Weltbürger gegen den Welthandel
Von SUSAN GEORGE *
EIN Rätsel ist der Erfolg der Bürgerbewegung in Seattle nur denjenigen, die nicht dazu beigetragen haben. Zehntausende von Gegnern der Welthandelsorganisation (WTO) haben den Gegengipfel in monatelanger Arbeit auf nationaler und internationaler Ebene organisiert. Niemand wurde ausgegrenzt. Wer Zugang zu einem Computer hatte und des Englischen einigermaßen mächtig ist, saß via Internet in der ersten Reihe und konnte an den Vorbereitungsarbeiten mitwirken.
Diese Vorbereitung lief vor allem über die Mailing-Liste „Stop WTO Round“. Über dieses Medium konnte jeder interessierte Bürger Kontakt mit der Bewegung aufnehmen und sich von hier aus in weitere, speziellere Mailing-Listen eintragen. Zu den nützlichsten Anlaufstellen gehörten zum einen das Corporate European Observatory in Amsterdam, das die besten Informationen über die Verbindungen zwischen den Lobbys transnationaler Unternehmen und den Unterhändlern der Vereinigten Staaten und Europas bot; zum anderen das Third World Network von Martin Khor, das über die Positionen der südlichen Länder und alles, was sich in Genf zusammenbraute, stets vorzüglich Bescheid wusste.
Verschiedene Institutionen veröffentlichten regelmäßig Mitteilungsblätter, darunter das International Centre for Trade and Sustainable Development (ICSTD, Genf), das Institute of Agriculture and Trade Policy in Minneapolis (IATP), sowie Focus on the Global South (Bangkok). Viele engagierte Einzelpersonen wie der pensionierte kanadische Lastwagenfahrer Bob Olsen holten sich die einschlägigen Informationen aus dem Netz und verbreiteten sie dann weiter.
Den vollen Umfang der verfügbaren Informationen können wir aber erst einschätzen, wenn wir berücksichtigen, dass die Online-Nachrichten über die nationalen Anti-WTO-Bewegungen in Europa, Australien, Kanada, den Vereinigten Staaten und Indien laufend aktualisiert wurden (bei den Nachrichten aus Afrika, Lateinamerika und Asien war das nicht ganz so häufig der Fall). Vervollständigt wird das Bild durch die hervorragende Arbeit der Aktivisten vor Ort. Sie bereiteten zahllose Tagungen, Anhörungen und Seminare vor, sie verfassten Broschüren und Artikel, gaben Interviews und Pressekonferenzen und entwickelten sich dabei zu regelrechten Experten.
Mit Blick auf Frankreich sei an die Aktivitäten der Initiative für eine Tobin-Steuer (Attac) erinnert, die im Juni 1999 ein internationales Treffen mit dem Themenschwerpunkt WTO veranstaltete, zu dem Delegationen aus rund achtzig Ländern1 anreisten. Genannt seien auch die diversen Aktivitäten der französischen „Koordination für eine Bürgerkontrolle der WTO“ (CCC-OMC), der insgesamt 95 Organisationen angehören, darunter die Confédération paysanne, Droits Devant!, die Fédération des finances CGT und die Gewerkschaft FSU. Politisch unterstützt wird die CCC-OMC von den französischen Grünen, der trotzkistischen Ligue communiste révolutionnaire (LCR) und der Kommunistischen Partei Frankreichs.
DIE Friends of the Earth in London hatten im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung im Vorfeld von Seattle die Aufgabe übernommen, Unterschriften für einen Aufruf zu sammeln, der die Vertagung der laufenden Verhandlungen und eine eingehende Untersuchung der Arbeitsweise der WTO forderte, und zwar unter voller Beteiligung der Bürger. Dieser Appell wurde bisher von 1 500 Organisationen aus 89 Ländern unterzeichnet. Mike Dolan als Vertreter von Public Citizen, einer von Ralph Nader gegründeten Bürgervereinigung, hielt sich seit Frühjahr 1999 in Seattle auf, um geeignete Räume für die zahllosen geplanten Veranstaltungen aufzutreiben.
In San Francisco organisierte das International Forum on Globalization ein Teach-in am 26. und 27. November 1999, bei dem Redner aus allen Kontinenten in der völlig überfüllten Bennaroya Symphony Hall vor 2 500 engagierten Zuhörern zu Wort kamen.
In den Monaten davor hatten mehrere tausend Teilnehmer die von Direct Action Network (DAN) angebotenen Seminare zu gewaltfreien Demonstrationstechniken mitgemacht. In den Tagen unmittelbar vor dem WTO-Gipfel wurde die DAN-Zentrale in der 420 East Denny Avenue zum Hauptquartier einer Armee, die ohne Befehlshierarchie auskam. Die hier versammelten Gruppen organisierten sich in Teams, von denen jedes für einen der dreizehn Sektoren im Umkreis des Konferenzzentrums verantwortlich war. In jedem dieser Teams A bis M gab es Leute, die bereit waren, sich verhaften zu lassen. Die Entschlossenheit dieser Teams, die ab 7 Uhr morgens in ihren Einsatzsektoren waren, war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Demonstranten die Eröffnungssitzung verhindern konnten.
Auch einige Künstler hatten sich schon frühzeitig an die Arbeit gemacht, um die Riesenpuppen und Modelle herzustellen, die dem ansonsten hoch politischen Ereignis den Charakter eines Festumzugs verliehen. Aus Dutzenden von Universitäten kamen die Studenten und eroberten sich die politische Bühne Amerikas zurück. Vor allem die Studierenden der nahe gelegenen University of Washington setzten sich intensiv mit Umweltproblemen und mit der Ausbeutung von Männern, Frauen und Kindern in der Dritten Welt auseinander und engagierten sich zum Beispiel im Rahmen der Kampagne „Clean Clothes“ (saubere Kleidung) gegen die „Sweat Shops“ (Schwitzfabriken) in der Textilindustrie der Entwicklungsländer.
Noch erstaunlicher angesichts der jüngsten Geschichte der Vereinigten Staaten war die so genannte Sweeney-Greenie-Allianz, benannt nach dem Präsidenten der mächtigen US-Gewerkschaft AFL-CIO und den amerikanischen Grünen. Seit dem Vietnam-Krieg hatte es zwischen Gewerkschaftern und Umweltaktivisten immer wieder politische Konflikte gegeben, denn für die Vertreter der Arbeiterschaft reimte sich Ökologie immer nur auf Begriffe wie Linksradikalismus und Arbeitsplatzverlust. Der gemeinsame Gegner WTO versöhnte die bisherigen Kontrahenten. Erstmals zeigten sich auch Pazifisten und Menschenrechtler ernsthaft beunruhigt über die verheerenden Folgen der Globalisierung und engagierten sich in der Anti-WTO-Bewegung. Auch „Via Campesina“, ein Dachverband alternativer Bauernorganisationen aus 65 Ländern, hatte für Seattle mobilisiert. Diese Jahrhundertkoalition wurde durch zahlreiche ausländische Delegationen verstärkt, wobei die französische neben der kanadischen das bedeutendste Kontingent stellte.
Alle waren also bestens vorbereitet. Außer den Polizisten, die, martialisch kostümiert wie in einem Sciencefictionfilm, zu Methoden griffen, die dem Anlass völlig unangemessen waren. Es gibt Augenzeugenberichte (einschließlich Foto- und Videomaterial) über Provokationen, willkürliche Gewaltanwendung und geheime Absprachen zwischen Polizei und „anarchistischen Elementen“, die sich wie wahre Hooligans aufführten. Ganze Häuserblocks und Stadtviertel wurden von Reizgaswolken eingenebelt, die auch älteren Menschen und Kindern zusetzten. 580 Menschen wurden verhaftet, viele von ihnen misshandelt und länger als 48 Stunden festgehalten, unter eindeutiger Verletzung der amerikanischen Verfassung.
TROTZ alledem erwies sich die Millennium-Runde als tot geborenes Kind. Washington zeigte sich in Sachen Agrarpolitik unnachgiebig. Die EU-Länder bestanden hartnäckig auf einer Erweiterung der Tagesordnung um Punkte wie Investitionen, Wettbewerbspolitik, Umweltschutz, öffentliches Auftragswesen usw. Die Vertreter der südlichen Länder (siehe den Beitrag von Agnès Sinaï) protestierten, weil sie von den Verhandlungen ausgeschlossen waren, und auch die Anti-WTO-Bewegung trug dazu bei, dass der Gipfel am Ende scheitern musste. Allerdings sind die Entscheidungen der Ministerkonferenz von Marrakesch 1994 nach wie vor in Kraft, und so kann die WTO jederzeit weitere Gespräche über Agrarpolitik und öffentliche Dienstleistungen, über Gesundheits-, Bildungs-, Umwelt- und Kulturpolitik auf die Tagesordnung setzen. Das Abkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (Trips), das auch die Patentierung von Lebewesen regelt (siehe den Beitrag von Martine Bulard auf den Seiten 12 und 13), soll ebenfalls nachverhandelt werden.
Nach Seattle spulten alle Beteiligten ihr Verslein ab – nach dem Motto: „Nichts wird mehr so sein wie früher.“ Und in der Tat war Seattle ein entscheidender Moment, der nicht ungenutzt verstreichen darf. Verletzt, gedemütigt und auf Revanche sinnend, werden die Meistersinger des Neoliberalismus sich daranmachen, ihre Truppen erneut in Stellung zu bringen. Die Bürgerbewegung hat zwar Zeit gewonnen und einen Sieg errungen, aber den geforderten Verhandlungsaufschub oder eine Überprüfung der Arbeit der WTO konnte sie nicht durchsetzen. Die EU-Kommission will die Verhandlungen auf Expertenebene rasch wieder aufnehmen. Und die geladenen Sachverständigen rücken kein Jota vom Paradigma des freien Welthandels und ihrer Parole „Kommerz-über-alles“ ab. Im Interesse der transnationalen Firmen werden sie künftig nach Möglichkeit hinter verschlossenen Türen tagen und den Gegnern der wilden Globalisierung nie wieder eine Medienplattform wie in Seattle bieten.
Wir müssen also wachsam sein, die Moblisierung und den Druck aufrechterhalten und mit Gegenvorschlägen in die Offensive gehen. Diese Offensive muss auf die Regierungen, die Kommission, die WTO selbst und die transnationalen Unternehmen zielen und letztlich darangehen, eine wirkliche internationale Demokratie aufzubauen. Dazu bedarf es vieler Hände und eines langen Atems und noch vieler Diskussionen und Aktionen, die man nicht in allen Einzelheiten vorplanen kann. Schließlich hatten die französischen Bürger am Morgen des 15. Juli 1789 auch noch keine perfekte Vorstellung von den nachfolgenden historischen Etappen.
Einige Prinzipien lassen sich jedoch eindeutig benennen. Bereiche wie Gesundheit, Bildung und Kultur im weitesten Sinn dürfen in keinem Fall Gegenstand von Handelsvereinbarungen werden. Der Fall des hormonbehandelten Rindfleischs zeigt hinreichend, wie krass die WTO das Vorsorgeprinzip missachtet. Bei Zweifeln hinsichtlich der Unbedenklichkeit eines Erzeugnisses muss die Beweislast in Zukunft beim Exporteur liegen. Kein Lebewesen darf patentierbar werden, und jedes Land muss das Recht erhalten, Basisarzneimittel lizenzfrei im Inland herzustellen und zu vertreiben. Eine sichere Nahrungsmittelversorgung, mithin der Schutz der einheimischen Landwirtschaft, muss gegenüber dem Handel Priorität haben.
