 1999; auch André Ferron, Philippe Herzog und Bernard Marx, „Pour un contrôle social du cycle du Millénaire a l‘OMC“, L‘Option de Confrontations, Montreuil, November 1999. 6 Spanien hat das System der Patentrechte für Medikamente erst 1992 und Kanada erst 1993 vollständig anerkannt. 7 Zitiert nach Mike McKee, „Tripping over Trips“, IP Magazine, San Francisco, September 1999. http://www.ipmag.com/. 8 Jean-Jacques Cristofari, „Facettes indiennes aux 23 700 firmes pharmaceutiques“, Pharmaceutiques, Nr. 53, Paris, Januar 1998. 9 Siehe Marie Angèle Hermitte, „Les aborigènes, les chasseurs de gènes ... et le marché“, Le Monde diplomatique, Februar 1992, und Jean-Paul Maréchal, „Pharming statt Landwirtschaft“, Le Monde diplomatique, Juli 1999. Im weiteren: Florianne Koechlin (Hg.), „Das patentierte Leben. Manipulation, Markt und Macht“, Zürich (Rotpunkt) 1998. 10 Axel Kahn, „Et l‘homme dans tout cela“, Paris (NIL), erscheint im Februar 2000. 11 Siehe The Guardian (London), 15. Dezember 1999. 12 „L‘industrie pharmaceutique: Réalités économiques 1999“, vom Dachverband der französischen Pharmaindustrie herausgegebenes Dokument, Syndicat national de l‘industrie pharmaceutique (SNIP), 88, rue de la Faisanderie, Paris. 13 German Velásquez, Sarah Benett, Jonathan D. Quick, „Rôles des secteurs public et privé dans le domaine pharmaceutique. Incidences sur l‘équité en matière d‘accès et sur l‘usage rationnel des médicaments“, Genf (WHO) 1997. 14 Amartya Sen, „Santé et développement“, Rede an der 52. Weltgesundheitsversammlung, Genf, Mai 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2000, von MARTINE BULARD