11.02.2000

Eine neue Basis für den Humanimus

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Eine neue Basis für den Humanimus

Von PATRICK VIVERET *

Um den Humanismus ist wieder eine große Grundsatzdiskussion entbrannt. Ausgelöst wurde sie von Fragen, die um die Stichworte „Revolution der Biowissenschaften“ oder „biologische“ und „genetische“ Revolution kreisen, von der wir, trotz gelungener In-vitro-Befruchtung und geklontem Schaf Dolly, lediglich die allerersten Phasen erleben. Zur großen ökologischen Herausforderung des 20. Jahrhunderts – ausgedrückt in der Frage: „Was machen wir aus unserem Planeten?“ – gesellt sich nun eine weitere, noch radikalere und den Menschen als solchen betreffende: „Was machen wir aus unserer Gattung?“

In dieser grundlegenden Frage hat sich eine progressive humanistische Tradition nicht nur mit ihren Gegnern auseinander zu setzen, auch in ihrem eigenen Lager herrscht der Dissens. Die These vom „Posthumanismus“ wurde in letzter Zeit vor allem von zwei Denkern unterschiedlichster Prägung verfochten. Francis Fukuyama wurde 1989 mit seinem ursprünglich in The National Interest erschienenen Aufsatz „The End of History“ (Das Ende der Geschichte) mit großem Werbeaufwand berühmt gemacht.1 Er wird der konservativen amerikanischen Rechten zugerechnet.

Der zweite ist Peter Sloterdijk, der früher in Deutschland zur radikalen Linken zählte. Sein Vortrag mit dem bezeichnenden Titel „Regeln für den Menschenpark“, gehalten im Juli 1999 auf einer Tagung über Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas, entfesselte eine heftige Polemik, die sich im Feuilleton der Zeit zur „Affäre Sloterdijk“ auswuchs. Nachdem der Aufsatz ins Französische übersetzt worden war, griff die Debatte auch auf Frankreich über, wo sie ihrerseits unterschiedliche Reaktionen hervorrief2 .

Fukuyamas neue „These“, wiederum in The National Interest veröffentlicht, ist eher ideologisch als theoretisch interessant. Indem sie aber den Standpunkt eines der profiliertesten „organischen Intellektuellen“ (Gramsci) des amerikanischen Kapitalismus ausdrückt, muss man sie zur Kenntnis nehmen und analysieren.

Fukuyama behauptet zunächst, die Ereignisse hätten seine Behauptung von der Vollendung der Geschichte (im Hegelschen und Marxschen Sinn) im Kapitalismus bewahrheitet, meint dann aber ohne mit der Wimper zu zucken, in einem Punkt habe er Unrecht gehabt: Die biotechnische Revolution werde die Voraussetzungen für eine posthumane Geschichte schaffen. Die Megalomanie des Autors einmal beiseite gelassen, sollten wir das damit aufgeworfene Problem hinterfragen: Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den beiden „Revolutionen“ der Informationstechnologie einerseits und der Biotechnologie andererseits, und welche Auswirkungen werden sie auf die Weltordnung haben?

„Die erste fällt zwar mehr ins Auge“, schreibt Francis Fukuyama, „doch die bedeutendsten Umwälzungen sind von der zweiten zu erwarten.“ Das Argument wird ausgeführt in einem Passus, der hier vollständig wiedergegeben werden soll, denn er formuliert sehr direkt die anthropologischen Postulate des angelsächsischen Kapitalismus:

„In der Zeit nach der Französischen Revolution entstand eine Reihe von Lehren, die die Grenzen der menschlichen Natur zu überwinden hofften mit der Schaffung eines neuen Menschentyps, der frei sein würde von den Befangenheiten und Beschränkungen der Vergangenheit.

Das Scheitern dieser Experimente am Ende des 20. Jahrhunderts hat die Grenzen eines gesellschaftlichen Konstruktivismus aufgezeigt und eine liberale marktwirtschaftlich ausgerichtete Gesellschaftsordnung bestätigt, die auf selbstverständlichen Wahrheiten über die ‚Natur und den Gott der Natur‘ basiert. Möglicherweise aber waren die Werkzeuge der Sozialkonstruktivisten des 20. Jahrhunderts, angefangen bei der Sozialisierung in der frühen Kindheit über die Psychoanalyse bis hin zu Agitprop und Arbeitslagern, zu grob für eine grundlegende Veränderung des natürlichen Substrats des menschlichen Verhaltens.

Der offene, unabsehbare Charakter der modernen Naturwissenschaften berechtigt aber zu der Annahme, dass in ein oder zwei Generationen die Biotechnologie uns Werkzeuge an die Hand gibt, mit denen wir das werden vollbringen können, was den Gesellschaftsingenieuren der Vergangenheit nicht gelungen ist. An diesem Punkt werden wir tatsächlich am Ende der menschlichen Geschichte angelangt sein, weil wir die Menschen als solche abgeschafft haben werden. Und dann wird eine neue, posthumane Geschichte beginnen.“3

Wir befinden uns, wie man sieht, mitten im berühmten, 1932 erschienenen Sciencefiction-Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley. Francis Fukuyama begnügt sich nicht damit, das Ende der menschlichen Ära zu verkünden (und implizit zu rechtfertigen). Die lange Passage, die er der chemischen Behandlung der Gemütszustände durch „Prozac“ widmet, erinnert in befremdlicher Weise an jene Soma-Pillen, die Huxleys Romangestalten bei der geringsten Widerwärtigkeit schlucken. Sein permanentes Loblied auf die Ungleichheit lässt auch ahnen, dass sich unser Autor ohne allzu große Bedenken eine Welt vorstellen könnte, in der Untermenschen im Dienst von Übermenschen stünden. So gesehen, läuft die Behauptung von einer posthumanen Welt eher auf einen theoretischen und praktischen Antihumanismus hinaus als auf das, was man Liberalismus nennt.

Diese angeblichen Liberalen beweisen nämlich – im Namen des „Gottes der Natur“, wie Francis Fukuyama sich ausdrückt – einen harten kulturellen und einen nicht weniger scharfen politischen Antiliberalismus, der sich hauptsächlich in einer repressiven Immigrationspolitik äußert, denn Freizügigkeit im Kapitalverkehr ist schließlich etwas ganz anderes als Freizügigkeit im Personenverkehr. Auch ihr wirtschaftlicher Liberalismus ist sofort weniger radikal, sobald amerikanische Positionen betroffen sind und die Interessen des Kapitalismus – wie schon von Fernand Braudel schlüssig dargelegt – zur eigentlichen Logik des Marktes in Widerspruch geraten. Letzteres erleben wir bei den vielen Fusionen zu großen Trusts, Kartellen und Monopolen, die der Marxschen Kritik ganz neue Aktualität verleihen.4 Die Gemeinsamkeiten dieser „Liberalen“ sind jedenfalls in ihrem ideologischen und praktischen Antihumanismus zu suchen, der eine herrschende Welt-Unordnung rechtfertigen soll, die fast drei Milliarden Menschen in menschenunwürdigen Verhältnissen darben lässt.

Dass in Europa eine humanismuskritische philosophische Strömung wiederauflebt, ist im selben Zusammenhang zu sehen. Wie bei Francis Fukuyama, so ist auch bei Peter Sloterdijk eher das bei ihm zum Ausdruck kommende bedenkliche ideologische Symptom von Interesse als der Gehalt seines Denkens: Nicht jeder, der ein Nietzsche sein will, ist es auch! So wagemutig, dass er wie dieser „mit dem Hammer philosophiert“, ist er übrigens längst nicht, denn in weiten Teilen seines Textes hält er sich bedeckt und wendet eine Methode an, die mitunter an die in rechtsextremen Kreisen so beliebten suggestiven Bedeutungsverschiebungen erinnert. Die verwendeten Ausdrücke – „Menschenpark“, „Züchtung“, „Domestikation“ usw. – erwecken bei einem der Philosophiegeschichte unkundigen Leser den Eindruck, als würde hier die Instrumentalisierung und Unterordnung eines Teils der Menschheit legitimiert. Kritisiert man aber, vor allem in Deutschland, seine Thesen als gefährlich und rückwärts gewandt, spricht er von Verleumdung und behauptet, er gebe ja nur Platon wieder.

