Der Papst kam nicht bis Babylon
Von HANA JABER und CHALIL KAMUK *
Der Weg nach Ur ist weit. Auf der Straße von Bagdad nach Nasriyeh geht es vierhundert Kilometer durch die ländlichen Gebiete im Herzen des Irak. Vereinzelte Palmenhaine säumen die Route, stellenweise ist das Land überflutet, und immer wieder reichen kleine Sumpfgebiete bis an die Straße. Obwohl der Boden fruchtbar ist, wird das Land kaum bewirtschaftet, viele Höfe sind verlassen. Hin und wieder kommen namenlose kleine Ortschaften in den Blick, niedrige Häuser aus Lehm und Stroh. Man sieht Schaf- und Kuhherden, die von Frauen, Männern oder Jugendlichen gehütet werden, hagere Gestalten schleppen Reisigbündel und Wassereimer. Im Dezember ist es hier sehr kalt.
Ob es Papst Johannes Paul II., wenn er seinen für Januar geplanten Besuch im Irak nicht abgesagt hätte, aus der Vogelperspektive des Hubschraubers deutlich geworden wäre, wie langsam die Zeit hier verstreicht? Hätte er auch nur geahnt, wie mühselig der Weg zu Abrahams Geburtshaus für gewöhnliche Sterbliche ist? Hätte er erfahren, dass Ur heute an einen Armeestützpunkt grenzt und von meist blutjungen Soldaten bewacht wird, die schlotternd vor Kälte an ihren Wachhäuschen stehen, Papiere kontrollieren und darauf beharren, jeden Besucher zu begleiten? Was hätte er überhaupt zu suchen gehabt an diesem Ort mitten im Nirgendwo, mitten in der von Schiiten bewohnten Region im Südirak, wo man die Christen an einer Hand abzählen kann?
Für die Archäologen ist Ur eine der bedeutendsten Ausgrabungsstätten des alten Zweistromlands. Hier finden sich zahllose Tonscherben aus der großen Vergangenheit Mesopotamiens, als die Sumerer und die Chaldäer herrschten. Der Teil des Grabungsfelds, auf dem sich Abrahams Geburtsstätte befinden soll, wurde 1922 von einem britischen Archäologen erschlossen. Seit November 1999 ist er für die Öffentlichkeit gesperrt, Wissenschaftler und private Firmen sind damit beschäftigt, Abrahams Haus wieder aufzubauen und die Wege für den Papst samt Papamobil anzulegen. Dayef, Wachmann an diesem Ort und der einzige Sterbliche, der sich dort ständig aufhält, weiß über den Besuch des Heiligen Vaters nicht mehr, als dass „eine bedeutende Persönlichkeit aus der Welt des Glaubens“ erwartet wird.
Die örtlichen Behörden halten sich bedeckt und warten auf Anweisungen aus Bagdad. Bis auf weiteres werden sie niemanden nach Ur hineinlassen, der nicht in offizieller Begleitung erscheint und die entsprechenden Papiere vorweisen kann. Unterdessen zeigt sich die Führung in Bagdad im Hinblick auf den päpstlichen Besuch ausgesprochen kühl und zurückhaltend. Die offizielle Haltung spiegelt sich in den Äußerungen einiger irakischer Intellektueller wider, die den Vorwurf erhoben, der Vatikan vertrete eine „einseitige Auffassung von der Geschichte Abrahams“1 , und die Frage aufwarfen, ob der Papstbesuch überhaupt einen Sinn habe, wenn er nicht mit Kritik an der Embargopolitik verbunden sei: „Wer, wenn nicht die Religion, sollte es sich zur Aufgabe machen, das Leben der Menschen zum Besseren zu wenden?“
Der Weg des Heils, auf dem Ur angeblich die erste Station2 sein sollte, erweist sich als diplomatischer Kreuzweg. Durch das politische Gewicht, das er hätte haben können, war dieser Besuch von Anfang an gefährdet. Und so wurde er angekündigt, diskutiert und kritisiert – und schließlich abgesagt. Dabei sollte er doch die gute Nachricht vom Anbruch einer gnadenreicheren Zeit verbreiten. Die Wirkung, die der Besuch des Papstes in Kuba gehabt hat, veranlasste das Oberhaupt der chaldäischen Kirche, Raphael I. Bidawid, in dem Besuch Johannes Pauls II. eine Art Durchbrechung des Embargos zu sehen, einen Versuch, der Weltöffentlichkeit die Leiden des irakischen Volkes bewusst zu machen. Ohne von den offiziellen Positionen abzurücken, empörte er sich, als Iraker wie als Mann der Kirche, über den psychologischen Druck, der auf den Oberhirten der katholischen Christenheit ausgeübt wurde: „Die Feinde des Irak haben alle Anstrengungen unternommen, um den Papst von diesem Besuch abzubringen. Eine solche Haltung sollte unter der Würde dieser Staaten sein. (...) Der Vatikan ist doch keine Kolonie der Vereinigten Staaten, der Papst hat den Rang eines souveränen Staatschefs. Für die Amerikaner, in deren Land 70 Millionen Katholiken leben, hätte dieser Besuch eine wichtige moralische Lektion werden können.“
Dass der Papst nun doch nicht in den Irak reisen werde, ließ der Vatikan seinen Sprecher am 10. Dezember 1999 in einer offiziellen Verlautbarung mitteilen: „Der Staatssekretär des Vatikan wurde von den irakischen Behörden informiert, dass die besondere Situation, in der sich das Land aufgrund des Embargos und der Flugverbote befindet, aber auch die allgemeine Lage in der Region eine angemessene Vorbereitung auf den Besuch des Oberhaupts der Kirche in Ur unmöglich machen.“
Für den Irak mit seiner blutigen Geschichte bedeutet die Absage dieses Besuchs kein gutes Zeichen für den Beginn eines friedvollen Jahrtausends.3 Die verschiedenen Kirchen des Landes hatten sich auf das Ereignis bereits vorbereitet und die Messe auf dem „Platz der Feiern“ geplant, zu der, nach Ansicht von Patriarch Raphael I. Bidawid, mehr als hunderttausend Menschen zusammengekommen wären. Man hoffte auf die Wirkung der Ansprache des Heiligen Vaters an die Iraker und der Worte, die er, in kleinerem Rahmen, an die treue Christengemeinde richten würde. Es hätte der glanzvolle Auftakt zu einer Ära des Friedens werden sollen, als deren Botschafter die Christen auftreten wollten.
Die blutigen Konflikte zwischen ethnischen und religiösen Gemeinschaften, die den Norden wie den Süden des Landes erschütterten, hatten die Christen isoliert und an den Rand der politischen Szene gedrängt. Nun hofften sie auf ihren großen Auftritt in einem historischen Augenblick. Nach Schätzung des Weltkirchenrats leben im Irak 1,2 Millionen Christen, 5,45 Prozent der Gesamtbevölkerung von 22 Millionen. Einige halten diese Zahlen für realistisch, andere für zu hoch gegriffen4 – in jedem Fall ist klar, dass die Christen in der irakischen Gesellschaft eine Minderheit sind. Diese weist allerdings eine ethnische und religiöse Vielfalt auf, die Teil des nationalen Kulturerbes ist und zurückgeht auf die Zeiten des alten Mesopotamien und der Bibel, als die ersten Spaltungen unter den Christen auftraten. „Wir sind nicht nur die ersten Christen im Irak, sondern auch die ersten Iraker“, meint Peter, ein Universitätslehrer, der zur chaldäischen Gemeinde gehört. Tatsächlich stellen die Chaldäer die Mehrheit der irakischen Christen. Ähnlich wie die Maroniten im Libanon bilden sie eine Kirche mit eigenem Oberhaupt, eine Kirche, die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrheitlich an Rom anschloss. Zuvor gehörten die Chaldäer zur östlich-orthodoxen (nestorianischen) Kirche. Die übrigen Christen im Irak gehören der armenischen, syrischen, griechisch-orthodoxen oder koptischen Kirche an. Von den neueren Sekten seien die Evangelisten oder Zeugen Jehovas erwähnt, deren Einfluss seit dem Ende des Krieges zunimmt.
„Gemessen an der Zahl der Christen, gibt es im Irak mehr Kirchen als in Rom“, meint der chaldäische Patriarch. „Es sind mindestens hundert, dazu kommen die Pfarrhäuser und über dreißig Klöster. In der Gegend um Mossul hat jedes Dorf eine Kirche und ein Kloster.“ Hochwürden Bidawid gibt sich gelassen: Ihm erscheinen die Christen nicht als Bürger zweiter Klasse, sie werden in der Ausübung ihrer Religion nicht behindert, und – ein bekanntes Phänomen – die Folgen des Embargos haben die gemeinschaftsstiftende Rolle der Kirche gestärkt. „Man weiß ja, dass sich die Menschen erst an Gott erinnern, wenn es ihnen schlecht geht. Seit einigen Jahren sind die Gottesdienste immer gut besucht. Aber das Embargo trifft alle gleichermaßen, da haben die Christen keine Sonderstellung. Wenn es einen Unterschied gibt, dann liegt er vielleicht darin, dass wir über Institutionen verfügen, die unseren Zusammenhalt sichern.“
Dieser kleine Unterschied ist nicht unbedeutend, weil er unter anderem für die großen Netzwerke sorgt, die auch einer winzigen Gemeinde in der Altstadt von Bagdad die Anbindung an die wichtigsten Diözesen in Europa, Amerika oder sogar Australien ermöglicht. Zu Beginn des Embargos wurden die humanitären Hilfsaktionen der Kirchen von der irakischen Regierung unterbunden, die damals die Position vertrat, die Iraker seien auf Almosen nicht angewiesen. Aber diese anfänglichen Probleme sind überwunden. Dabei spielte es eine wichtige Rolle, dass 1992 ein Ableger der Caritas gegründet wurde: Mit Zustimmung der staatlichen Behörden kann die Caritas seither als Dachorganisation der traditionellen Armenhilfe fungieren, die es in jeder Gemeinde gibt. Sie wird auf drei Ebenen tätig: durch Hilfe in Form von Sachmitteln, durch finanzielle Zuwendungen und durch Wiederaufbau-Projekte. Die Vielzahl der Caritas-Projekte im Irak macht deutlich, dass bestimmte soziale Schichten immer mehr auf Hilfe angewiesen sind. Sie zeigt zugleich, in welchem Maße der Organisation Geld von der internationalen Gemeinschaft zufließt.5
„Im ersten Jahr hatten wir 5 000 Familien zu betreuen, die bereits von den Programmen der Kirchen erfasst waren. Im Jahr darauf waren es 9 000, und heute kommt unsere Unterstützung 40 000 Familien zugute. Wir betreiben zwölf zentrale Hilfseinrichtungen im Irak, sieben in Bagdad und fünf in anderen Regierungsbezirken, und in jedem dieser Zentren gibt es eine Dringlichkeitsliste, die mindestens 800 bis 1 000 Familien umfasst.“ Diese Hilfsleistungen sind Teil der Gesundheits- oder Ernährungsprogramme, die als Ergänzung der staatlichen Lebensmittelrationen dienen. Jede Familie erhält eine Notration im Gegenwert der Subventionsleistung von 1 000 irakischen Dinar (etwa eine Mark), die sich aus Mehl, Zucker, Linsen, Tee, Öl, Reis, Milch, Seife und Waschmittel zusammensetzt. An den Hilfsprogrammen lässt sich nicht nur sehen, wie bestimmte Bevölkerungsschichten immer mehr verarmen, es wird auch deutlich, dass mindestens 16 Prozent der Christen in Armut leben.6
Annussa, eine gläubige Katholikin in Bagdad
ANNUSSA kann davon ein Lied singen. Sie stammt aus einem Dorf in der Nähe von Mossul, das sie vor fast zwanzig Jahren verlassen musste: Ihr Mann war im Krieg gegen den Iran gefallen, der Staat hatte im Rahmen von Flurbereinigungsmaßnahmen ihr Haus beschlagnahmt. So kam Annussa nach Battawin, ein Altstadtviertel im Herzen von Bagdad, das traditionell von Juden bewohnt war und zu den großbürgerlichen Quartieren der Hauptstadt zählte. Hier wohnt sie nun, bei ihrem Sohn und dessen Familie; im Haus lebt außerdem ihr Schwiegersohn samt Familie – ihre Tochter ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Annussas zweite Tochter wohnt in Madinat Saddam, einer dicht bewohnten Siedlung am anderen Ende der Stadt, wo überwiegend Schiiten leben. Ihr Schwiegersohn ist Straßenhändler, ihr Sohn Tagelöhner – jeden Morgen bietet er seine Arbeitskraft auf dem Mastar an. Auf diesem Platz in Bagdad finden sich tagtäglich die Arbeiter mit ihrem Werkzeug ein: der eine mit Schaufel und Besen, der andere mit einer Schlagbohrmaschine, der dritte mit Malerpinseln. Viele Stunden lang warten sie darauf, für einen Tag beschäftigt zu werden.
Annussa und ihre Schwiegertochter backen zu Hause Brot. Die Kunden bestimmen die Menge und bringen das Mehl. Jeden Tag macht Annussa etwa 80 Laibe Brot, das Stück zu 25 Dinar; aber sie kann nur fünfzehn Tage im Monat arbeiten, weil die Mehlration auf den Lebensmittelkarten dann erschöpft ist.
Der Backofen und die Kartons, in denen die Brote verwahrt werden, füllen den gesamten Innenhof des Hauses aus. Im Inneren des Gebäudes ist es nämlich feucht und stickig und es herrscht ein unerträglicher Kloakengeruch. Ein Zimmer ist mit wackligen alten Möbeln ausgestattet, an denen der Lack abblättert; man sieht vergilbte, abgegriffene Familienfotos, ein Porträt von Saddam Hussein, ein Marienbild und viele Kreuze und Rosenkränze. Annussa gehört der syrischen Gemeinde an, sie ist eine gläubige, aber nicht dogmatische Katholikin. Keine der christlichen Kirchen kommt bei ihr zu kurz – sie besucht den Gottesdienst bei den Katholiken wie bei den Orthodoxen, und sogar bei den Adventisten: „Gott ist überall, und ich erweise ihm die Ehre, wo immer ich kann“, erklärt sie. „Und außerdem werde ich von allen unterstützt, ich bekomme ein bisschen Geld zusammen, damit meine Enkel nicht betteln müssen, sondern weiter in die Schule gehen können.“ Seit fünf Monaten habe die Familie kein Fleisch mehr gegessen, erzählt Annussa, und wenn sie sich überhaupt Fleisch leisten könne, kaufe sie nur das Billigste, mal einen Kopf oder Innereien.
Dass so viele Christen aus eher einfachen Verhältnissen verarmen und oft kaum noch überleben können, ist ein neues Phänomen, eine Folge des Embargos. Die Christen gelten eigentlich als wohlhabende Bevölkerungsgruppe, die im Dienstleistungssektor ein gutes Auskommen findet (Bars, Restaurants, Hotels), nicht zuletzt, weil nur sie Alkohol verkaufen dürfen. Seit den Auseinandersetzungen mit den Kurden in den Jahren 1959 und 1960 gibt es einen stetigen Strom der Abwanderung aus dem Norden nach Bagdad.
Für die christlichen Dörfer war es gelinde gesagt nachteilig, dass die Kurden im Nordirak 1974 einen Autonomiestatus erhielten: „Zwischen dem Norden und dem Gebiet der Zentralmacht sind Straßenkontrollen eingerichtet worden. Ich kann zum Beispiel nicht mehr nach Duhok fahren, wenn ich nicht dort geboren bin“, erklärt Peter, ein Architekturprofessor an der Universität von Bagdad. „Diese Trennung hat viel dazu beigetragen, dass wir Christen uns heute isoliert fühlen, und sie hat die Abwanderung verstärkt, nicht nur nach Bagdad [wo es angeblich 700 000 Christen gibt], sondern auch ins Ausland. Dort leben ja bereits viele Emigranten der älteren Generation, die in den fünfziger und sechziger Jahren ausgewandert sind. Vor allem in den Vereinigten Staaten – in Detroit gibt es eine große chaldäische Gemeinde.“ Von der Verarmung, aber mehr noch vom Gefühl der Gefährdung und Bedrängung sind nicht nur die Christen betroffen – alle Iraker haben daran zu tragen. In der Hauptstadt Bagdad wird die Lage immer dramatischer: Sechs Millionen Einwohner drängen sich dort, Arbeit und Unterkunft sind knapp, und die Zuwanderung von Schiiten aus dem Süden ist kaum noch zu bewältigen.
Auch Annussas Schicksal ist alles andere als ein Einzelfall. Einem großen Teil der rund 900 000 Witwen7 , die den verschiedensten ethnischen und religiösen Gemeinschaften angehören, ergeht es ganz ähnlich: Ihre Familien sind zerstreut, und sie leben mehr oder minder in materieller Not. Wenn sie überhaupt bereit sind, darüber zu reden, reißen unweigerlich alte Wunden auf. Es geht um schreckliche, unaussprechliche Dinge aus dem Krieg gegen den Iran. Und das Embargo sorgt dafür, dass diese Schmerzen nicht aufhören.8
Die Soldaten, gestern noch Helden auf dem Feld der Ehre, die gegen den Feind aus Persien „das östliche Tor der arabischen Welt zu verteidigen“ hatten, sind heute nur noch hilflos und abhängig – sie bekommen ein dürftiges Gnadenbrot (umgerechnet etwa 2 Euro im Monat) und können sich fragen, welche Kriege die Zukunft für sie bereithält. Selbst die Staatsbeamten, seit jeher privilegiert, sind kaum noch in der Lage, ihre Familien durchzubringen.
„Was soll man davon halten, dass ein Universitätslehrer 1 800 Dinar im Monat verdient, weniger als 1 Dollar?“, meint Salem, ein Hochschuldozent, voller Sarkasmus. „Wir leben seit langem unterhalb der Armutsgrenze. Zuerst hat es die Soldaten und die kleinen Beamten erwischt. Dabei waren sie viele Jahre lang die treuesten Gefolgsleute des Regimes, und sind es bis heute. Es ist einfach nicht in Ordnung, dass diejenigen, die jahrelang im Krieg waren, nun in die Armut getrieben werden. Zuletzt ist dann das System der Eigenfinanzierung eingeführt worden. Wer etwas von einer Behörde will, soll erst einmal 200 Dinar zahlen; und das gilt auch, wenn man ins Krankenhaus muss. Das Ergebnis: Man wendet sich nicht mehr an die Behörden und man geht nicht mehr ins Krankenhaus. Und was die Kaufkraft unserer Währung angeht – diese Entwicklung ist einfach eine Aufforderung zu Kriminalität, Prostitution und Bestechlichkeit, oder bestenfalls zur Auswanderung.“
Auf dem „Platz der Haschemiten“ in Jordaniens Hauptstadt Amman bietet sich ein merkwürdig vertrautes Bild. Auf dem Bürgersteig sitzen irakische Frauen, erkennbar an ihren schwarzen Gewändern, und verkaufen Ramschartikel und Zigaretten, es gibt billige Garküchen, wo man Tee mit Kardamom und irakische Gerichte bekommt. Lederwaren und Gebetsketten werden feilgeboten, überall sieht man Iraker. Als Ali vor drei Jahren aus Bassora aufbrach, nur mit dem Nötigsten in einem Koffer, hatte man ihm diese Adresse genannt. Verglichen mit den Versammlungsorten in Bassora ist dieser Platz in Amman geradezu winzig, aber für Ali war er das Tor zu einer ganzen Welt. Nach sieben Jahren in der Armee hatte er keinen Beruf erlernt. Die Tischlerwerkstatt seines Vaters gab es nicht mehr, und er hielt es nicht aus, herumzusitzen und nichts zu tun. In einem Armenviertel von Amman fand er Unterkunft bei entfernten Verwandten, acht Personen teilten sich ein Zimmer, aber es kostete nichts.
Doch welche Chancen hat er, ohne Schulabschluss und Beruf? Wie viele in seiner Lage, ist er erst einmal als Träger auf dem Gemüsemarkt untergekommen. „Auf diesem Suk gibt es sechzig Träger, alle aus Bassora. Wenn Sie hier einen Typen mit einem Korb auf dem Rücken sehen, können Sie sicher sein, dass es ein Träger aus Bassora ist.“ Nachdem seine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist,9 lebt Ali illegal in Jordanien, seit zweieinhalb Jahren schlägt er sich durch. Und er ist nicht der Einzige. Man schätzt, dass sich um die 130 000 Iraker im Land aufhalten, davon nur 65 000 mit gültigen Papieren.
Für den Irak ist die Emigration eine Plage, aber für Iraker ist sie ein Traum. Das Land zu verlassen ist allerdings nicht einfach, und das wissen auch die Behörden. Sie sorgen dafür, dass Staatsbeamte nur unter strengen Auflagen ausreisen können: Sie müssen einen Teil ihrer Familie zurücklassen. Studenten dürfen gar nicht reisen – sie sollen zunächst ihr Studium abschließen und den Dienst fürs Vaterland ableisten. Seit 1993 gilt auch das Prinzip des mahram: Frauen dürfen sich nur in Begleitung des Ehemannes, eines Sohnes, eines Bruders oder ihres Vaters in der Öffentlichkeit bewegen. Und überdies ist die Ausreise teuer. Abgesehen von den Reisekosten wird pro Person eine Gebühr von umgerechnet 400 Mark fällig – für den irakischen Durchschnittsbürger eine unerschwingliche Summe.
Natürlich bleibt auch die Frage: Wohin, und wie? Über die türkische Grenze kommt man nur mit der Hilfe von Schleusern, ein riskantes Unterfangen. Nach Syrien können nur Geschäftsleute einreisen. Und bei dem Versuch, über die iranische Grenze zu gehen, läuft man sofort Gefahr, als Sympathisant der schiitischen Oppositionspartei Da'wa zu gelten.
Allein nach Jordanien kann man ohne Visum einreisen. Aber nicht allen gelingt es, so wie Ali einen Platz in den untersten Schichten von Amman zu finden. Für viele bedeutet die Ankunft in dieser Stadt nur den Auftakt zu einer langen, teuren und gefahrvollen Odyssee, auf der Suche nach einem Ort, wo man bleiben kann. „Hier in Jordanien sind wir weder Einwanderer noch Flüchtlinge“, empört sich Abu Thaer, ein christlicher Iraker, der in der Kleinstadt Fuheis, nördlich von Amman lebt. „Wir sind nichts, bloß ungebetene Besucher, Vagabunden, Gestrandete.“
Die enge Pforte der legalen Einwanderung zu passieren gelingt nur den wenigen, die das Glück hatten, die richtigen Tips zu bekommen und über gute Verbindungen zu verfügen, jenen, die bei ihren Asyl- oder Einwanderungsanträgen genau den Anforderungen der jeweiligen Botschaften oder des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) entsprechen.10 Alle anderen müssen sich in die düsteren Hinterzimmer in den Armenvierteln begeben, wo skrupellose professionelle Schleuser ihren weiteren Weg bestimmen. Diese Organisationen, die per Telefon und Fax auf ein weit verzweigtes Netzwerk zugreifen können, präsentieren sich als „Retter“ und bieten zu Preisen zwischen 7 000 und 20 000 Dollar so genannte kaschak an, komplett organisierte Auswanderungen.
Zu den besonders begehrten Zielen gehören Kanada, Australien, Neuseeland und die skandinavischen Länder. Die Transitwege erweisen sich allerdings als reichlich unsicher: Sie führen zum Beispiel über Libyen, die Türkei, Bangkok, Santo Domingo, Jugoslawien, Russland, Moldawien, die Ukraine. Wer einen solchen kaschak bucht, legt sein Schicksal in die Hände der „Retter“ – nicht wenige, die ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben haben, stranden mittellos in Amman.
„Ich habe mich mit anderen auf den Weg in die Ukraine gemacht. Von dort aus sollte es in ein europäisches Land gehen. Irgendwo im Wald war dann Schluss. Wir hätten zu Fuß über die Grenze gemusst, aber wegen einer Polizeistreife ging es nicht weiter. Es schneite. Rauschgiftschmuggler tauchten auf. Und irgendwann kamen unsere Schleuser und gaben uns Rückflug-Tickets nach Amman, weil es nicht mehr möglich war, über die Grenze zu kommen. Unser Geld bekamen wir natürlich nicht zurück.“
Solche Geschichten kann fast jeder Iraker in Amman erzählen. Manche fragen sich, wie Fatima, „ob es nach all den schlimmen Jahren nicht besser wäre, in den Irak zurückzukehren. Schließlich stirbt man auch ein wenig, wenn man fortgeht.“ Doch dann besinnt sie sich: Sie hat einen 18-jährigen Sohn, der müsste im Irak zum Militär, und dann wäre sie die Mutter eines Soldaten.
dt. Edgar Peinelt
* Journalist bzw. Wissenschaftler in Amman.