14.01.2000

Der Süden macht nicht mit

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Der Süden macht nicht mit

Von AGNÈS SINAÏ *

DER 2. Dezember 1999 markierte einen entscheidenden Wendepunkt in den Verhandlungen von Seattle. Es war der Tag, an dem einige Vertreter südlicher Länder ihre Wut nicht mehr zurückhielten, weil sie sich zu Statisten in einem absurden Theaterstück degradiert fanden. Seit Stunden irrten sie durch die Gänge und Vorhallen des Konferenzzentrums, während die Delegationsleiter der reichen Länder die Tagesordnung unter sich aushandelten. Die Unterhändler des Südens mussten feststellen, dass man sie „draußen vor der Tür“ halten wollte, fern vom Verhandlungstisch. Wie die Journalisten und die Beobachter der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) waren sie aufs Hörensagen und die spärlichen Informationen angewiesen, die auf den Pressekonferenzen verbreitet wurden, von denen die Hälfte kurzfristig abgesagt wurde.

Viele von ihnen wussten nicht einmal, dass die eigentlichen Verhandlungen in den Green Rooms stattfanden, jenen diskreten Salons also, die seitdem zum Symbol für den undemokratischen Charakter der WTO geworden sind. Nach Auskunft von EU-Kommissar Pascal Lamy waren dort rund 30 Verhandlungsdelegationen versammelt. Die Entwicklungsländer, meinte Lamy, seien keineswegs „ ausgeschlossen“ worden: „Der indische Subkontinent etwa war durch Indien vertreten, der afrikanische Kontinent durch Südafrika, Marokko und Ägypten. Dennoch haben die Länder, die keinen Zutritt hatten, gegen das System protestiert.“1 In Wahrheit hatten die vier Großmächte USA, Kanada, die EU und Japan die Vertreter des Südens nur dann in den grünen Salon gebeten, wenn sie es thematisch für geboten hielten.

Zu diesem willkürlichen Kooptationsmodus passte auch der informelle Charakter der Geheimverhandlungen. Hier wurden unter der Oberaufsicht von Charlene Barshevsky, die in ihrer Eigenschaft als US-Handelsbeauftragte als Gastgeberin der Konferenz fungierte, ausgesprochen wichtige Entscheidungen gefällt. Dennoch gab sich WTO-Generaldirektor Mike Moore noch am Tag nach dem Fiasko die größte Mühe zu unterstreichen, dass die Verhandlungen „im Rahmen eines Plenarausschusses“ stattgefunden hätten.2 Nun hatte Frau Barshevsky ebendiesen Plenarausschuss gleich zu Beginn der Gespräche am 1. Dezember wissen lassen, dass sie zwar einen “integrativeren Ansatz unter Beteiligung aller Delegationen“ bevorzuge, sich aber das Recht vorbehalte, „mit einer begrenzten Zahl von Delegationen im grünen Salon zu konferieren“.3

Wenige Stunden später hagelte es im Presseraum des Tagungszentrums Protesterklärungen der südlichen Länder. Der Handels- und Industrieminister von Ghana prangerte in seiner Eigenschaft als erster Vizepräsident der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) das “Fehlen jeglicher Verhandlungstransparenz“ an: „Die afrikanischen Länder werden an den Rand der Gespräche gedrängt und bleiben von allen Entscheidungen ausgeschlossen, die doch für ihre Bevölkerung von vitaler Bedeutung sind.“ Besonders besorgt äußerten sich die OAU-Minister mit Blick auf den erklärten Willen der Verhandlungsleitung, um jeden Preis eine Vereinbarung zu unterzeichnen, “auch auf Kosten der Verfahrensregeln, die Partizipation und das Konsensprinzip gewährleisten sollen“. Die OAU-Minister seien entschlossen, die erforderliche Zustimmung zum Start der Millennium-Runde zu verweigern. Die Caricom-Länder (der Gemeinsame Markt der Karibischen Inseln) und einige Staaten Lateinamerikas zeigten sich angesichts der mangelnden Transparenz der Verhandlungen ebenso kompromisslos und lehnten jeden erzwungenen Konsens ab. Sie wehrten sich insbesondere - aus teils guten, teils auch schlechten Gründen - gegen die geplante Aufnahme von Sozial- und Umweltrichtlinien in die Handelsabkommen.

In der zunehmend gespannten Atmosphäre machten diese Reaktionen unübersehbar deutlich, welche Methoden der Einschüchterung und Manipulation innerhalb der WTO üblich sind. Da die Einstimmigkeit der Beschlüsse nicht mehr garantiert war, die nach den Statuten erforderlich ist, war das Scheitern der Konferenz praktisch programmiert. Das Netzwerk europäischer NGOs zu agrar-, handels-, umwelt- und entwicklungspolitischen Fragen (Rongead) und das Centre for International Environmental Law (CIEL) rieten den Delegationen des Südens, ihre - weitgehend übereinstimmenden - Positionen in einem Kommuniqué zusammenzufassen und eine gemeinsame Strategie auszuarbeiten. Beide NGOs unterstützten die französischsprachigen Delegationen aus Afrika nach Kräften. In der Tat lagen die offiziellen Verhandlungstexte nur in englischer Sprache vor, obwohl auch Französisch und Spanisch zu den offiziellen Sprachen der Welthandelsorganisation gehören.

Selbst die amerikanische Delegation erbarmte sich der verzweifelten Vertreter der Elfenbeinküste, die im schwach besetzten Plenarsaal verloren und ratlos herumsaßen, und schickte ihnen einige Rechtsberater. Neben den Mitarbeitern von Rongead und CIEL gingen auch die Vertreter des World Wildlife Fund (WWF) und des Third World Network (TWN) von einer Delegation zur anderen und redeten ihnen zu, dass sie aufschiebende Bestimmungen verlangen und kein Dokument ohne vorherige Prüfung durch einen Gutachter unterzeichnen sollten.

In den meisten Ländern des Südens fehlt es schlicht an Geld, um ausreichend große und qualifizierte Delegationen zusammenzustellen. Mit zumeist nur drei bis fünf Mitgliedern - vielfach hohe Beamte ohne größere Erfahrungen mit internationalen Wirtschaftsverhandlungen - konnten sie schon mangels Personal unmöglich an allen Arbeitsgruppen teilnehmen. Auch die Parlamentarier, die mit den Ministern angereist waren, verstärkten nur die Reihen der Statisten; und auch bei ihnen zeigte sich dasselbe quantitative Nord-Süd-Gefälle wie bei den Chefunterhändlern. Als auf Antrag der Europäer die Schaffung eines parlamentarischen WTO-Forums beschlossen wurde (siehe den Beitrag von Riccardo Petrella), waren Ecuador, Ägypten, die Dominikanische Republik, Gabun, Fidschi, Mauritius und andere Länder nicht vertreten. Der Norden dagegen war in voller Besetzung anwesend.

Der Aufstand der südlichen Länder hätte eigentlich niemanden überraschen dürfen. Nur zwei Monate vor dem Seattle-Gipfel traf sich die Gruppe der 774 vom 14. bis 16. September in Marrakesch und gab den Organisatoren der WTO-Konferenz deutlich zu verstehen, dass vor jeder weiteren Liberalisierung des Welthandels zunächst die Regel der “drei R“ anzuwenden sei: reevaluieren, reparieren, reformieren. Clement Rohee, der Außenminister Guyanas, und Tofail Ahmed, der Handels- und Industrieminister von Bangladesch, unterstrichen dabei, dass die einseitigen Forderungen der Hauptentscheidungsträger - Industriestaaten und transnationale Unternehmen - die Entwicklungsländer schwächten, dagegen seien die Sorgen des Südens bei der geplanten Tagesordnung kaum berücksichtigt.

Auch die zweite Warnung verhallte ungehört. Vier Tage vor Eröffnung der Seattle-Konferenz trafen sich Vertreter der 71 AKP-Staaten (Afrika, Karibik und pazifischer Raum) in Santo Domingo und forderten nachdrücklich “eine differenzierte Sonderbehandlung“, also das exakte Gegenteil der WTO-Prinzipien der Meistbegünstigung und der Regelung nationaler Märkte. Dabei bezeichnete Madagaskars Staatspräsident Didier Ratsiraka die Globalisierung als “totalitäre, auf Einheitsdenken beruhende Lehre, die von der derzeit größten Macht allen anderen Ländern aufgezwungen wird“. Die WTO, so Ratsiraka weiter, sei die „bevorzugte Institution der Globalisierung, die letztlich alle menschlichen Tätigkeiten ihren Regeln unterwerfen will und sie nurmehr als Handelsgüter sieht“.5

WTO-Generaldirektor Mike Moore erklärte sich daraufhin zum Anwalt des Südens, dementierte allerdings dieses schönen Bekenntnis sogleich mit der Ankündigung, er werde nicht versuchen, die Industrieländer davon abzuhalten, weitere Bereiche in die Verhandlungen einzubeziehen. Dieser Dialog unter Tauben führte zwangsläufig zu dem Aufsehen erregenden Scheitern der Millennium-Runde und faktisch zu dem Moratorium, das die Entwicklungsländer und zehntausende Demonstranten gefordert hatten. Sie werden als gemeinsame Sieger der “Schlacht von Seattle“ in die Geschichte eingehen.

dt. Bodo Schulze

* Mitglied des Observatoire de la mondialisation

Fußnoten: 1Anhörung vor der EU-Delegation der französischen Nationalversammlung, 9. Dezember 1999. 2 Kommunique vom 7. Dezember 1999, siehe: http://www.wto.org. 3 Protokollnotiz, am 2. Dezember 1999 an die Presse verteilt. 4 Mittlerweile gehören der Gruppe rund 130 Entwicklungsländer an. 5 Le Monde, 28./29. November 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2000, von AGNÈS SINAÏ