Unter Berufung auf dessen „Politeia“ (Der Staat) kann Peter Sloterdijk beispielsweise schreiben: „Seit dem ‚Politikos‘ und seit der ‚Politeia‘ sind Reden in der Welt, die von der Menschengemeinschaft sprechen wie von einem zoologischen Park, der zugleich ein Themenpark ist; die Menschenhaltung in Parks oder Städten erscheint von jetzt an als eine zoo-politische Aufgabe.“ Und etwas weiter: „Was nun den platonischen Zoo und seine Neueinrichtung anbelangt, so geht es bei ihm um alles in der Welt darum, zu erfahren, ob zwischen der Population und der Direktion eine nur graduelle oder eine spezifische Differenz besteht.“ Der Leser, der den intellektuellen und politischen Kontext von Platons Werk nicht kennt, ist beeindruckt und hält sich für ungebildet. Die Einschüchterung soll Kritik verhindern, während die Suggestion bei denen, die insgeheim jubeln bei solchen Worten, perfekt funktioniert.

Genügen aber Entrüstung und Warnung vor faschismusverdächtiger Eugenik, wie sie von Jürgen Habermas und einigen seiner Schüler kamen? Entrüstung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Aus zwei gewichtigen Gründen sollten wir die Krise des Humanismus in der Moderne sehr genau betrachten: Der erste hängt mit seiner ungenügenden Berücksichtigung der neuen Informationstechnologien und der biotechnischen Revolution zusammen. Der zweite, der eher historisch ist, hat mit Unzulänglichkeiten der von der Aufklärung ererbten Triade Individuum-Vernunft-Fortschritt zu tun. Die großen ethischen und humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts und das unmenschliche Gesicht des industriellen Kapitalismus im 19. Jahrhundert haben möglicherweise zwei große Schwachstellen dieser Triade deutlich werden lassen.

Zum einen die ökologische Schwachstelle: Indem er den kartesianischen Menschen zum „Herrn und Eigentümer der Natur“ machte, ohne sich über seine Verantwortung gegenüber der Umwelt Gedanken zu machen, war der vom technischen Fortschritt und vom neuen Dreigestirn Wissenschaft-Technik-Markt faszinierte Humanismus nicht gewappnet gegen etwas, was Ivan Illich in den siebziger Jahren seinen „kontraproduktiven Anteil“ nannte. Zum anderen die anthropologische Schwachstelle: Indem er nach dem Zusammenbruch der „Ordnungsgesellschaften“ alle gesellschaftliche Bindung ausschließlich auf das rationale Individuum gründete, verkannte er dessen Verankerung in der Gemeinschaft und schuf ein Neben- oder Gegeneinander zwischen Staat und Individuum, was die Organisationsmuster des kapitalistischen Typs ebenso begünstigte wie etatistische Denkweisen und zudem die emotionalen und spirituellen Seiten des menschlichen Daseins unterbewertete.5

Wenn wir uns – für uns selbst und für die künftigen Generationen – der ökologischen Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung und der anthropologischen Herausforderung einer möglichen Manipulation der menschlichen Gattung stellen wollen, dürfen wir nicht vergessen, dass ein neuer Humanismus dynamische Spannungen in sein Denken einbeziehen muss: zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen kritischer Vernunft und Sinnsuche, zwischen Eingriffen in die Natur und Wahrung der Biosphäre, zwischen technisch-wissenschaftlichem Fortschritt und Aufmerksamkeit auf dessen potentielle zerstörerische Auswirkungen. Um dem Gerede von der Posthumanität etwas entgegenzusetzen, muss jeder Versuch einer Neubegründung den Wandel der Kommunikationstechnologie und die Revolution der Biowissenschaften miteinbeziehen, da sie in ihrer systemischen Beziehung sämtliche Fixpunkte des menschlichen „Wohnens“ grundlegend verändern. Es verändert sich sowohl unser Wohnen in der Welt als auch unser Wohnen im Körper, und zwar bis in intimste Bereiche hinein, an dem Punkt nämlich, an dem Reproduktionsmedizin unmerklich zu einer auf den Menschen angewandten Fortpflanzungstechnologie übergeht.

Unter solchen Umständen überrascht es nicht, dass sich gegen die Instrumentalisierung und Kommerzialisierung – zu nichts anderem nutzt der moderne Kapitalismus den doppelten Wandel – heftiger Widerspruch erhebt, der sich auch gegen das richten kann, was progressiven und feministischen Bewegungen als gesellschaftliche Errungenschaft gilt, Abtreibung zum Beispiel oder künstliche Befruchtung.

Die radikalste Kritik formuliert wohl die Psychoanalytikerin Monette Vacquin, die in ihrem Buch „Mains basse sur les vivants“ (etwa: Das Leben instrumentalisieren)6 eine entscheidende Frage stellt: „Ich wollte verstehen und darlegen, warum unsere Generation die Abstammung von der Sexualität abgetrennt hat, warum sie heute im Begriff ist, den Unterschied zwischen den Generationen einzuebnen und die Elternschaft völlig auszulöschen.“ Sie verurteilt die „undurchsichtige und unheimliche Verbindung zwischen industrieller Züchtung und Geburtshilfe“ und fragt sich, wie Wissenschaftler, die während des Krieges oder danach geboren sind und einmal aktive Antifaschisten waren, der Welt „die Werkzeuge einer hirnrissigen Eugenik“ zur Verfügung stellen konnten – „gegen ihre wertvollsten Ideale, als ließen sie sich von einer Wiederholung narren? (...) Warum dieser Geruch eines extrem archaischen Unbewussten in der avanciertesten Wissenschaft? (...) Warum raubt uns diese Anbrandung groß geschriebener Vernunft den eigenen Verstand? Und warum erscheint jetzt die Menschheit als etwas, was man nur noch hinter sich lassen kann?“

Für Monette Vacquin ist also die Perspektive des Klonens nur die Spitze eines Eisbergs, dessen unsichtbarer Teil kindliche Allmachtsphantasien und eine verkappte Umgehung des Inzestverbots birgt: „Nennen wir ihn inzestuös, diesen Trend zur Entdifferenzierung, der unweigerlich zur Standardisierung und zur Fabrikation von Gleichem führt.“ Sie zitiert Jean Baudrillard: „Wir begehen keinen Inzest mehr, aber wir haben ihn in allen seinen Spielarten verallgemeinert. (...) So haben wir das Verbot umgangen: durch die fortlaufende Unterteilung des Gleichen, durch die Kopulation des Gleichen mit dem Gleichen, ohne den Weg über das Andere.“7

Als Endpunkt dieses Prozesses stellt sich das Klonen dar. Es verfügt nicht mehr über die versöhnlichen Perspektiven psychotherapeutischer Bemühungen, die nach Ansicht der Autorin das Denken eingelullt haben. Erst im Zusammenhang mit dem Klonen sei es wieder möglich geworden, dass „in der Welt der Wissenschaften ebenso wie in der bürgerlichen Welt vom Verbot explizit gesprochen wird – nachdem es in dieser elementaren Formulierung zwanzig Jahre lang weitgehend fehlte, namentlich in Gesetzestexten, wo man Umschreibungen benutzte, um das Wort zu vermeiden und dadurch, denke ich, das Gewissen einer Generation zu schonen, die das Verbieten verboten hatte.“

Manchmal fragt man sich, wo die Grenzen verlaufen zwischen Monette Vacquins berechtigter Kritik und den fundamentalistischen Positionen, die das Verbot des Klonens von Menschen in eine Reihe stellen mit der totalen Ablehnung nicht nur der Abtreibung oder der Empfängnisverhütung, sondern auch der gesamten Fortpflanzungsmedizin, einschließlich jeglicher Forschung am Embryo, der als Person definiert wird. Mit einem Wort: Müssen wir, weil wir nicht wollen, dass menschliches Leben instrumentalisiert und kommerzialisiert wird, einigen Haupterrungenschaften einer liberalen Kultur wieder abschwören? Der Biologe Henri Atlan verneint dies. Er kritisiert nicht weniger entschieden als Monette Vacquin die verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus für den Bereich der Biologie, doch er zieht daraus in manchen Punkten gegenteilige Schlüsse.

In seinem neuesten Buch „Les Etincelles de hasard“ (Funken des Zufalls)8 hält Henri Atlan am emanzipatorischen Aspekt der Fortschrittstradition fest, indem er ihn mit einer ebenso profunden wie faszinierten Lektüre Spinozas und der Kabbala untermauert: „Wissenschaft und Technik scheinen die Kinder Adams und Evas allmählich vom alttestamentarischen Fluch der Arbeit im Schweiße des Angesichts und des Gebärens unter Schmerzen zu erlösen.“ In Einklang mit Hannah Arendt stellt er fest, dass „die Bestimmung des Menschen, jedenfalls für die Meister des Talmud, eindeutig in der schöpferischen Tätigkeit des Wissens, in der Weisheit liegt, mit Sicherheit aber nicht in der Knechtschaft des Schmerzes und in Arbeitsfron.“ Doch er geht über solche Erwägungen – die an André Gorz erinnern9 – noch hinaus, um einer anderen, weit über die schmerzfreie Geburt hinausgehenden Emanzipation das Wort zu reden, die, wie er sagt, „eine vollständige Befreiung von der Last des Kinderkriegens“ bedeuten würde – „zumindest für die Frauen, die es als Last empfinden.“

Aller Schmerzen und Mühen ledig

HENRI ATLAN akzeptiert uneingeschränkt die von Empfängnisverhütung und Familienplanung bereits eingeleitete Trennung von Fruchtbarkeit und Fortpflanzung und meint, dass „der Prozess bewusster Planung, der zur Zeit im Gange ist, mehr oder weniger langfristig auf eine völlige Trennung von Fortpflanzung und Sexualität hinauslaufen könnte. Die Kinder würden dann von Anfang bis Ende künstlich erzeugt: In-vitro-Befruchtung oder Klonen, dann künstliche Schwangerschaft außerhalb des Körpers der Frau.“ Natürlich, so fügt er an, „sind wir noch weit von der extrakorporellen Gestation entfernt, doch im Prinzip ist durchaus vorstellbar, dass die vielfältigen technischen Probleme, die die Herstellung eines künstlichen Uterus aufwirft, einmal gelöst sein werden“.

Risiko oder Chance? Henri Atlan ist der Ansicht, dass beide Möglichkeiten offen sind.10 Er wendet sich zwar entschieden gegen jegliche Logik der Instrumentalisierung menschlichen Lebens und misst der Frage der Abstammung eine reelle Bedeutung bei, gleichwohl sieht er nicht ausschließlich negative Konsequenzen, wenn Sexualität und Fortpflanzung voneinander getrennt werden. Zwei Sätze aus seinem Buch sollen hier zitiert werden, mit gebotener Vorsicht, denn aus dem Kontext einer Befürwortung des Klon-Verbots gerissen, könnten sie missverstanden werden. Aber sie lassen den Kern seines Dissenses mit Monette Vacquin deutlich werden: „Die Herstellung menschlichen und nichtmenschlichen Lebens wird, wie es aussieht, unumgänglich sein im Hinblick auf die Befreiung der Menschheit vom Fluch ihres Erdendaseins, der jegliches Überleben und Fortleben mit Leiden verbindet. Die Mühen der Arbeit und die Schmerzen der Geburt wird es nicht mehr geben. Die menschliche Fortpflanzung mittels Klonen wäre ein Schritt weiter in diese Richtung.“

Diese Ansicht hindert ihn freilich nicht, sich – ebenso wie die französische nationale Ethikkommission, der er als einflussreiches Mitglied angehört – für ein generelles Verbot des Menschen-Klonens auszusprechen. Er begründet indessen dieses Verbot weder biologisch („zwei geklonte Menschen sind genetisch weniger gleich als eineiige Zwillinge“) noch religiös oder metaphysisch; seine Talmud-Lektüre hat ihn zu Schlussfolgerungen kommen lassen, die denen der Traditionalisten entgegengesetzt sind.

In Anbetracht des gegenwärtigen moralischen Zustands der Menschheit hält er das gesellschaftliche Risiko für ausschlaggebend: „Wie in der Legende von Rabbi Löw und dem Golem, den er verfertigte, hängt alles davon ab, ob die menschlichen Gesellschaften moralisch der Herausforderung gewachsen sind, die die Möglichkeit, menschliches Leben rational vollkommen zu verstehen und zu beherrschen, darstellt. (...) Man kann sich ohne weiteres eine Zeit vorstellen, wo eine befriedete und für die Raffinessen des Lebens und des Geistes immer empfänglichere Menschheit fähig sein wird, fortschrittliche Technik vernünftig und sinnvoll zu nutzen, auch auf dem Gebiet der Lebenserzeugung.“

Auch Jacques Testart spricht in einem neuen Buch11 dieses zentrale Thema an, wobei er Monette Vacquin wohl näher steht als Henri Atlan. Sein Herangehen fußt allerdings stärker auf den politischen und biologischen Gegebenheiten, und seine nuancierte Rechtfertigung der direkten Injektion der Samenzelle in die Eizelle, für die er weltweit einer der besten Spezialisten ist, würde wahrscheinlich auf den Widerspruch so manchen radikalen Kritikers stoßen. Mit Monette Vacquin teilt er die Überzeugung, dass das Klonen grundsätzlich und definitiv verboten werden muss. Aber er findet es „illusorisch, eine ,französiche Nationalethik‘ aufstellen zu wollen, während gleichzeitig die Wirtschaft globalisiert wird“. Da Frankreich zu den restriktivsten Ländern zähle, gingen manche Patienten ins Ausland, um dort das machen zu lassen, was im Inland verboten sei, zum Beispiel Ei-Spende innerhalb der Familie, Gastmutterschaft, Empfängnis nach den Wechseljahren.

„Schlimmer noch“, fährt Jacques Testart fort, „manche Spezialisten umgehen selbst das Gesetz, indem sie entweder außerhalb der Landesgrenzen herumlaborieren (man muss ja veröffentlichen!) oder in Frankreich entnommene Zellen in Institute im Ausland schicken, um sie dort gesetzwidrigen Praktiken zu unterziehen (Embryo-Forschung, genetische Diagnose vor der Implantation). (...) Eine Lösung gibt es nur, wenn Ethikregeln von der ganzen Gattung akzeptiert werden (...), und der Weg dazu wurde geebnet durch die Schaffung einer internationalen Ethikkommission unter der Ägide der Unesco.“ Wenn die Bioethik der Menschheit nützen soll, so müsse sie von den Bürgern der Welt erarbeitet werden, „sonst ist sie lediglich ein Feigenblatt für professionelle ,Bioethiker‘, tagungsverliebte Gruppen, renommiersüchtige Wissenschaftler oder Mediziner und Industrielle auf der Suche nach neuen Absatzmärkten“.

Diese Ethikregeln, von denen Jacques Testart spricht, werden in einem kürzlich in Frankreich erschienenen Sammelband12 ausführlich und minutiös diskutiert. Die Juristin Mireille Delmas-Marty betont darin unter anderem, man dürfe den Begriff der Menschheit nicht auf die mit dem Gattungsbegriff bezeichnete biologische Dimension reduzieren. Wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sage, alle Menschen seien „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, so seien sie biologisch gesehen eben nicht gleich, nicht einmal wirklich frei. Es gebe also etwas im Menschen, was sich niemals auf seine biologische Definition reduzieren lasse und diese unendlich weit übersteige. Und wenn man die „Menschenwürde“ beschwöre, die in allen großen Erklärungen gegen das Klonen der zentrale Begriff sei, so sei diese Würde immer ex negativo bestimmt, weil der positive Gehalt sich der Definition zum Teil entziehe.

Deshalb auch ist die symbolische Dimension so wichtig, die vom Anthropologen Marc Augé im selben Band untersucht wird. Wie Monette Vacquin spricht Marc Augé vom regressiven Risiko eines „Rückschritts zur anfänglichen Undifferenziertheit“. Die Entstehung der Humanität verbinde sich mit der „Entdeckung des Unterschieds: Unterschied der Geschlechter, des Anderen, des Todes“. Aber wie lässt sich die Trilogie Sexualität-Andersheit-Tod positiv verbindlich formulieren? Das Paradox ist gewaltig und unlösbar.

Denn die Bestrebungen des Menschen, ob auf politischer oder kultureller Ebene, ob wie in jüngster Zeit mit den Mitteln der Chemie oder im biologischen Bereich, zielten stets darauf ab, uns gerade von dem Leiden zu erlösen, das diese dreifaltige Differenz mit sich bringt. Von der Faszination durch das Eine (im Gegensatz zum Anderen) bei den ersten Philosophen über die Verehrung des einen und alle Götter auf sich vereinenden Gottes der Religionsgeschichte bis hin zum Neuen Menschen, den die totalitären Regimes im großen gesellschaftlichen Ganzen aufgehen lassen wollten, stellt sich ein bedeutender Teil der Menschheitsgeschichte als Auflehnung gegen den Unterschied dar. Sich für die Humanität entscheiden heißt also, den Phantasmen, Mythen und unterschiedsverwischenden Realitäten eine Anschauungsweise entgegenhalten, in der das Anderssein eine Chance und nicht eine Bedrohung bedeutet.

Ist in einer solchen dynamischen Perspektive eine neue Fundierung des Humanismus denkbar, die die wesentlichen Argumente der besprochenen Autoren einbezieht, auch ihren Dissens fruchtbar macht? Ein Weg in diese Richtung könnte sein, Kindlichkeit und Infantilität zu unterscheiden. Die von Monette Vacquin klar analysierte Gefahr, die vom Infantilen und Phantasmatischen im Allmachtsstreben (oder Allwissenheitsstreben) der gegenwärtigen Wissenschaft und Technik ausgeht, erscheint umso größer, als sie mit dem ebenfalls grenzenlosen Streben nach Reichtum und Macht beim Finanzkapital verquickt ist. In diesem Sinn könnte man die vom Kapitalismus verursachte psychische (infantile) Störung als Allmachtswunsch deuten, verbunden mit gleichzeitiger Ablehnung von Verantwortung. Weil sie die verheerenden Folgen einer Freiheit ohne Verantwortung ahnen, sind denn auch die Verfechter einer ultraliberalen Ökonomie meistens kulturell und politisch antiliberal eingestellt.

Doch das Problem eines infantilen Phantasmas macht nicht das Beste im Kind zunichte, und das ist vor allem seine produktive Neugierde und seine Fähigkeit, sich an den Herrlichkeiten des Lebens zu freuen. Als Albert Einstein einmal gefragt wurde, was den echten Wissenschaftler kennzeichne, antwortete er: Die Fähigkeit, im Erwachsenenalter Kinderfragen zu stellen. Aus ebendiesem Grund kann man den biblischen Satz, dass das Himmelreich sich nur dem kindlichen Herzen zeige, nicht dem Infantilen zuschlagen. Beide Aussagen enthalten einen wahren Kern, den man zusammenfassend in die Frage kleiden könnte: Wie kann man erwachsen werden, um zu werden wie die Kinder? Es geht darum, eine dynamische Alternative zum Infantilismus und zur Starrheit des Erwachsenenzustands aufzutun.

So wird auch verständlicher, was Atlan meint, wenn er von der Möglichkeit eines moralischen Fortschritts der Menschheit spricht, der das Klonen ohne zerstörerische Folgen denkbar werden ließe. Verbote werden immer nötig sein, doch sie könnten unterschiedlich beschaffen sein. Man kann entweder aus einer radikal pessimistischen Sicht der menschlichen Natur der Meinung sein, man müsse mit absoluten Verboten den Menschen vor seinem eigenen Irrsinn (oder der Erbsünde) schützen. Man kann das Verbot aber auch als strukturierendes Moment der Öffnung verstehen, auf eine Freiheit hin, die sich zur Verantwortung nicht antinomisch verhält. Forschung, der Eingriff in die Natur, die Überschreitung der gesellschaftlichen oder moralischen Verbote von einst werden dann legitim und fruchtbar sein, weil sie von einer Humanität zeugen, die sich nicht zurück-, sondern fortentwickelt.

Sollten wir uns nicht diese spirituelle und gleichzeitig politische Weisheit zu eigen machen, um in unseren Gemeinschaften und in uns selbst den tiefen Wunsch wieder zu entdecken, die Conditio humana bewusst zu leben, selbst wenn wir die technischen Mittel hätten, uns von ihr frei zu machen?

So gründet sich die neue Humanität, die neue Menschheit, die sich Edgar Morin herbeiwünscht13 , auf einen zweifachen erzieherischen Appell, nämlich „die Conditio humana zu lehren“ und „den Beruf des Lebens zu erlernen“. Besteht nicht die beste Antwort auf die Menschheitsverdrossenheit – die sich im Wunsch des Abschieds von ihr ausdrückt – darin, dass man für ein aufrechtes und bewusstes Erleben des Abenteuers Mensch einsteht? Die infantile Regression verweigern, aber lernen, mit dem Herzen eines Kindes erwachsen zu werden: Ist dies nicht das Programm einer faszinierenden, sich fortschreibenden Geschichte des Menschengeschlechts?

dt. Josef Winiger

* Herausgeber von „Transversales Science/Culture“.

Fußnoten: 1 Der vom unbekannten Beamten des State Department zum Professor an der George Mason University avancierte Fukuyama wurde durch die Stiftung des Chemiekonzerns Olin „aufgebaut“. Über die Mittelsmänner Allan Bloom und Samuel Huntington, beide Forschungsdirektoren bei Olin beziehungsweise an der Universität von Chicago und an der Harvard University, lancierte diese nach Fukuyamas 1988 gehaltenem Vortrag über „Das Ende der Geschichte“ eine künstliche „Kontroverse“. Die anfänglich von der Zeitschrift The National Interest (Sommer 1989) und ihrem Direktor Irving Kristol – beide ebenfalls von Olin gesponsert – propagierte Debatte wurde schließlich von den großen Medien übernommen. Vgl. dazu Susan George, „Eine kurze Geschichte des Einheitsdenkens“, Le Monde diplomatique, August 1996. Der Vortrag über das „Ende der Geschichte“ ist enthalten in Francis Fukuyama, „Das Ende der Geschichte: wo stehen wir?“ Aus dem Amerikan. von Helmut Dierlamm, München (Kindler) 1992. 2 Peter Sloterdijk, „Regeln für den Menschenpark“, Frankfurt (Suhrkamp) 1999. Die französische Übersetzung erschien in Le Monde des débats, Oktober 1999. Die Novembernummer derselben Zeitschrift enthielt Reaktionen deutscher und französischer Intellektueller wie Henri Atlan und Bruno Latour. Zur Affäre vgl. auch Libération vom 27. September und 22. November und Le Monde vom 29. September 1999. 3 Francis Fukuyama, „The End of History Ten Years Later“, The National Interest 56, Sommer 1999. Die französische Übersetzung ist in Le Monde vom 17. Juni 1999 erschienen. 4 Vgl. Frédéric F. Clairmont, „Riesenspielzeug Weltwirtschaft“, Le Monde diplomatique, Dezember 1999. 5 Vgl. Jean-Claude Guillebaud, „La Refondation du monde“, Paris (Seuil) 1999. 6 Monette Vacquin, „Main basse sur les vivants“, Paris (Fayard) 1999. 7 Jean Baudrillard, „Transparenz des Bösen: ein Essay über extreme Phänomene“, aus dem Franz. von Michaela Ott, Berlin (Merve) 1992. Die Übersetzung wurde leicht verändert. 8 Henri Atlan, „Les Etincelles de hasard“, Paris (Seuil) 1999. Nach einer talmudischen Legende sind die „Zufallsfunken“ Spermatropfen, die Adam während einer hundertdreißigjährigen Trennung von Eva verspritzte. 9 André Gorz, „Arbeit zwischen Misere und Utopie, aus dem Franz. von Renate Hörisch-Helligrath, Frankfurt (Suhrkamp) 2000. 10 Als Ergänzung zu den Büchern von Henri Atlan und Monette Vacquin vgl. die Debatte zwischen den beiden Autoren in Transversales Science/Culture Nr. 61, Januar/Februar 2000. 11 Jacques Testart, „Des hommes probables“, Paris (Seuil) 1999. 12 Henri Atlan, Marc Augé, Mireille Delmas-Marty, Roger-Pol Droit, Nadine Fresco, „Le Clonage humain“, Paris (Seuil) 1999. 13 Edgar Morin (Hg.), „Relier des connaissances“, Paris (Seuil) 1999. Das Buch enthält die Beiträge der von Edgar Morin organisierten Thementage anlässlich der Diskussion der Gymnasialreform in Frankreich.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von PATRICK VIVERET