14.01.2000

Kommunales Wahlrecht für Ausländer

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Kommunales Wahlrecht für Ausländer

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

DIE Debatte über das Wahlrecht für Bürger aus Nicht-EU-Ländern ist erneut in Gang gekommen.1 Dabei wird offenbar, wie zäh sich überkommene Vorstellungen halten, aber auch, in welch logischer Sackgasse sich die Demokratie diesbezüglich befindet. Wie kann man die Teilhabe am Entscheidungsprozess so regeln, dass die Freiheit des Einzelnen ebenso respektiert wird wie das Gleichheitsprinzip?

Wo, wie in Frankreich, die Idee der Demokratie national verfasst ist, sind die politischen Rechte an die Nationalität gekoppelt. Man muss zunächst einer Nation angehören; erst dann erhält man die politischen Rechte inklusive des Wahlrechts. Diese Rechte konstituieren die Staatsbürgerschaft, die sich nach dieser Konzeption eindeutig und ausschließlich aus der Nationalität ergibt. Lange Zeit hat man außer Acht gelassen, dass es in verschiedenen Ländern einen bestimmten Prozentsatz an Ausländern gibt, die dort dauerhaft leben und die Nationalität entweder nicht beantragt oder nicht erhalten haben. Doch mit der Zeit hat der aktivere Begriff von Staatsbürgerschaft als Beteiligung des Bürgers am politischen Prozess die Idee befördert, dass auch diese Ausländer an all jenen Wahlen teilnehmen sollen, bei denen über die Bedingungen ihres täglichen Lebens entschieden wird. Die Frage ist seit den achtziger Jahren in der Diskussion, aber bis heute ungelöst. Nur die Niederlande, Irland, Dänemark und Schweden haben die sankrosankte Trennlinie zwischen Mitgliedern der Nation und „den anderen“ durchbrochen und allen Ausländern ein Wahlrecht auf kommunaler Ebene zugestanden.

Ein nächster Schritt war das Maastricht-Abkommen vom 7. Februar 1992, in dem die Mitgliedstaaten der EU sich verpflichteten, Unions-Ausländern das Wahlrecht zu gewähren.2 Das machte in einigen Ländern eine Verfassungsänderung erforderlich. In Frankreich hat man in der entsprechenden Bestimmung eine Ausweitung auf Ausländer aus anderen Herkunftsländern explizit ausgeschlossen.3 Damit haben die EU und ihre Mitgliedstaaten die Resolution des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 1989 nicht befolgt, wonach allen Ausländern, die in den EU-Staaten leben und arbeiten, das kommunale Wahlrecht eingeräumt werden sollte.

In Belgien wie in Deutschland steht die Diskussion über diese Frage regelmäßig auf der Tagesordnung. In Italien und Frankreich versprachen die heutigen Regierungsparteien, bevor sie an die Macht kamen, entsprechende Initiativen, deren Realisierung sie seither jedoch hinauszögern. Nach zwei Jahren Amtszeit hat die französische Linke nun ihr Versprechen erneuert, wenn auch in deutlich engerem Rahmen: Nur Ausländer, die über ein mindestens zehnjähriges Aufenthaltsrecht verfügen, sollen kommunales Wahlrecht genießen. Die Neuauflage der Debatte, ohne dass ein Entscheidungstermin feststehen würde, gestattet es den Parteien der Rechten, sich in ihren alten Positionen einzuigeln, worin sie sich übrigens von einem Teil der Linken gar nicht so sehr unterscheidet.

Heute sind die menschlichen Gesellschaften gewöhnlich nach Nationalstaaten organisiert (eher selten kommt es vor, dass mehrere Nationalitäten einen Staat bilden), und diese basieren auf dem Prinzip von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Diese Form verleiht dem Staat Vorrang, und der Staat befindet (zuweilen willkürlich) darüber, wer der Nation angehört und wer nicht. Von ihr ausgeschlossen bleiben die Ausländer, egal wie lange sie im Lande leben, wie tief sie verwurzelt sind oder welchen Anteil sie an der Produktion haben.

Doch da die Stadt im ursprünglichen Sinne des Wortes (polis) ein politisches Gemeinwesen ist, gewinnt die Vorstellung einer Demokratie im alltäglichen, lokalen Umfeld allmählich an Bedeutung. Alle Bürger sollten ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit an den Kommunalwahlen teilnehmen dürfen. Das städtische Gemeinwesen wäre damit auf alle Menschen erweitert, die in ihm leben. Dies ist Sinn und Gehalt der Reformen, die zur Zeit debattiert werden. Doch dieses Zugeständnis bleibt begrenzt, und die vorgelegten Entwürfe lassen das traditionelle Modell politischer Legitimität unangetastet.

