11.02.2000

Das endlose Warten auf die Demokratie

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Das endlose Warten auf die Demokratie

Von JEAN-PIERRE OLIVIER DE SARDAN *

Der Sturz ihres Präsidenten Henri Konan Bédié durch die Armee der Elfenbeinküste ruft wieder einmal die Symptome in Erinnerung, die in der Regel zu einem Staatsstreich führen. Gravierende institutionelle Krisen, die in ausweglosen politischen Sackgassen enden, Entscheidungsträger ohne Legitimierung und schwache Eliten, an denen politische Erneuerungsversuche scheitern, unfähige Regierungen und zerrüttete Verwaltungen sind die Anzeichen, die verschärft in jenen Ländern aufgetreten sind, die in letzter Zeit Staatsstreiche erlebt haben.

Die Lage ist sehr viel verzweifelter, als man gemeinhin annimmt, denn die diplomatischen Szenarien und die juristischen oder institutionellen Analysen neigen dazu, das Problem herunterzuspielen: Die politischen und administrativen Apparate der afrikanischen Länder sind unfähig, mit dem von einer öffentlichen Hand erwarteten Mindestmaß an Wirksamkeit, Transparenz und Gleichbehandlung zu operieren.

Die Krise ist in erster Linie institutionell: Die so genannte Demokratisierung hat zum Mehrparteiensystem und zu einem gewissen Maß an Pressefreiheit geführt, aber nicht zur grundlegenden Akzeptanz des politischen Machtwechsels. Bis heute ist Benin das einzige herausragende Beispiel eines wirklichen Machtwechsels durch Wahlen. In den meisten Fällen denkt der Präsident, wenn er einmal an der Macht ist, nicht im Geringsten daran, seinen Platz durch Wahlen auch wieder abzugeben. Das betrifft sowohl die ehemaligen Diktatoren als auch die ehrbaren, von der internationalen Öffentlichkeit hochgepriesenen „Demokraten“. Die Truppen des Präsidenten werden dann zu den Garanten der politischen Kontinuität. In den meisten Ländern wird massiv Wahlbetrug betrieben – vor, während oder nach dem Urnengang. Jede unter solchen Bedingungen abgehaltene Wahl verstärkt die Illegitimität der Herrschenden beziehungsweise diskreditiert das System der Demokratie, statt es zu untermauern.1

Das Mehrparteiensystem hat leider nicht zu einer auch nur minimalen Akzeptanz der Spielregeln geführt, weder bei den Machthabern noch bei den ewig zerstrittenen und von Krisen geschüttelten Oppositionellen. Brachialgewalt als politische Strategie ist die Norm. Jede politische Krise wird zu einer Krise des Regimes. Man könnte sogar sagen, der einzige Unterschied zwischen dem heutigen Mehrparteiensystem und dem ehemaligen Regime der Einheitsparteien sei, dass es heute in jedem Land mehrere Parteien gibt, die sich jeweils wie eine Einheitspartei aufführen. Es gibt keinerlei politischen Ehrenkodex, nicht einmal einen stillschweigenden. Wie aber kann ein Staat ohne ein Mindestmaß an institutionellem Konsens auskommen?

Alles scheint erlaubt. Ständig wechseln Verantwortliche das politische Lager, sind in barocke Intrigen verwickelt, bringen andere mit unlauteren Mitteln zu Fall. Ein gutes Beispiel sind die Manöver Konan Bédiés, um Alassane Ouattaras Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen in der Elfenbeinküste zu verhindern. Diese Manöver haben sicher zum Sturz Konan Bédiés beigetragen. Afrika leidet nicht, wie man unbedarfterweise glauben mag, an mangelnder politischer Erfahrung, sondern an einem Überschuss an Politikstrategien.2 Das permanente Aufeinanderstoßen der Ambitionen geht zu Lasten der Ideen.

Die Presse ist ein guter Indikator für diesen Missstand. Die Freiheit der Schriftmedien ist die große Errungenschaft der jüngsten Demokratisierungsbemühungen, und eine Vielzahl an Titeln erscheint auf dem Markt. Aber von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie kein Forum für seriösen Journalismus oder den lebendigen Austausch von Meinungen und Analysen. Sie dienen vor allem der Verbreitung von Gerüchten, Denunzierungen und Verleumdungen (der Machthaber durch die Oppositionellen und umgekehrt). Oft bezahlen Politiker Journalisten, um ihre Gegner anzugreifen. Die Fernsehsender bleiben Sprachrohr der Regimes, ihre Nachrichtensendungen sind ein Trauerspiel an Unterwürfigkeit.

Das alles lässt kaum Raum für eine wirkliche Debatte über das Management der öffentlichen Dienste. Man steckt also mitten in einer Krise der Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte. Die Staatsapparate kranken in den meisten Fällen an der Unfähigkeit der Machthaber, das System der Pfründen zu überwinden, staatliche Ressourcen werden regelmäßig von hohen Funktionsträgern ausgeplündert, auf allen Ebenen des Staatsdienstes gelten „Gefälligkeiten“, „Empfehlungen“ und „Patenschaften“ mehr als Kompetenz.

Die Haltung der Oppositionsparteien ist nicht grundlegend anders. Sie entwickeln kein Programm einer alternativen „Gouvernance“, sondern vermitteln der Öffentlichkeit den jämmerlichen Eindruck, ihre Hauptsorge sei, den Platz der anderen einzunehmen, um sich selbst zu bereichern. Die Plattformen der verschiedenen Parteien überbieten sich in Platitüden und enthalten nicht die kleinste Idee zur Reformierung des Systems. Natürlich sind die wirtschaftlichen Spielräume eng: Die Strukturanpassung und die Privatisierung der öffentlichen Unternehmen blieben nicht ohne Auswirkung. Hinzu kommen der Schuldenberg, die Rohstoffpreise und die Abhängigkeit von den Geldgebern als wesentliche Zwänge. Dennoch existieren ernsthafte politische, fiskalische und soziale Möglichkeiten, die nicht ausgeschöpft sind und die es erlauben würden, die Regierungsgeschäfte zu optimieren: Was kann man tun, um die Steuerflucht einzudämmen, wie ist ein Minimum an Integrität im öffentlichen Dienst zu erreichen, wie ist die regelmäßige Bezahlung der Beamten zu gewährleisten und damit ihre Arbeitsmoral zu verbessern, wie kann man die Schutzgelderpressungen beenden, wie kann man einen minimalen, auch für Arme zugänglichen Gesundheitsdienst aufrechterhalten, was ist zu tun, um ein wenig Vertrauen in den Staat herbeizuführen? Trotz der moraltriefenden Texte der Weltbank und der Europäischen Union haben die „Demokratien“ der neunziger Jahre den vorangegangenen Diktaturen kaum etwas voraus.

Die Krise als Krise der Entwicklungshilfe

DIE afrikanischen Eliten sind seit vierzig Jahren an der Macht und haben auf moralischem Gebiet versagt.3 Alle Beschwörungen aus westlichen Kreisen werden nichts nutzen, beziehungsweise eher schaden, solange nicht in Afrika selbst Reformer und Reformerinnen im wahren Sinn des Wortes die Initiative ergreifen. Es gibt sie wohl, aber man kann sie in der Öffentlichkeit weder sehen noch hören. Man bedenke nur, wie viele bedeutende, kompetente und ehrliche afrikanische Kader und Intellektuelle in den letzten vierzig Jahren an den Rand gedrängt worden sind: Die einen verfielen den Tröstungen des Alkohols, die anderen zogen sich in die besser gefederten Gefilde der internationalen Organisationen zurück und überließen ihr Land verbittert den Emporkömmlingen und Geschäftemachern!

Auch die westlichen Demokratien tragen einen Teil der Verantwortung, denn die Krise ist auch eine Krise der Entwicklungshilfe. Bekanntlich haben im Rahmen des Kalten Krieges beide Lager die schlimmsten Verirrungen der herrschenden Eliten wohlwollend geduldet. In den siebziger Jahren, zur Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, wurden aberwitzige Kreditlinien eingeräumt, und zugleich wurde Afrika zum Friedhof für weiße Elefanten aller Art, von denen eine große Zahl Unternehmen aus dem Norden ausgiebig profitierten. Die Ende der achtziger Jahre im Gegenzug aufgezwungene Strukturanpassung erfolgte im Wirtschafts- und Finanzsektor, galt aber nicht einer kompetenten Verwaltung. Das wachsende Desinteresse der westlichen Länder hat die bereits brutalen Folgen von Krise und Strukturanpassung weiter verschärft.

Nehmen wir das Beispiel Frankreich, das oft wegen der archaischen Aspekte seiner Politik kritisiert wird (neokoloniale Nostalgien und Erdölmachenschaften). Das ist nicht mehr unbedingt das Schlimmste. Viel schädlicher ist die Unfähigkeit der offiziellen französischen Stellen, eine andere, der Krise der afrikanischen Staaten angepasste Entwicklungspolitik auszuarbeiten und anzuwenden.

Genau wie bei den afrikanischen Politikern herrscht auch bei den französischen Verantwortlichen eine konsternierende Ideenlosigkeit. Die großen Verlautbarungen der Konferenz von La Baule (Juni 1990) mündeten lediglich in diffusem Druck auf notorische Diktatoren, damit diese sich einen demokratischen Anstrich zulegten. An keinem einzigen Punkt wurde eine ernst zu nehmende Strategie zur Unterstützung eines besseren Verwaltungsapparats entwickelt.

Diese Krisen verbergen weitreichendere Phänomene. In den achtziger Jahren hat sich die Lage zu einem Teufelskreis ausgewachsen. Je mehr sich die Schwächen der afrikanischen Staaten offenbarten, desto stärker initiierten die Geldgeber, die sich kaum bemüßigt sahen, nachweislich ineffiziente nationale administrative oder technische Dienste zu subventionieren, ein System, in dem jedes bilaterale oder multilaterale „Projekt“ zu einer kleinen, gut bestückten, am Tropf hängenden und unter Fremdkontrolle stehenden Insel funktionsfähiger Bürokratie inmitten eines Ozeans unfähiger, elender, sich selbst überlassener lokaler Verwaltung wurde.

Die Medizin hat den Zustand des Patienten also erheblich verschlechtert. Die immer ärmeren und immer unfähigeren staatlichen Dienste haben nicht einmal mehr den Anschein von Legitimität oder einen Anflug von Autorität angesichts all jener „Projekte“ – seien es die gewichtigen der Weltbank oder die kleineren einer ganzen Bandbreite von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) –, die verschwenderisch mit Subventionen, Krediten, Gehältern und anderen Vergünstigungen um sich werfen. Je mehr Geld in die Projekte floss, desto weniger hatte der Staat.

Das Projektsystem hat dazu geführt, dass eine Vielfalt von parastaatlichen Enklaven unter direkter Kontrolle der Geber entstanden ist. Diese Enklaven übernehmen nun in einer Art ruhigem, herablassendem Luxus eine diffuse, ungleichmäßige und unkoordinierte Reihe von staatlichen Aufgaben, zu denen unter anderem Bildungs- und Gesundheitswesen, Forstwirtschaft, Wasserbau im kleinen Umfang und landwirtschaftliche Infrastrukturförderung gehören. Der Staat kann das Projektsystem weder bremsen noch kontrollieren. In einer Zeit tragischer Mittelknappheit ist jedes „Projekt“ sinnvoll, da es um das individuellen Überleben geht. („Wenn ich dir ein Huhn schenke, dann befingerst du nicht seinen Bürzel, um zu sehen, ob es fett oder mager ist.“4 )

Die einem Projekt zugeordneten lokalen Beamten erhalten plötzlich das drei- bis zehnfache Gehalt des öffentlichen Dienstes. Die internationalen Organisationen, die NGOs und die bilateralen Entwicklungsgruppen in den afrikanischen Ländern stellen Ortskräfte zum gleichen Tarif wie die Projekte ein. Die Angestellten im Privatsektor und die nationalen Consultants und Consultingfirmen (ein im Augenblick florierender Markt) beziehen noch höhere Gehälter und Honorare.

Man weiß noch nicht, in welchem Ausmaß die staatlichen Dienste geschwächt werden durch diesen Schwund ausgebildeter und kompetenter Kader (von der Abwanderung der besten Köpfe ins Ausland ganz zu schweigen). Vor diesem Hintergrund scheint jegliche makroökonomische Überlegung absurd, die die offiziellen Staatsgehälter zur kalkulatorischen Grundlage nimmt. Doch die Wirtschaftsexperten des IWF und der anderen Geber tun das weiterhin. Die Gehälter der kompetenten Kader außerhalb der Verwaltungen „globalisieren“ sich und entsprechen nun in keiner Weise mehr den internen offiziellen Gehältern. Niemand fühlt sich einem so schlecht zahlenden Dienstherrn noch in irgendeiner Weise verpflichtet.

Natürlich ist die Produktivität des öffentlichen Sektors schwach, und weil es zu viele Beamte gibt, glänzen sie, wo sie gebraucht würden, durch Abwesenheit. Doch die Strukturanpassungspläne gehen erst gar nicht auf das eigentliche Problem ein, wenn sie eine bedeutende Senkung des Lohnaufkommens fordern, das durch die freiwillige oder erzwungene Kündigung eines Teils der Beamten bei gleich bleibendem Gehalt für die anderen erreicht werden soll. Eine effiziente Verwaltung kann nur durch eine bedeutende Erhöhung der Gehälter von kompetenten Beamten auf die Beine gestellt werden. In der heutigen Situation wenden sich die fähigen Köpfe entweder vom öffentlichen Dienst ab oder nutzen ihn zu ihrer persönlichen Bereicherung: Die Korruption legitimiert sich durch die lächerlich geringen „offiziellen“ Gehälter der Beamten.

In Afrika ist die Korruption sichtbar und allgegenwärtig, während sie in Europa eher versteckt agiert und auf bestimmte Sektoren beschränkt ist. Westliche Unternehmen haben wesentlich zur Entwicklung der Korruption in Afrika beigetragen. Sicher, die „große Korruption“ auf der Führungsebene hat nichts gemein mit der „kleinen Korruption“ der Polizeibeamten, lokalen Diensthabenden, Krankenpfleger, Zöllner usw., von der jeder weiß. Doch die Korruption ist in fast allen afrikanischen Ländern auf allen Ebenen zum Routineelement für das Funktionieren der staatlichen und parastaatlichen Verwaltungsdienste geworden. Die Beamten leisten ihren Kunden nur noch privat verlässliche Dienste, sei es im Rahmen von Gefälligkeiten oder Korruption. Die Bevölkerung hat dabei spezifische Fertigkeiten entwickelt, ohne die im postkolonialen Milieu nicht zu überleben wäre.

Die Korruption ist zwar allgemein verbreitet, aber paradoxerweise wird sie stigmatisiert. In allen öffentlichen und privaten Diskursen und auf allen Ebenen der Gesellschaft, in allen Phasen seit der Unabhängigkeit, ist die Kritik an der Korruption ein zentrales Element. Doch diese Ankreidungen ziehen fast nie juristische Schritte nach sich, und die Antikorruptionskampagnen hier und da bleiben lediglich Strohfeuer. Je mehr sich das Phänomen entwickelt, desto tiefer greift die Korruption als soziale Gewohnheit und desto weniger wird es möglich, Einhalt zu gebieten. Es entsteht eine Art „Korruptionskultur“, die das Laster zu verewigen droht.

Die Krise wird verschärft durch eine obsessionelle Gier nach Barem, die die heutigen afrikanischen Gesellschaften in allen Schichten durchzieht. Die wirtschaftliche Situation verringert die zur Verfügung stehenden Ressourcen und ist damit eine der offensichtlichen Ursachen. Darüber hinaus ist es ein echtes „gesellschaftliches Problem“, dass die auswuchernden Verpflichtungen, die sich aus Familienfesten und anderen sozialen Ereignissen ergeben, heute mit Geld abgegolten werden müssen.

Eine weitere Ursache des übermäßigen Bargeldumlaufs ist der Klientelismus: Jeder, der Zugang zu Ressourcen hat (Händler, Beamte, die befördert wurden oder auf Dienstreise gehen, politische Verantwortliche usw.), muss notwendigerweise einen Teil des Geldsegens weiterverteilen, nicht nur an eine große Anzahl von Familienmitgliedern, sondern auch an seine diversen „Klienten“. Selbst die Demokratie wird in diesen Mechanismus integriert, denn in ganz Afrika werden systematisch Stimmen gekauft.

Wer Freunde, Verwandte, Kollegen trifft, muss unentwegt zum Geldbeutel greifen. Alltägliche Formen des gesellschaftlichen Umgangs werden unter großem sozialen Druck mit Geld gepflegt. Dies zwingt alle Welt zur ständigen Suche nach „Mitteln“. Der starke Kontrast zwischen den Elendslöhnen und dem ständigen Gelddruck lässt ihnen keine andere Wahl. Jeder Beamte, der Aussicht hat auf eine Dienstreise, einen Workshop, eine Ausbildung, hat nur noch diese Zugewinnmöglichkeit im Kopf, und viele Mängel der Verwaltung haben damit zu tun.

Viele Dienstleistungen werden zwischen Verwaltung und Kunden im Rahmen eines stark entwickelten und sehr fordernden persönlichen Beziehungsnetzwerks ausgetauscht. In Afrika, besonders in den Städten, gehen die sozialen Netzwerke weit über den Rahmen der Familie hinaus, die ja bereits stark verzweigt ist und auf deren Druck und Anforderungen reagiert werden muss. Jeder verfügt mit den Verbindungen zu Freunden, Nachbarn, Klassenkameraden, Arbeitskollegen, Parteifreunden, Kirchgängern und Vereinsbrüdern über ein großes Kapital an sozialen Beziehungen, die die moralische Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfestellung beinhalten. Der Kreis derer, denen man Dienste leisten muss und die man um Hilfe bitten kann, ist also sehr groß.

Korruption, das Öl der Bürokratie

DAS System wird demnach zu einem des „allgemeinen Austauschs“ von „Gefälligkeiten“, die die Form einer Berechtigung annehmen. In den heutigen afrikanischen Verwaltungen ist der allgegenwärtige Austausch von „persönlichen Gefälligkeiten“ funktionale Anforderung (sie ist die Voraussetzung jeglicher Effizienz bei jedem Verwaltungsschritt) und zugleich normative Anforderung geworden (sie ist die Grundlage jeglicher gesellschaftlichen Integration). Das gilt ebenfalls für Beförderungen und die Vergabe von Posten. In den Staatsdiensten ist die Gefälligkeit nicht nur das Öl, das die bürokratischen Räder schmiert, sie ist auch ein zentrales Regulierungsinstrument. Da immer wieder Einfluss genommen, interveniert und Druck ausgeübt wird, gibt es so gut wie keine behördlichen Sanktionen.

Überdies sind die Akteure mit der Unfähigkeit des Staatsapparats konfrontiert, Spielregeln aufzustellen und durchzusetzen, die alle akzeptieren. So haben sie sich mit der Entwicklung inoffizieller Normen auseinander zu setzen. In vielen sozialen Bereichen gibt es kein oder kein funktionierendes offizielles Regelsystem, und mehr oder weniger konkurrierende „faktische“ Normen machen sich breit. Das führt zu einer Art Schizophrenie bei vielen Beteiligten, die hin- und hergerissen sind zwischen nicht angewandten oder nicht anwendbaren offiziellen Vorschriften, die nach außen hin und im Kontakt mit den Gebern als Referenzgröße gelten, und den vielfältigen inoffiziellen Regeln. Die Normen – ob offiziell oder inoffiziell – sind zudem häufig instabil, porös, vage und ohne feste Konturen. Sie erlauben also einen großen Verhandlungsspielraum auf allen Ebenen, zu Hause und im Dorf oder im Umgang mit der Verwaltung. Deshalb sind die verschiedenen Vermittler und Unterhändler in den heutigen afrikanischen Gesellschaften so wichtig.

Die Koexistenz von mannigfaltigen Regeln und Werten ist selbstverständlich kein auf Afrika beschränktes Phänomen. Doch die postkolonialen Gesellschaften des schwarzen Kontinents zeichnen sich durch eine besonders breite Normenvielfalt aus. Sie ist Spur oder Folge der jüngsten Geschichte Afrikas: Über die immense Vielfalt der vorkolonialen Situationen legte sich das spezifische System der Kolonialverwaltung mit juristischen, administrativen und politischen Ebenen, dann ein teils an westliche Vorbilder und teils an die Sowjetunion angelehnter postkolonialer Staat, der in vierzig Jahren nacheinander Einheitsparteien, Militärregimes und Nationalkonferenzen erlebt hat. Heute sind die zahllosen Mängel des afrikanischen Staates und seiner Dienste neue Ursachen für das Nebeneinander der Normen. Die Unfähigkeit des Staates, Impulse zu geben, zu planen, Mittel zu verteilen oder auch nur Kontrolle auszuüben, ist besonders eklatant auf lokaler Ebene, und dort haben informelle Organisationsformen aller Couleur freies Spiel.

Typisch für die Zerrüttung ist der Gesundheitsbereich. Nur Priviligierte genießen sozialen Schutz und haben Zugang zu einem Mindestmaß an Fürsorge.5 Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist die medizinische Versorgung in der Regel mangelhaft und relativ teuer. Überall beherrschen Korruption und Gefälligkeiten die Beziehungen zum Pflegepersonal. Privatpraxen und illegaler Medikamentenhandel blühen vor dem Hintergrund eines total heruntergewirtschafteten staatlichen Gesundheitsdienstes. Doch auch im Bildungssektor, von den Grundschulen bis zur Universität, sieht es kaum besser aus. Er verkommt ebenso wie die Justiz, die wegen ihrer Korrumpierbarkeit und ihrer Unterwürfigkeit gegenüber den Machthabern verpönt ist. In Afrika erfüllt der Staat nicht eine seiner wesentlichen Rollen, nicht einer der Dienste, die ein Staat seinen Bürgern zu leisten hat, ist in noch so geringer Weise gewährleistet.

Die in dieser Situation erforderlichen radikalen Reformen können nur zustande kommen, wenn reformfähige Kader aus afrikanischen Ländern und reformfähige Kader der Entwicklungsinstitutionen des Nordens zusammenarbeiten. So könnte man sich „nationale Reformpakte“ vorstellen, die zwischen Geberinstitutionen und afrikanischen Ländern, die vom Bankrott bedroht sind, ausgehandelt werden. Die vereinbarten Hilfeleistungen müssten die Begleichung der Inlandsschulden (ungezahlte Gehälter und Schulden bei lokalen Unternehmen) erlauben, die häufig zugunsten der Auslandsschulden vergessen werden, aber weit mehr zur Destabilisierung beitragen. Die öffentlichen Dienste müssten angemessen ausgestattet werden, und ebenso müssten Maßnahmen zur Vertrauensbildung gegenüber den Verwaltungen getroffen werden, wie z.B. die Einführung echter und effektiver Stellenausschreibungen oder Prüfungen bei der Vergabe von Stipendien.

Gleichzeitig könnte man spezifische Produktivitäts- und Antikorruptionspakte ausarbeiten, die in den jeweiligen Verwaltungen freiwillig von Beamten unterzeichnet würden und von deren Einhaltung die Mittelvergabe für den jeweiligen Sektor sowie Gehaltserhöhungen abhängig wären. Man könnte zudem die Gründung von Verbrauchervereinigungen und von Antikorruptionsinitiativen unterstützen und diesen Organisationen den Zugang zum Staatsfernsehen ermöglichen.

Die Millionen Menschen, die seit über fünfzig Jahren in Bürgerkriegen den Tod fanden und in letzter Konsequenz an den Folgen der Staatszerrüttungen gestorben sind, aber auch die bedrohlichen Wolken, die sich über den noch in Frieden lebenden Ländern zusammenziehen, zeigen, wie dringend solche Reformen sind.

dt. Christiane Kayser

* Studiendirektor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Forschungsleiter am Centre National de Recherches Scientifiques, Paris.

Fußnoten: 1 Siehe Martine-Renée Galloy und Marc-Eric Gruénais „Afrika holt seine Diktatoren aus der Urne“, Le Monde diplomatique, November 1997. 2 Siehe Christophe Champin und Thierry Vincent, „Afrikanische Präsidenten als PR-Produkt“, Le Monde diplomatique, Januar 2000. 3 Diese Situation geht historisch gesehen auf die Kolonialzeit zurück, doch die Schuld der Kolonialherren kann die afrikanischen Politiker nicht aus der eigenen Verantwortung entlassen. 4 Worte eines Bauern aus Burkina Faso in: Marie-Christine Huéneau und Bernard J. Lecomte, „Sahel, les paysans dans les marigots de l’aide“, Paris (L’Harmattan) 1998. 5 Vgl. Martine Bulard, „Nachrichten vom biologisch-medizinischen Komplex“, und Colette Berthoud, „Risikofaktor Mutterschaft“, Le Monde diplomatique, Januar 2000.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von JEAN-PIERRE OLIVIER DE SARDAN