Die Rechtsprechung des WTO-Streitbeilegungsorgans muss sich geltendem Völkerrecht unterordnen, namentlich der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, den internationalen Umweltschutzabkommen und den grundlegenden Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Aufzuheben ist das WTO-Verbot, Importe auf Grund ihrer Produktionsprozesse und -verfahren zu benachteiligen; jedes Land muss das Recht haben, Produkte präferentiell zu behandeln, die nicht von Kindern oder Arbeitssklaven hergestellt wurden.
Was die Sozial- und Umweltkauseln betrifft, müssen wir einen Weg finden, der aus dem unfruchtbaren Nord-Süd-Gegensatz herausführt. Weil manche Länder des Südens ängstlich auf den einzigen Vorteil starren, den sie im Vergleich mit anderen haben – niedrige Löhne und billige, aber umweltschädliche Herstellungsverfahren – sehen sie in der Verabschiedung solcher Normen einen verdeckten Protektionismus. Insofern sollte man über ein System nachdenken, das die Länder, die im Bereich Arbeit und Umwelt große Anstrengungen unternehmen, nicht etwa – wie heute – bestraft, sondern belohnt. Natürlich denkt niemand daran, überall gleiche Löhne einzuführen oder Laos auf eine Stufe mit Luxemburg zu stellen.
Die Statistiken der Weltbank und des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) bieten ausführliche Informationen über das materielle und menschliche Entwicklungsniveau jedes einzelnen Landes. Auf dieser Basis könnten das Internationale Arbeitsamt (IAA) als ständiges ILO-Sekretariat und das UNDP alle Länder nach ihrem Entwicklungsniveau in Gruppen einteilen und evaluieren, wie sie die arbeits- und umweltrechtlichen Vorschriften einhalten. Den Gruppenbesten wären Präferenz- oder Nullzölle einzuräumen, die Erzeugnisse der anderen Länder würde man je nach Einstufung mit Zöllen belegen. Die Methode würde das System der Meistbegünstigungsklauseln ersetzen, das nur den „Wettlauf in den Abgrund“ begünstigt.
Die Anhänger des Neoliberalismus werfen den WTO-Gegnern vier Dinge vor: Erstens, sie hätten keine Ahnung; zweitens, sie würden niemanden repräsentieren außer sich selbst; drittens, sie seien gegen die Armen; und viertens, sie wollten keine Regeln, sondern das Gesetz des Dschungels. Dem ist entgegenzuhalten:
1. In Wahrheit bekämpfen die Nichtregierungsorganisationen und die Bürgervereinigungen die WTO gerade deshalb, weil sie die Sachlage sehr genau kennen.
2. In Seattle hat sich gezeigt, dass die Bürgerbewegung sehr viele Menschen repräsentiert.
3. So herzzerreißend es ist, dass die Neoliberalen sich plötzlich um die Geschicke der Armen im Süden sorgen (deren Interessen übrigens von den Regierungen dieser Länder nicht unbedingt vertreten werden), so selten wird man Arme finden, die froh darüber sind, dass sie für einen Hungerlohn und unter scheußlichen Bedingungen arbeiten dürfen, dass sie in einer zerstörten Umwelt leben und dass ihre Kinder nicht zur Schule können.
4. Die Bürgerbewegung will durchaus Regeln, aber andere als die der derzeitigen WTO.
Deshalb gibt es, wie die englischsprachigen WTO-Gegner kurz und bündig formulieren, nur eine Alternative: „Fix it or nix it“, reparieren oder abschaffen.
dt. Bodo Schulze
* Präsidentin des Obervatoire de la mondialisation (Paris), Vizepräsidentin der internationalen Initiative für eine Tobin-Steuer (Attac), neueste Veröffentlichung: „The Lugano Report. On Preserving Capitalism in the Twenty-first Century“, London (Pluto Press) 1999.