Das national bestimmte Gemeinwesen bleibt nach dieser Auffassung ein symbolischer Bereich mit überaus strengen staatlichen Zugangskontrollen. Es gibt keinen tieferen Grund, warum das so sein soll; die einzige Erklärung liegt in den Machtverhältnissen. Warum sollen bestimmte Ausländer vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen bleiben, wo sie doch ihr tägliches Leben mit den Menschen teilen, die der Staatsnation angehören oder als EU-Ausländer wahlberechtigt sind. Warum sollen sie am Ende auf kommunaler Ebene ihre Stimme abgeben dürfen, nicht jedoch bei anderen Wahlen bis hin zu nationalen? Könnte es schlicht daran liegen, dass die entwickelten Länder aus ökonomischen Gründen fortfahren, die Bevölkerungen der ärmsten Länder zu instrumentalisieren? Denn es wird ja durchaus erwogen, Arbeitskräfte (und insbesondere junge) ins Land zu holen, um das Rentensystem zu stabilisieren, aber von der Politik sollen diese Menschen ausgeschlossen bleiben. Trägt diese “Demokratie“ damit nicht den Begriff zu Grabe, den sie von sich selbst entworfen hat - den Begriff einer Freiheit, an der alle teilhaben? Dass die Europäische Union einzig und allein den Unions-Ausländern das kommunale Wahlrecht eingeräumt hat, zeugt von einem aristokratischen Politikverständnis und kann kaum ohne Widerspruch bleiben.

Wenn man die wahre Substanz der Demokratie bejaht, muss man das Problem vom Kopf auf die Füße stellen. Unter welchen Bedingungen sind Wahlen Ausdruck von Demokratie? Was ist mit „dem Volk“ gemeint, das auf den verschiedenen, territorial abgestuften politischen Ebenen seine Vertreter wählen soll? Gewiss haben die Entscheidungen (je nach Fragestellung) eine unterschiedliche räumliche Tragweite; und selbstverständlich haben sich die Bürger von Saint-Dié nicht in die Angelegenheiten der Bürger von Dinan einzumischen. Aber es gibt keinen Grund, dass bestimmte Bürger von Saint-Dié von allgemeinen kommunalen Entscheidungen ausgeschlossen bleiben. Insofern stellt sich ein kommunales Wahlrecht für alle Bürger (ohne Ausnahme) als zwingend dar. Es liegt auf der Hand, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Verkehr, die sozialen Einrichtungen usw. alle Einwohner einer Stadt angehen, Entscheidungen diesbezüglich also alle betreffen werden. Indem die Maastricht-Reform das Kriterium der nationalen Zugehörigkeit im Falle einiger Bürger (der „EU-Ausländer“) fallen ließ, müsste dieses Kriterium nunmehr zwingend auch für alle anderen fallen.

Wenn aber das Argument nicht mehr zieht, das kommunale Wahlrecht müsse den Angehörigen der jeweiligen Staatsnation vorbehalten bleiben, so fragt sich, was daraus für die anderen Wahlen auf „höherer“ politischer Ebene folgt. In Frankreich lebende Ausländer leiden wie jeder Franzose auch unter der Umweltverschmutzung. Warum sollen diese Ausländer, die in Fragen der Bioethik, der politischen Freiheiten oder des Handels dem französischen Gesetz unterliegen und die an den französischen Staat Steuern abführen, vom nationalen Entscheidungsprozess ausgeschlossen bleiben, dessen Ergebnisse für die gesamte Bevölkerung bindend sind? Ist eine Frage verboten, weil man die Antwort fürchtet? Die Nation ist nicht so fragil, dass sie ohne das formale Kriterium des Wahlrechts untergehen müsste. Mehr und mehr setzt sich Identität aus verschiedenartigen Komponenten zusammen. Und wäre es denn so schrecklich, wenn ein Ausländer, der an seinem Herkunftsland festhält, an den dortigen Wahlen teilnähme, aber eben auch an den hiesigen - und zwar aus Interesse am politischen Leben des anderen Gemeinwesens, in dem er mittlerweile lebt?

Diese legitime Doppelzugehörigkeit, die immer noch hartnäckig abgelehnt wird, könnte allerdings überholt sein, bevor man sich noch ernsthaft mit ihr auseinander gesetzt hat. Denn ein beträchtlicher Teil der uns berührenden Entscheidungen ist den Kommunen, Regionen und Staaten entzogen, insofern sie von transnationalen ökonomischen oder institutionellen Faktoren bestimmt werden. Was sich hier abzeichnet, ist eine Art Weltstaatsbürgerschaft. In Seattle konnte man sie bereits am Werk sehen. Und könnte es angesichts einer Universalisierung des Begriffs der gesellschaftlichen Arbeit und der gesellschaftlichen Bedürfnisse überhaupt anders sein?

Wo sich früher ein Gemeinwesen nach den Menschen definierte, die zu einer Produktion beitrugen, wo sich eine lokale oder auch nationale Instanz benennen ließ, die unterschiedliche Interessen ausgleichen konnte, haben wir es heute - und zwar unwiderruflich - mit einer internationalisierten gesellschaftlichen Arbeit zu tun. Zu einem Produkt oder einer Dienstleistung, die auf den Markt kommt, tragen Mitglieder zahlreicher “Nationen“ bei. All dies relativiert das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Nation, während zugleich der menschheitliche Aspekt jenseits aller Ausschließungen deutlicher hervorzutreten beginnt. Reformen sollten in der Tat nicht überstürzt werden, aber es gibt welche, die dringend sind. Die Einführung des kommunalen Wahlrechts für alle Ausländer jedenfalls würde der Demokratie letzten Endes zu neuem Leben verhelfen.

dt. Passet/Petschner

* Rechtsprofessorin an der Université Paris-VIIDenis-Diderot.

Fußnoten: 1 Siehe „Monsieur Chevènement défend le vote des étrangers“, Le Monde, 10. Dezember 1999. 2 Artikel 8 B des 2. Teils des EG-Vertrags: „Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. 3 Verfassungsänderung vom 25. Juni 1992, Artikel 88.3 der Konstitution kam neu hinzu.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2000, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU