Wem gehört das Wissen?
Von PHILIPPE QUÉAU *
Die meisten Innovationen und Erfindungen stützen sich auf Ideen, die zum Gemeingut der Menschheit gehören. Deshalb liegt der Schutz einer globalen Public Domain für Daten- und Wissensbestände, Information und Forschung im Interesse der Allgemeinheit. Der Markt profitiert im Übrigen von diesen „Weltkollektivgütern“ wie den Ergebnissen staatlich finanzierter Umfragen oder Forschungsarbeiten – aber er wird sie weder schützen noch fördern.
Die „Multimedia-Revolution“ fungierte als Auslöser und Vorwand einer umfassenden Revision des geistigen Eigentumsrechts. Den Anfang machten die Vereinigten Staaten mit der Verabschiedung eines neuen Urheberrechts im Jahr 1976 (Copyright Act). Weitere Gesetze und Abkommen folgten: die EU-Richtlinien über den Rechtsschutz von Datenbanken1 und Computerprogrammen2 , die Verträge zum Schutz der Urheber und der ausübenden Künstler und Tonträgerhersteller, die im Dezember 1996 im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) geschlossen wurden, das US-Urhebergesetz für das digitale Jahrtausend (Digital Millennium Copyright Act) und das Sonny-Bonno-Gesetz zur Verlängerung des Urheberschutzes (Copyright Term Extension Act) vom Oktober 1998, das WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Trips)3 usw.
Die Schutzdauer für literarische und künstlerische Werke wurde verlängert, neue geistige Eigentumsrechte wurden eingeführt – beispielsweise das Schutzrecht sui generis, das nicht die Erfindung neuer Inhalte, sondern deren Bereitstellung in Datenbanken schützt –, weiterhin wurden rechtliche Ausnahmeregelungen wie die unentgeltliche Vervielfältigung bestimmter Werke („fair use“-Klausel) abgebaut, Nutzungsrechte in öffentlichen Bibliotheken in Frage gestellt und beschlossen, dass Computerprogramme künftig unter das Patentrecht fallen.
Vor Unterzeichnung des Trips-Abkommens erkannten Länder wie China, Ägypten und Indien zwar die Patente auf pharmazeutische Fertigungsverfahren an, nicht aber die Patente auf die Endprodukte. Sie stellten allgemeine Medikamente vor Ort her und konnten ihre Arzneimittelkosten dadurch in erheblichem Maße senken. Nach dem Bericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) von 1999 kosten manche Medikamente in Indien bis zu dreizehnmal weniger als im Nachbarland Pakistan, das die Patente auf Endprodukte anerkennt.
Von exemplarischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die südafrikanische Regierung inländischen Pharma-Unternehmen die Herstellung von Aids-Medikamenten gestatten will, obwohl die entsprechenden Patente bei amerikanischen und europäischen Firmen liegen.4 In einer Welt, in der sich nur die reichen Länder wissenschaftliche Forschung leisten können, während die Menschen in den armen Ländern aus Mangel an Arzneimitteln sterben, überzeugen die Spitzfindigkeiten des geistigen Eigentumsrechts nun einmal weniger als soziale Gegebenheiten. Doch die transnationalen Unternehmen und die nationalen Forschungsinstitutionen der reichen Länder lassen sich vom menschlichen Genom bis zum Erbgut subtropischer Pflanzen alles und jedes patentieren – ein regelrechter Überfall auf das Gemeingut der Menschheit.
So beschloss Ende 1997 die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), die Patentanmeldegebühren um 15 Prozent zu senken. Grund dafür war, dass die Zahl der Patentanmeldungen in weniger als zehn Jahren von einigen tausend auf mehr als 50 000 im Jahr 1997 gestiegen war. Die Organisation erzielte Überschüsse, für die sie keine Verwendung hatte.
Ein neuerer Bericht des UN-Entwicklungsprogramms5 regt an, einen Teil der Patentgebühren zur Finanzierung von Forschungen zu verwenden, die mangels Marktinteresse vernachlässigt werden. Die bekanntlich chronisch unterfinanzierten UN-Organisationen (Unesco, WHO, Unicef usw.) würden die Gelder verwalten und könnten ihre Rolle als Koordinator weltweiter Forschungsvorhaben besser erfüllen. Der Markt jedenfalls ist nicht imstande, diese Aufgabe wahrzunehmen. Vordringlich ist eine öffentliche Diskussion über den Schutz und die Finanzierung der „Weltkollektivgüter“, denn ohne diese Güter wird sich die Menschheit auf eine Ansammlung von Interessengruppen reduzieren. Gerade heute, wo die Privatwirtschaft nichts unversucht lässt, den Informationssektor zu vereinnahmen, stellt sich die Aufgabe, den Public-Domain-Gedanken mit neuem Leben zu erfüllen und gegen die Aneignungsgier partikularer Interessen zu verteidigen.
