Wenn die Peripherie rebelliert
Von DAN TSCHIRGI *
GIBT es Gemeinsamkeiten zwischen der zapatistischen Revolte in Mexiko und der islamistischen Revolte in Ägypten? So erstaunlich es erscheinen mag: Es gibt tatsächlich gemeinsame Charakteristiken dieser beiden inneren Konflikte. In beiden Fällen handelt es sich um marginalisierte Gruppen in peripheren Regionen, die durch den Rückzug des Staates in die Verarmung versunken sind. In beiden Fällen wurden in den letzten Jahren Hoffnungen zunichte gemacht, die durch die Entwicklungspolitik der sechziger Jahre geweckt worden waren, und in beiden Fällen steht der militärischen Übermacht des Gegners ein gewissermaßen religiös motiviertes Engagement für den „gerechten Kampf“ entgegen.
Die Aufstandsbewegungen in Mexiko und Ägypten, die sich in den neunziger Jahren entwickelt haben, können uns den Zusammenhang vor Augen führen, der zwischen neoliberaler Wirtschaftspolitik und innenpolitischen Turbulenzen bestehen dürfte. Bereits vor zehn Jahren hat David Apter auf diesen Zusammenhang hingewiesen, als er die wirtschaftliche Entwicklung im Hinblick auf mögliche Marginalisierungseffekte untersuchte. “Marginalisiert“ war für Apter gleichbedeutend mit „funktionell überflüssig“, und als „Marginalisierte“ bezeichnete er Menschen, die “buchstäblich keine der Rollen ausfüllen, die eine funktionierende Gesellschaft ausmachen“. Diese Menschen sind folglich „mehr oder weniger dauerhaft an die Ränder der Gesellschaft“ verbannt, weshalb sie von der übrigen Bevölkerung als minderwertig angesehen und behandelt werden.1
Auf den ersten Blick scheint es sich bei dem Aufstand der Zapatisten in Mexiko und bei der fundamentalistischen islamischen Rebellion der Gamaa al-Islamia um gänzlich unterschiedliche Bewegungen zu handeln. Erstere hat sich nach einer ziemlich kriegerischen Anfangsphase zu so etwas wie einem internationalen liberalen „Happening“ entwickelt, während letztere sich unter dem Eindruck einer Serie bewaffneter Gewaltakte, verstümmelter Leichen und öffentlicher Empörung offenbar totgelaufen hat.
Stellt man jedoch die Zapatisten und die Kader der Gamaa al-Islamia nebeneinander, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sie eine gemeinsame Botschaft verkünden. Und die lautet, dass sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen unter gewissen, benennbaren Bedingungen eine Rebellion beginnen können. Wobei es keine Rolle spielt, ob sie bei rationaler Kalkulation der objektiven Kräfteverhältnisse überhaupt eine echte Gewinnchance haben. Die Konflikte, die von diesen beiden Gruppen angestoßen wurden, haben offenkundig zweierlei gemeinsam: erstens die marginalisierte Position der Aufständischen innerhalb ihrer Gesamtnation, zweitens die Tatsache, dass ihre Rebellionen für das angegriffene Regime keine reale militärische Bedrohung darstellen, also auch in dieser Hinsicht von nur marginaler Bedeutung ist.
Vielleicht weisen beide Aufstandsbewegungen sogar noch engere Bezüge auf. Tatsächlich kommt in ihnen, bei allen Unterschieden, eine vergleichbare soziale Dynamik zum Ausdruck, die beide zum Unterfall eines bestimmten Typus des bewaffneten Kampfes macht. Man könnte ihn als “marginalisierten gewaltsam ausgetragenen innergesellschaftlichen Widerspruch“ bezeichnen. Das würde allerdings praktische und moralische Fragen berühren. Etwa im Hinblick auf Entscheidungen, die unter Berufung auf die ökonomische Entwicklung von Regierungen getroffen werden, deren Zukunftsvisionen angeblich im Interesse aller Bürger liegen.
“Sie können Chus töten, sie können andere Führer töten. Aber Armut und Elend können sie nicht töten, und sie werden immer wieder neue Leute wie uns hervorbringen“, sagte der Mann. Ein paar Meter weiter stand seine Mutter und kochte über einem offenen Feuer das Abendessen, während sich seine Kinder mit einem kleinen Hund auf dem dreckigen Fußboden balgten. Er sprach ganz ruhig und betonte wiederholt, wie wichtig es sei, “Respekt“ und „Würde“ zu bewahren. Das klang alles entschieden optimistisch - wenn auch nicht bezogen auf seine eigene Zukunft, sondern auf die Zukunft, die irgendwann seine Kinder oder seine Enkel haben würden.
Der Mann nannte sich Chus. Und der Ort unserer Unterhaltung machte ohne viele Worte sichtbar, was er mit “Armut und Elend“ meinte: eine verrußte Hütte im regenfeuchten Dschungel eines Tales, das sich vom Hochland von Chiapas in Richtung des lacandonischen Regenwaldes erstreckt. Es war im Sommer 1995, etwa achtzehn Monate nachdem die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) über Nacht die politische Szene Mexikos verändert hatte. Die Zapatisten hatten mehrere Städte im zentralen Hochland von Chiapas erobert und sich anschließend in unwegsame, abgelegene Täler zurückgezogen. In diesem Gebiet, das seitdem als die “Konfliktzone“ bezeichnet wird, hat sich die EZLN bis heute gehalten. Von hier aus versucht sie, die Ziele, die nach „rationalen“ Maßstäben nicht mit militärischen Mitteln durchzusetzen sind, auf politischem Wege zu realisieren. Und mit einem Zukunftsoptimismus, der so unverrückbar ist wie ihre Gewissheit, dass sie diese Zukunft, falls die politischen Mittel scheitern sollten, notfalls auch auf dem Weg des erneuten Kampfes erobern wird.
Warum hat die mexikanische Regierung 1994 nach einigen Tagen intensiver militärischer Intervention die Militärs in die Kasernen zurückbeordert? Das lag an der damaligen politischen Konstellation des Landes. Die Zapatisten forderten vor allem eine Neustrukturierung des politischen Systems und mehr Demokratie. Damit kam sie gut an in einer Gesellschaft, die sich seit längerem keinerlei Illusionen mehr über ihre Regierungsinstitutionen machte. Ähnlich populär war der zentrale Anklagepunkt der Zapatisten: die mexikanische Regierung habe mit ihrer Selbstbedienungsmentalität die wahren nationalen und kulturellen Hauptinteressen des Landes verletzt. Obwohl die überwiegende Mehrzahl der zapatistischen Aktivisten aus der marginalisierten Maya-Bevölkerung des Bundesstaates Chiapas stammte und obwohl verstärkte Rechte für die indigene Bevölkerung auf ihrem Forderungskatalog ganz oben standen, wurden der Aufstand und seine Ziele mit Wertvorstellungen begründet, die sich auf den Gesamtstaat Mexiko bezogen. Da die Regierung damals mit ihrer eigenen begrenzten Reform des politischen Systems ins Stocken geraten war, zugleich aber die spontane Sympathie der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft für die Zapatisten registrieren musste, scheute sie vor einer militärischen Konfrontation zurück und entschied sich für Verhandlungen.
Die Kämpfe forderten, bis es zu einem Waffenstillstand kam, an die 1 000 oder 1 500 Todesopfer. An der Entschlossenheit der Rebellen gab es also keinen Zweifel. Die hatte Samuel Ruiz, der Bischof von San Cristóbal de Las Casas, ohnehin nicht. Als er von beiden Seiten zum Vermittler ausersehen wurde, hatte er dank seiner dreißigjährigen Tätigkeit in Chiapas ein tiefes Verständnis für die Not seiner indianischen Gemeinde entwickelt, hatte aber auch selbst einen beträchtlichen Anteil am Aufschwung des revolutionären Aktivismus. Der Bischof tat alles, um den Konflikt mit politischen Mitteln zu lösen. Aber 1998 gab er aus Protest gegen die Verzögerungstaktik der Regierung seine Vermittlerrolle auf. Ob der Konflikt jetzt noch auf friedliche Weise lösbar ist, ist völlig offen.
Im Sommer 1995, in dem Chus trotz der wenig hoffnungsvollen Indizien so optimistisch über die langfristigen Erfolgsaussichten der Rebellion gesprochen hatte, wurden in Ägypten einige Mitglieder der Gamaa al-Islamia zum Tode veurteilt. Auf den Richterspruch reagierten sie mit Freudenschreien, mit denen sie ihre Gewissheit über den letztendlichen Sieg ihrer Sache ausdrückten. Der Kampf der ägyptischen Gamaa wurde, anders als im Fall der Zapatisten, durch keinerlei Verhandlungsbemühungen eingedämmt. Und im Vergleich mit Mexiko dauerte das Blutvergießen in Ägypten erheblich länger und ging weit stärker zu Lasten der Gesamtbevölkerung.
Der bewaffnete Kampf der Gamaa begann im Jahre 1990, ohne dass eine einzelne Aktion seinen Beginn markiert hätte. Aber bis 1992 hatte sich schon klar gezeigt, dass die Regierung in Kairo sich auf eine anhaltende und entschlossene Offensive einstellen musste, deren Wurzeln im Süden des Landes, also in Oberägypten lagen. Doch die Gamaa hatte ihre Netzwerke in den Jahren zuvor auch in die Armenviertel von Kairo und anderen Städten ausgeweitet. Sie konnte also ihren Kampf - mit vorwiegend terroristischen Methoden - auf weite Teile des Landes ausdehnen, wobei Oberägypten allerdings stets ihr zentrales Operationsgebiet blieb.
Die Wurzeln der Gewalt
UNBELASTET von den politischen Schwierigkeiten, die den Handlungsspielraum der mexikanischen Führung einengten, konnte die autoritäre Regierung Ägyptens der Gamaa al-Islamia mit aller Härte entgegentreten. Verhandlungen kamen für Kairo nicht in Frage. Die Rebellion wurde mit schärfster Repression beantwortet: mit massiven Verhaftungen, mit der Todesstrafe und - seit Oktober 1992 - mit Militärgerichtshöfen, die für die Aburteilung der mutmaßlichen islamischen Aktivisten zuständig waren. Bis 1996 hatte die Regierung eindeutig die Oberhand gewonnen. Die bewaffneten Aktionen hörten zwar nicht völlig auf, wurden aber deutlich weniger. Entsprechend kamen wieder mehr Touristen aus dem Ausland. Trotz einiger sporadischer Zusammenstöße in Oberägypten schlugen einige Gamaa-Führer im Frühjahr 1996 einen Waffenstillstand vor. Ein Jahr später riefen sechs wichtige Persönlichkeiten der Gamaa ebenfalls dazu auf, die Feindseligkeiten zu beenden. Diese Initiativen, die von der Regierung nicht positiv beantwortet wurden, zeugten von zunehmender Uneinigkeit in den Reihen der Islamisten. Die wurden vollends offenbar, als im November 1997 in Luxor an die sechzig ausländische Touristen von Kommandos der Gamaa niedergemetzelt wurden.
Mit dem Attentat von Luxor erreichte die Gamaa den absoluten Tiefpunkt ihrer Popularität. Die überwiegende Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung war nicht nur über das Blutbad entsetzt, sondern gleichermaßen auch darüber, dass es im Namen des Islam verübt worden war. Die Spaltung der Organisation wurde offensichtlich, als ihre wichtigsten Führer die Attacke einhellig als eine „Übertretung“ verurteilten, die der Gamaa ersichtlich stärker schadete als der ägyptischen Regierung. Die konnte, obwohl es 1998 nur noch zu wenigen, unbedeutenden bewaffneten Aktionen kam, weitere Gamaa-Mitglieder verhaften, aburteilen und in einigen Fällen auch hinrichten lassen. Anfang 1999 hatte sich der Tourismus zwar noch nicht voll von der Luxor-Attacke erholt, aber schon wieder einen soliden Aufschwung begonnen. Heute sieht es so aus, als ob die Gamaa zumindest vorübergehend die Waffen gestreckt hat. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob es sich nur um eine vorübergehende Kampfpause handelt oder ob die Organisation den bewaffneten Kampf endgültig aufgegeben hat.
Einige frappierende Parallelen zwischen den Zapatisten und der Gamaa al-Islamia verweisen womöglich auf tiefer gehende Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Aufstandsbewegungen. Das könnte den Schluss nahe legen, dass es erkennbare Bedingungen gibt, unter denen die neoliberalen Entwicklungsstrategien angetan sind, eine Bevölkerung, die normalerweise ganz schicksalsergeben vor sich hinlebt, in einen bewaffneten Konflikt hineinzutreiben. Und zwar auch dann, wenn sie keinerlei Erfolgsaussichten hat.
Eine erste Parallele besteht darin, dass bei beiden Rebellionen deren geographische Kernregion historisch schon immer vom politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Leben des nationalen Zentrums abgeschnitten war. In Chiapas wie in Oberägypten haben sich zwangsläufig, auf Grund der Entfernung und der schwierigen topographischen Bedingungen, Lebensweisen und -anschauungen herausgebildet, die von denen der jeweiligen umfassenderen nationalen Gesellschaften deutlich abweichen. Und in beiden Fällen hat die Restnation von dieser marginalisierten Region und ihren Einwohnern ein Bild, das vorwiegend negativ ist. In Mexiko gelten die Chiapanecos schon immer als provinziell, langsam und irgendwie sonderbar. Ähnliche Stereotype gibt es im eigenen Lande über die Menschen am Oberlauf des Nil, die Saidis. Aber das hindert die Menschen von Chiapas wie von Oberägypten keineswegs daran, sich selbst als vollwertige Mitglieder eines umfassenderen nationalen Gesamtzusammenhangs zu sehen.
Parallelen lassen sich auch hinsichtlich der lokalen Sozialstrukturen von Chiapas und Oberägypten feststellen. Diese haben sich historisch im Sinne einer hochgradig stratifizierten und rigide hierarchisierten Gesellschaft enwickelt. An der Spitze der Hackordnung stehen in Chiapas die Ladinos, die sich eine rein europäische Abstammung zugute halten. Darunter kommt die Gruppe der Mestizos, ganz unten dann die Indígenas. Im muslimisch geprägten Oberägypten orientiert sich die soziale Hierarchie an den Stammesgruppen. Ganz oben stehen die Ashraf, die sich auf ihre Abstammung von den Propheten berufen, darunter die Araber, die ihre Ahnenreihe auf Stämme aus Arabien zurückführen, auf der untersten Stufe schließlich die Fellachen, denen eine inferiore Abstammung zugeschrieben wird: nämlich von einer der vorislamischen Gemeinschaften Ägyptens, die erst später zum Islam konvertiert sind.2
Eine weitere Parallele ergibt sich aus dem Vergleich, wie bei beiden Regionen die politischen Beziehungen zu ihrer jeweiligen Zentralregierung aussehen. In beiden Fällen dominiert der Klientelismus. Das heißt, die Beziehungen zwischen den lokalen Machtgruppen und der Zentralregierung dienen als Vehikel für die Durchsetzung staatlicher Autorität. An diesem Zustand hat im mexikanischen Falle auch die Revolution von 1911 nichts geändert. Die klientelistische Struktur diente auch der Partido Revolutionario Institucional (PRI), die Mexiko über siebzig Jahre lang dominieren sollte, als das Instrument, das ihr die Loyalität der Ladino-Elite von Chiapas sicherte. Ähnliches gilt für Ägypten. Auch hier hat der Nasserismus den Klientelismus keineswegs beseitigt, der in Oberägypten immer noch die politisch-administrativen Strukturen prägt. Die Landreform Nassers brachte den Fellachen zwar erhebliche Vorteile, aber die traditionelle Klasse der Grundbesitzer schaffte es mit vielseitigen Methoden, die Besitzansprüche auf einen Großteil ihrer Güter abzusichern. Und die Regierung in Kairo sorgte wie vorher dafür, dass die höheren Ränge des lokalen Polizei- und Sicherheitsapparates mit Ashrafi oder Arabern besetzt wurden.
Eine augenfällige Parallele ist auch die Armut, die in Chiapas und in Oberägypten herrscht. Die meisten Bewohner von Chiapas haben nichts von den natürlichen Ressourcen ihres Bundesstaates. Der gehört nach wie vor zu den ärmsten Regionen der mexikanischen Republik. Die vorwiegend ländliche, aus Indígenas und Mestizen bestehende Bevölkerung leidet unter einem hohen Bevölkerungszuwachs, entsprechend wächst der Druck auf die ohnehin knappen Flächen an verfügbarem Ackerland. Krankheiten und armutsbedingte Epidemien sind weit verbreitet. Noch schwieriger sind die Lebensbedingungen im Hochland von Chiapas, wo der zapatistische Aufstand begonnen hat. Oberägypten hat ebenfalls ein großes landwirtschaftliches Potential, ist aber seit langem die ärmste Region des Landes. Mitte der neunziger Jahre lebten in der Region fast 72 Prozent der gesamten Armutsbevölkerung Ägyptens. Ähnliche Disparitäten zwischen Oberägypten und anderen Teilen des Landes belegen die statistischen Zahlen über Gesundheitszustand, Bevölkerungszuwachs, Sozialleistungen und Lebensqualität. Kein Wunder, dass die Unterklassen von Chiapas und Oberägypten am stärksten von den armutsbedingten Leiden betroffen sind.
Parallelen ergeben sich auch, wenn man andere Merkmale und Erfahrungen der Indígenas von Chiapas und der Fellachen von Oberägypten betrachtet. In der Regel werden diese Unterklassen als “traditionelle Bevölkerungsgruppen“ beschrieben. Diese oft voreilig vergebene Etikettierung trifft freilich nur in dem Sinne zu, dass die Angehörigen dieser Gruppen an bestimmten historisch überlieferten Sitten, Gebräuchen und Praktiken festhalten. Der Ausdruck ist aber völlig fehl am Platze, wenn ein beharrlicher Widerstand gegen jeden Wandel unterstellt wird. Diese falsche Auffassung wird schon durch die Anstrengungen widerlegt, die einige Gruppen in den letzten zwanzig Jahren unternommen haben, um ihre materiellen Lebensverhältnisse zu verbessern.
In den sechziger Jahren wanderte ein großer Teil der verarmten indigenen Bevölkerung von Chiapas in die lacandonischen Dschungelgebiete. Dort wollten sie einer unwirtlichen Umwelt neue Siedlungen und ein menschenwürdigeres Leben abgewinnen. In den siebziger Jahren suchten tausende Menschen eine Beschäftigung in der Bauindustrie und anderen Branchen, als die mexikanische Regierung sich bemühte, im Rahmen der Wirtschaftsförderung für die indigenen Bevölkerungsgruppen auch die Hochlandregionen von Chiapas zu entwickeln. In dieser Zeit wanderten viele Menschen auch in die Städte, wo sie sich bessere Chancen versprachen.
Die oberägyptischen Fellachen hatten die populistischen Versprechungen von Gamal Abdel-Nasser zunächst begeistert begrüßt. Nasser weckte nicht nur Hoffnungen auf ein besseres Leben und eine gerechtere Besitzverteilung, er sorgte auch für ganz konkrete Fortschritte. Die Landreform fiel zwar nicht so durchgreifend aus, wie es Nasser versprochen hatte, aber einige Errungenschaften sprangen für die Fellachen doch heraus. Und seit der Gründung gebührenfreier Universitäten in den sechziger Jahren drängten viele junge Leute vom Lande an die Unis, um möglichst rasch der Armut und der gnadenlos einengenden gesellschaftlichen Hierarchie zu entkommen. Die Regierung fühlte sich verpflichtet, alle Uni-Absolventen zu beschäftigen. Den Bauernsöhnen, die keine Aussicht auf eigenen Grundbesitz hatten, bot ein Posten in der staatlichen Bürokratie sowohl einen Lebensunterhalt als auch ein gewisses Prestige. Jungen Männern, die keine Universitätsausbildung anstrebten, eröffnete der Ölboom der siebziger Jahre eine andere Landfluchtperspektive. Sie strömten nach Saudi-Arabien und in andere Golfstaaten, wo sie sich ausreichend Kapital erarbeiten wollten, um bei der Rückkehr zu Hause Land zu kaufen, ein kleines Geschäft aufzumachen oder ein Haus zu bauen. Es waren dieselben Ziele wie die der Indígenas von Chiapas: ökonomische Sicherheit und gesellschaftliche Mobilität.
Die Parallele geht aber leider Gottes noch weiter. Beide Gruppen wurden zunehmend desillusioniert. Massive Korruption innerhalb der Regierung des Bundesstaates Chiapas war dafür verantwortlich, dass der Lacandon-Dschungel nicht weiter erschlossen und besiedelt werden konnte. Im wirtschaftlichen Zusammenbruch der achtziger Jahren gingen dann auch die Pläne unter, die mexikanischen Indígenas in die nationalen Entwicklungspläne einzubeziehen. Die Investitionen der Zentralregierung in die ländliche Entwicklung gingen zurück; die Organisationen und Programme der Regierung, die den Kleinbauern helfen sollten, wurden gekürzt oder abgeschafft.
Auch in Oberägypten gingen die Hoffnungen der verarmten Bevölkerung vor die Hunde. Kostenlose Hochschulausbildung und Beschäftigung im Staatsdienst verloren insofern ihren Glanz, als der Staat zunehmend nur noch sinnlose Jobs in einer aufgeblähten ägyptischen Bürokratie zu bieten hatte - oder Plätze auf einer Warteliste, die erst nach Jahren eine einträgliche Beschäftigung versprach. Die rigiden, eng geknüpften gesellschaftlichen Strukturen Oberägyptens schließlich eröffneten den Söhnen der Fellachen, die von der Universität oder nach ein paar Jahren Arbeit mit ihrem Ersparten vom Golf zurückkehrten, keine Chancen für einen sozioökonomischen Aufstieg.3 Als der Ölboom zu Ende ging, waren die Chancen, sich als Arbeitsemigranten zu verdingen, auch noch geschrumpft.
Parallele Auswirkungen brachten auch die neoliberalen ökonomischen Strategien, die in Mexiko und in Ägypten eingeschlagen wurden. In Ägypten entwickelte sich schon in den siebziger Jahren eine vorsichtige Tendenz in diese Richtung, als Anwar as-Sadat sich entschloss, die Politik Nassers aufzugeben. Bei seiner Neuorientierung der ägyptischen Wirtschaft war Sadat auf die Unterstützung der traditionellen ländlichen Eliten angewiesen. Damit gewannen die Grund besitzenden Notabeln Oberägyptens ihren alten Einfluss zurück - mit der Folge, dass der Staat bisweilen die Vertreibung der Kleinbauern von umstrittenen Feldern absegnete. Damit waren nicht nur die Errungenschaften, sondern auch die Zukunftshoffnungen der Fellachen bedroht. In den achtziger Jahren verfolgte Präsident Hosni Mubarak anfangs zurückhaltend, dann aber immer energischer eine Politik der ökonomischen Liberalisierung: Die Subventionen für Grundnahrungsmittel und bäuerliche Produkte wurden abgebaut, die Preiskontrollen gelockert. Davon waren von allen Menschen in Ägypten die Armen am härtesten betroffen. Und natürlich blieb Oberägypten der ärmste Teil des Landes.
Noch schlimmer kam es für die Region, als Mitte der achtziger Jahre im Gefolge des Niedergangs der Öl produzierenden Volkswirtschaften die Chancen auf Beschäftigung im Nahen Osten noch weiter schrumpften. Die Golfkrise von 1990/91 bewirkte nicht nur eine massive Rückkehrwelle der ägyptischen Wanderarbeiter, sondern auch tief gehende allgemeine Zweifel, ob Ägypter überhaupt noch im Ausland Arbeit finden würden. Indessen schienen sich 1992 die schlimmsten Befürchtungen der Bauern zu bestätigen, als die Regierung - nach einer sieben Jahre lang tobenden Debatte - ein neues Bodengesetz durchbrachte. Danach sollten, nach einer fünfjährigen Gnadenfrist, die Bestimmungen über die Besitzrechte an Grund und Boden wieder aufgehoben werden. Diese Wende erfolgte natürlich angeblich nur im Interesse der “Rationalisierung“ des Agrarsektors. Das „Gesetz über die Vertreibung der Pächter von ihrem Land“, wie es allenthalben genannt wurde, relativierte ernsthaft die Errungenschaften, die in den Augen der verarmten Landbevölkerung Ägyptens die „entscheidende Grundlage der moralischen und politischen Ordnung“ darstellten.4
Ganz ähnliche Folgen hatte die neoliberale Offensive der achtziger Jahre für die indigene Bevölkerung von Chiapas. Dass die Subventionen für den Agrarsektor abgebaut und zumal für die Kaffeeproduzenten gänzlich abgeschafft wurden, war für die bäuerliche Ökonomie ein harter Schlag. Das Elend der Kleinbauern verschärfte sich noch mit der Liberalisierung der mexikanischen Handelspolitik, die den einheimischen Markt für billigere ausländische Agrarerzeugnisse öffnete. Zugleich wurden umfassende Regierungsprojekte eingestellt und die großen Agrarkonzerne privatisiert, was die Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bauern weiter reduzierte. Das alles hatte für das ländliche Chiapas eine besonders bittere Pointe, weil das Gesamtbild des Agrarsektors sich in diesem Bundesstaat durchaus gesund darstellte, denn die Großgrundbesitzer profitierten sehr stark von der Förderung der agrarischen Großkonzerne, die von der Regierung De La Madrid betrieben wurde. Der folgenreichste Schritt in dieser Liberalisierungspolitik erfolgte jedoch 1992: Die Änderung von Artikel 27 der mexikanischen Verfassung bedeutete einen faktischen Stopp der Landreform und ermöglichte den Verkauf von früherem Gemeindeland, das man unter der alten Ordnung an die Bauern verteilt hatte.
Bei den Aufständen, die in den neunziger Jahren in Chiapas und in Oberägypten ausbrachen, gibt es eine weitere Parallele, was den ursächlichen Zusammenhang zwischen Religion, Rebellion und Neoliberalismus betrifft. In beiden Regionen war die Alltagskultur schon immer von der Religion geprägt, also vom Katholizismus bzw. vom Islam. Und in beiden Fällen resultieren die dominierenden religiösen Bekenntnisse und Praktiken ganz deutlich aus einer Vermischung von orthodoxer und volkstümlicher Religion, wobei letztere erkennbar von vorkolumbianischen bzw. vorislamischen Elementen durchdrungen ist. Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass die religiösen Praktiken in Chiapas wie in Oberägypten noch stark vom Glauben an magische Erscheinungen oder Wunder geprägt sind - an eine übernatürliche Beeinflussung der irdischen Realität, die sich einer anderweitigen Erklärung entzieht. An solchem Wunderglauben hängen vor allem die Menschen, die gesellschaftlich marginalisiert sind.
In beiden Regionen war die Religion traditionell ein Faktor, der den Status quo stabilisierte. Doch neuerdings hat sie maßgeblich zu der Mobilisierung beigetragen, aus der die beiden Aufstandsbewegungen entstanden sind. In beiden Fällen gelang es den Führern der Bewegung mit ihren Parolen gegen die herrschenden Zustände, die bislang konservative religiöse Orientierung in einen politischen Aktivismus zu transformieren, dessen revolutionäre Botschaft auch religiös inspiriert ist.
Volksreligiös geprägte Subkultur
BEI der marginalisierten Bevölkerung von Chiapas setzte dieser Wandel schon in den sechziger Jahren ein, als Samuel Ruiz das Bischofsamt in San Cristóbal antrat. Damals ging die Ladino-Elite davon aus, er werde die übliche konservative Rolle spielen, doch damit sollte sie sich täuschen. Ein führender Ladino-Vertreter hat mir dies so geschildert: „Er war ein sehr ruhiger Mensch, und er ließ sich in den vornehmsten Häusern von San Cristóbal zum Essen und zum Kaffee einladen, aber dann begann er, ein anderer zu werden.“ Ruiz wurde zum Anhänger der Befreiungstheologie. Da er die Klassenstruktur der Gesellschaft von Chiapas für unerträglich hielt, förderte er den Aufbau unabhängiger Bauernorganisationen, die bessere Lebensbedingungen für die ländliche Bevölkerung erreichen wollten.
Diese Bemühungen des Bischofs wurden in den frühen siebziger Jahre von radikalen jungen Leuten unterstützt, die sich in Chiapas der Verfolgung durch die mexikanischen Sicherheitskräfte entziehen wollten. Verstärkt durch eine zweite Generation, die in den achtziger Jahren dazustieß, mobilisierten diese radikalen Kräfte die Bauern und unterstützten dieselben Ziele, die auch von Ruiz und der Kirche verfolgt wurden. 1983 gründeten die militanten Zuwanderer die EZLN. Doch die marxistische Orientierung der neuen Kräfte und die von Bischof Ruiz vertretene Befreiungstheologie erwiesen sich als durchaus kompatibel. In der Folge arbeiteten beide Bewegungen jahrelang zusammen und bauten gemeinsam mehrere ineinander verschachtelte Bauernorganisationen auf.
Im Laufe der achtziger Jahre instrumentalisierten die Eliten von Chiapas die staatlichen und nationalen Institutionen für ihr Ziel, die Aktivisten der Bauernbewegung gewaltsam einzuschüchtern (und sehr häufig sogar zu liquidieren). Das strapazierte die Beziehungen zwischen den kirchennahen und den marxistisch orientierten Aktivisten der jungen Bauernbewegung. Wobei die Letzteren immer mehr Anhänger für ihre Überzeugung fanden, dass man den bewaffneten Kampf aufnehmen müsse. In den frühen neunziger Jahren kam es zur Spaltung. Unter den Anhängern der gewaltfreien Strategie um Samuel Ruiz gibt es jedoch immer noch starke Sympathien für die EZLN, deren Mitglieder den Bischof ebenfalls noch demonstrativ verehren.
In Oberägypten war die aktivistische Wende der religiösen Orientierung nicht das Werk einer einflussreichen Figur, doch sie vollzog sich nach einem ähnlichen Muster. Maßgeblich war dabei der Einfluss der egalitäreren islamischen Lehren, die in Saudi-Arabien und den anderen Golfstaaten dominieren. In den siebziger Jahren wurden in Ägypten immer mehr private Moscheen errichtet, häufig finanziert von zurückgekehrten Fellachen, deren sozialer Aufstieg noch immer durch die örtlichen Machtstrukturen in Oberägypten blockiert wurde. Diese neuen religiösen Zentren propagierten zunehmend eine aktivistische, sozial bewusste Interpretation des Islam, die sich gegen die konservativen religiösen Anschauungen der Ashraf und der Araber richtete.
Die Gamaa al-Islamia entstand zu Beginn der siebziger Jahre als eine Bewegung, die sich vor allem aus Studenten der Assiut Universität rekrutierte. Die Gruppe hatte auch Kontakte zu weiteren militanten islamistischen Organisationen in anderen Teilen des Landes. Was sie von diesen unterschied, war ihr eindeutig oberägyptischer, also ihr Fellachen-Charakter. Das hebt Mamoun Fandy hervor, der viele Gründungsmitglieder der Gamaa zu seinen Schulkameraden zählt und nach eigener Aussage zur ersten Generation von Kleinbauernsöhnen gehört, „die von den Nasserschen Erziehungsreformen profitierten“. Die meisten Mitglieder stammten aus Fellachenfamilien.5 Die Gamaa hielt dem Regime in Kairo vor, die islamischen Werte Ägyptens verraten zu haben, und propagierte einen islamischen Staat unter dem Gesetz der Scharia. Aber sie war auch entschlossen, die Machtverhältnisse in Oberägypten zu ändern.
Die jahrelange Mobilisierung zahlte sich aus, als die Gamaa al-Islamia in den neunziger Jahren mit massiven Aktionen in die Offensive ging. Obwohl sie nie mehr als ein paar tausend militante Aktivisten gehabt haben dürfte, genoss sie in den ländlichen Gebieten Oberägyptens und in den Armenvierteln des Südens so viele Sympathien, dass sie ihren Kampf fünf Jahre lang durchhalten konnte. Auch hier zeigt sich eine Parallele zu der Unterstützung der Zapatisten durch die indigene Bevölkerung von Chiapas.
Dass die Organisation neuerdings der Gewalt abgeschworen hat, könnte darauf hindeuten, dass sie die Notwendigkeit einsieht, ihre Ziele mit politischen Mitteln zu erreichen. Wenn die Annahme stimmt, hätten wir eine weitere Parallele zu den Zapatisten, die freilich die Realitäten viel schneller anerkannt haben. Bleibt die Frage, was beide Gruppen dazu gebracht hat, sich zunächst überhaupt auf ein so ungleiches Kräftemessen einzulassen. Eine Antwort müsste wohl auf das Zusammenwirken von sozialstrukturellen und kulturellen Faktoren verweisen. Als strukturelle Faktoren haben wir ermittelt:
- die historisch begründete ökonomische, politische und soziale Ausgrenzung der Maya-Bevölkerung in Chiapas bzw. der Fellachen in Oberägypten;
- die soziale Schichtung in beiden Regionen, die beide Gruppen in den Status einer Unterklasse verweist;
- die Hoffnung auf ein besseres Leben und die anschließende Enttäuschung dieser Hoffnung;
- die katalytische Wirkung der von der jeweiligen Zentralregierung eingeschlagenen neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Doch diese Faktoren reichen als Erklärung nicht aus, man muss darüber hinaus die Rolle der religiösen Anschauungen in beiden Gruppen in Betracht ziehen. Das heißt, die dynamische Entwicklung, die deren Bedeutungsgehalt verändert hat, aber auch die Inhalte, die von Anfang an in diesen religiösen Anschauungen steckten.
Die „traditionellen“ Indígenas in Chiapas wie die Fellachen in Oberägypten haben den Wandel zunächst durchaus begrüßt und aktiv erstrebt. Aber in der Folge machten sie zwei negative Erfahrungen: Zunächst wurden ihre Hoffnungen enttäuscht, dann traten unwillkommene Veränderungen ein, die von der Dynamik der Globalisierungskräfte herrührten. Als ausgegrenzte Gruppen konnten sie die Kräfte, die diesen Wandel bewirkten, nicht kontrollieren, ja in den meisten Fällen nicht einmal begreifen. Im Laufe der achtziger Jahre erwies sich dieser Wandel auf Grund seiner Intensität, seiner vielfältigen Formen und seiner tückischen Auswirkungen nicht nur als bedrohlich, sondern als nachgerade vernichtend.
Dass angesichts dessen die Religion überaus mobilisierend wirkte, war nicht weiter verwunderlich. Die Attraktion der mobilisierenden Botschaft beruhte vor allem darauf, dass sie auf glaubwürdige Weise ein Doppeltes in Aussicht stellte: sozialen Wandel und zugleich Widerstand gegen diesen Wandel. Das erklärt auch, warum die Zapatisten wie die Gamaa al-Islamia die Forderung nach sozioökonomischem Wandel ebenso stark betonten wie die Forderung nach Wahrung der kulturellen Integrität.
Aber wie waren diese Versprechungen glauwürdig zu formulieren? Eine Antwort liegt vielleicht in dem Hinweis auf den synkretistischen Charakter der religiösen Vorstellungswelt, in deren Kontext diese Versprechungen gemacht werden, das heißt, dem Hinweis auf eine volksreligiös geprägte Subkultur, für die Wunder und übernatürliche Erscheinungen zum alltäglichen Leben gehören. Solche Bedingungen dürften Erkenntnisstrukturen begünstigen - und zwar selbst bei Menschen, die mit anderen Anschauungen in Berührung kommen -, die für die Auffassung empfänglich sind, dass eine gerechte Sache am Ende immer siegen wird.
Wenn dem so ist, könnte man folgende Überlegung anschließen: Je mehr die neoliberale Globalisierungsstrategie noch in die abgelegensten Winkel der Erde vordringt, desto häufiger wird sie auf Gruppierungen stoßen, die sich nicht davon abbringen lassen, den etablierten Autoritäten entgegenzutreten - auch nicht durch eine Realität, in der alles dafür spricht, dass der bewaffnete Kampf eine hoffnungslose Sache ist.
dt. Niels Kadritzke
* Professor für Politikwissenschaften an der Amerikanischen Universität in Kairo.