Nehmen wir beispielsweise den Bereich der Rohdaten und Faktensammlungen. In immer mehr Ländern gibt der Staat wichtige öffentliche Datenbanken in private Hände und verzichtet damit auf alle weiteren Verwertungsrechte. So ist seit einiger Zeit ein kommerzielles Unternehmen „Eigentümer“ der amerikanischen Börsendaten, so dass die US-Börsenaufsichtsbehörde (SEC) ihre eigenen Daten im Bedarfsfall zurückkaufen muss.
Das US-Justizministerium hat die Publikationsrechte für Bundesgesetze an das Verlagshaus West Publishing abgetreten. Eine käufliche Version dieser Publikation war mit einer Seitennummerierung versehen, die in früheren Prozessen als Verweisindex verwandt worden war. West Publishing leitete aus diesem angeblichen „Mehrwert“ einen Rechtsanspruch auf das „geistige Eigentum“ an der gesamten Bundesgesetz-Datenbank ab. Während der 104. Sitzungsperiode des US-Kongresses versuchte West Publishing sogar, den im Mai 1995 verabschiedeten Paperwork Reduction Act um eine Sonderklausel zu ergänzen, die das faktische Monopol des Unternehmens auf die Veröffentlichung von Bundesgesetzen rechtlich festgeklopft hätte. Eine Flut von Protestbriefen seitens einer Vereinigung von Steuerzahlern konnte das Manöver verhindern.
In einem anderen Fall übertrug 1985 das bis dahin öffentlich zugängliche US-Landsat-Erdbeobachtungsprogramm seinen gesamten Datenbestand auf ein Gemeinschaftsunternehmen von General Motors und General Electric namens EOPSat. Binnen kurzem stiegen die Zugangskosten auf das Zwanzigfache. Resultat: Viele Universitätsinstitute können sich den Zugriff auf die Datenbestände nicht mehr leisten – und dies, obwohl die Datensammlung ausschließlich mit öffentlichen Geldern finanziert wurde. Fortan profitieren davon hauptsächlich die großen Ölgesellschaften, die man damit indirekt subventionierte.
Diese Entwicklung führt zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Nettoeinfuhr- und Nettoausfuhrländern von geistigen Produkten sowie zwischen unterschiedlichen Interessengruppen (Aktionäre, Lehrer, Erzieher, Forscher, Nutzer). Um zu verhindern, dass finanzstarke Gruppen das geistige Eigentumsrecht zu ihrem ausschließlichen Vorteil beeinflussen, sollte das „Interesse der Allgemeinheit“ in den Mittelpunkt der Diskussion rücken.
Niemand wird bestreiten, dass Informationen, die in öffentlichen Datenbanken gesammelt werden, ein öffentliches Gut darstellen. Da der Staat ein Monopol auf die Sammlung solcher Informationen besitzt, darf er auf die entsprechenden Verwertungsrechte nicht verzichten, wenn dem Bürger kein Schaden entstehen soll. Die Eigentumsübertragung an Privatunternehmen gefährdet das Recht auf Information, wenn der Zugang zu öffentlichen Daten kostenpflichtig wird und der Genehmigung privater Institutionen bedarf.
Dass sich Europäer und US-Amerikaner in diesem Bereich prinzipiell einig sind, wird nur durch die immer wieder auflebende (und notwendige) Diskussion über die „kulturelle Ausnahme“ verdeckt. Die EU-Kommissarin für Bildung und Kultur, Viviane Reding, berichtet von ihrer Zusammenkunft mit Jack Valenti, Präsident der Motion Picture Association, die Hollywoods Interessen vertritt: „Die amerikanischen Verantwortlichen [...] halten den Wirbel, den wir um die Bewahrung ,kultureller Eigenheiten‘ veranstalten, für überholt. Ihre Hauptsorge gilt den Raubkopien und dem Schutz des Urheberrechts im Bereich der neuen Medien. Sie haben mir versichert, dass sie gegen unsere Quotenregelungen und öffentlichen Beihilfen keine Schritte einleiten werden. Sie wollen nur, dass wir gemeinsam Anstrengungen unternehmen, um diese neuen Herausforderungen zu bewältigen. Wenn die Werke, deren Produktion und Vertrieb wir fördern, dank der neuen Technologien anschließend gestohlen werden, bricht unser ganzes Fördersystem auseinander. Anstatt gegen die Amerikaner Front zu machen, sollten wir gemeinsam versuchen, unsere kulturellen Eigenheiten zu bewahren.“6
Wer mit diesen Raubkopierern und Dieben eigentlich gemeint ist, erläutert eine Mitteilung der EU-Kommission zum Trips-Abkommen: „Widerstand ist seitens einer Reihe von Entwicklungsländern zu erwarten, die Mitglied der Welthandelsorganisation sind. Sie sind der Auffassung, dass das Internationale Übereinkommen über den Rechtsschutz von neuen Pflanzenvarietäten7 vor allem den Eigentümern dieser Varietäten nützt und die Bedürfnisse der traditionell wirtschaftenden Bauern nicht berücksichtigt.“
Abschließend nennt die Mitteilung ein „strategisches Problem“: „Die Entwicklungsländer werden gegen die Aufnahme substantieller Verhandlungen über den rechtlichen Schutz geistigen Eigentums Widerstand leisten. Unter Umständen werden sie eine Diskussion über die Folgen des Trips-Abkommens für den Wettbewerb, für die Umwelt sowie für Gesundheit und Wohlstand fordern. Diesem Ansinnen ist im Interesse aller Parteien zu widerstehen.“8
Angeblich liegt der Schutz geistigen Eigentums im Interesse der Allgemeinheit. Die Allgemeinheit erhalte Zugang zu Wissen und Erfindungen und räume den Autoren als Gegenleistung (für eine begrenzte Dauer) das ausschließliche Verbreitungsrecht ein. Indes, die Verlängerung des Verbreitungsmonopols – der Sonny Bono Copyright Term Extension Act sieht eine Dauer von bis zu 95 Jahren vor – scheint wenig geeignet, das künstlerische Schaffen anzuregen. Anstatt nach neuen Talenten Ausschau zu halten, könnten sich die Verlage veranlasst sehen, sich auf ihrem Bestand bewährter Autoren auszuruhen. Um den künstlerischen Bereich in seiner Vielfalt zu erhalten, müssen Anreize für künstlerisches Schaffen gegeben und nicht ausschließlich die Rechteinhaber geschützt werden. Wenn die Gesellschaft dem Erfinder gewisse Schutzrechte einräumt, so muss dieser sich im „höheren Interesse der Menschheit“ als Gegenleistung bereit erklären, seine Erfindung in absehbarer Zeit in die Public Domain zu entlassen, oder eine hinreichend präzise Beschreibung veröffentlichen, um einen allgemeinen Zugang zu ermöglichen.
Im Übrigen schadet ein übermäßiger Schutz des geistigen Eigentums nur dem „freien Wettbewerb“, der für einen funktionierenden Markt unabdingbar ist. Bereits der Erlass von Allarde und Le Chapelier vom 2. und 17. März 1791 verleiht dem Prinzip der Gewerbe- und Handelsfreiheit und also der Freiheit zum Wettbewerb Ausdruck. Dieses Prinzip impliziert per definitionem die Möglichkeit, dasselbe Produkt anzubieten wie andere Mitbewerber auf dem Markt, und schließt daher auch die Freiheit zur Kopie ein.
Die derzeitige Entwicklung ist durchaus widersprüchlich. Auf der einen Seite herrscht weithin der Wille zur Deregulierung des Markts und zur Förderung „lauteren Wettbewerbs“; auf der anderen Seite nimmt die Macht der Oligopole und Monopole ständig zu. Wenn man den Geltungsbereich des geistigen Eigentumsrechts auf den Informationssektor ausweiten will, sollte man die Grundrechte nicht vergessen, namentlich das Recht auf freien Informationszugang und das Recht auf Meinungsfreiheit. In den Vereinigten Staaten geht die Idee des freien Informationszugangs auf die Gründerväter zurück. Thomas Jefferson sprach sich für die Einrichtung öffentlicher Bibliotheken aus und vertrat die Ansicht, auch geschützte Werke dürften zu Bildungszwecken frei verwendet und in akademischen Zusammenhängen frei zitiert werden.9
Theoretiker wie Friedrich Hayek mögen die Idee der „sozialen Gerechtigkeit“ für eine „dumme Beschwörungsformel“ und einen „gleichsam religiösen Aberglauben“ halten.10 Doch ohne Rekurs auf die Idee der sozialen Gerechtigkeit, die heute um das Adjektiv „global“ zu erweitern wäre, lässt sich ein solch wichtiges Schutzrecht wie das geistige Eigentumsrecht in der heutigen globalen Informationsgesellschaft weder begründen noch diskutieren.
dt. Bodo Schulze
* Leiter der Abteilung „Information und Datenverarbeitung“ der Unesco.