11.02.2000

Autoritärer Kapitalismus

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Autoritärer Kapitalismus

Von MICHEL HERLAND *

WENN die Vietnamesen vom ökonomischen Liberalisierungsprozess in ihrem Land sprechen, benutzen sie nicht den vietnamesischen Begriff für Transformation, sie sprechen lieber von doi mo, was so viel wie „Erneuerung“ bedeutet. Die Beschlüsse, die auf dem 6. Parteitag der vietnamesischen Kommunistischen Partei im Dezember 1986 gefasst wurden, wie auch ihre sukzessive inhaltliche Ausgestaltung in den darauf folgenden Jahren, haben tatsächlich einen vergleichsweise schmerzlosen Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zu einer Mischökonomie ermöglicht. Seither erlebt Vietnams Wirtschaft ein anhaltendes Wachstum ohne nennenswerte Turbulenzen und Instabilitäten. Doch der offizielle politische Diskurs hat mit der neuen Wirklichkeit nicht sehr viel zu tun. Allen Tatsachen zum Trotz stellte man 1986 die Reformen immer noch als eine Phase des Übergangs zum Sozialismus dar. Nach den Beschlüssen des 6. Parteitages sollten diese Reformen „die notwendigen Grundlagen zu einer Beschleunigung der sozialistischen Industrialisierung während der nächsten Phase“1 schaffen. Das Dogma vom „Überspringen der kapitalistischen Phase“, an dem man seit der Gründung der vietnamesischen KP im Jahre 1930 festgehalten hatte, wurde zwar aufgegeben, das letzte und eigentliche Ziel aber blieb unverändert.

Ungeachtet aller ideologischen Umschreibungen zeichnet sich die neue Politik allerdings durch eine Reihe von Entscheidungen aus, die alle in Richtung einer Liberalisierung und ökonomischen Öffnung gehen: Wiederzulassung von Privatunternehmen in der Landwirtschaft wie auch in Industrie und Handel; Verschlankung des öffentlichen Sektors durch zahlenmäßige Verringerung der Unternehmen und der Beschäftigten; Dezentralisierung der Kreditvergabe durch Gründung einer Vielzahl von Banken (darunter auch von Kreditinstituten mit ausländischem Kapital); Förderung direkter ausländischer Investitionen, vorzugsweise von vietnamesisch-ausländischen Joint Ventures, die einen Technologietransfer begünstigen.

Parallel dazu sorgten durchgreifende Maßnahmen im makroökonomischen Bereich für eine Stabilisierung der Währung, eine Eindämmung der Inflation und eine Begrenzung des Haushaltsdefizits. So haben sich etwa Stromerzeugung und Stromverbrauch zwischen 1987 und 1994 verdoppelt, was einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich 10 Prozent entspricht. Und die Steigerungsrate des Bruttoinlandsprodukts betrug zwischen 1992 und 1998 jährlich gut 8 Prozent (gegenüber 6 in 1999).

Dass es Vietnam gelungen ist, den Verlust seiner osteuropäischen Märkte zu kompensieren, stellt zweifellos die beeindruckendste Leistung dar. Nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums betrug der Anteil von Ländern mit nichtkonvertierbaren Währungen am vietnamesischen Export 1992 allenfalls noch 4 Prozent im Bereich der Konsumgüterindustrie und des Handwerks (gegenüber 100 Prozent in 1988) und 1 Prozent im Landwirtschafts- und Forstbereich (gegenüber 30 Prozent in 1988).

Diese Umstrukturierung der Handelsbeziehungen hatte zur logischen Folge, dass Vietnam die Aufnahme in den Verband Südostasiatischer Staaten (Asean) anstrebte und dann 1995 als siebtes Mitglied aufgenommen wurde. Gegenwärtig verfolgt Hanoi eine Strategie der regionalen Integration und relativen internationalen Öffnung, wobei es Handelsbeziehungen vornehmlich mit seinen Nachbarn und mit Japan knüpft, die zugleich die wichtigsten Investoren sind. Seit dem Rückzug aus Kambodscha 1989 und der Aufhebung des amerikanischen Embargos 1994 haben sich auch die Wirtschaftsbeziehungen mit den westlichen Staaten verstärkt; auf die Europäische Union entfallen 15 Prozent des vietnamesischen Außenhandels. Die wirtschaftliche Öffnung und der Übergang zur Marktwirtschaft haben eine Wachstumsphase eingeleitet. Auf dem Lebensmittelsektor ist Vietnam inzwischen autark, ja sogar zum drittgrößten Reisexporteur weltweit geworden. Auch im industriellen Bereich – etwa in der Bekleidungsbranche und in bestimmten Bereichen der Endmontage – wird man das Land künftig als Exportmacht kennen lernen.

Diese ganze Entwicklung wurde zweifellos durch einen Nachholbedarf begünstigt. Die wirtschaftliche Aktivität, lange Zeit durch die Planwirtschaft gehemmt, setzte Wachstumsreserven frei, sobald die Fesseln gelockert waren. Doch Nachholbedarf allein kann das Phänomen nicht ausreichend erklären: Fünfzehn Jahre nach der Verkündung der Parole doi moi setzt sich das Wachstum immer noch fort, ohne von der Krise der asiatischen Nachbarn allzu sehr beeinträchtigt zu werden. Überdies wurde das Handelsdefizit, das beunruhigende Ausmaße anzunehmen begann, 1997 und 1998 verringert.

Die Politik des doi moi ist zwar nicht das genaue Gegenstück zu den chinesischen Wirtschaftsreformen vom Ende der siebziger Jahre, aber zwischen diesen beiden Ländern gibt es doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die es erlauben, von einem asiatischen Modell der Transformation zu sprechen. In beiden Fällen gehen die ökonomischen Reformen nicht mit politischen Reformen einher und stellen das autoritäre Regime nicht in Frage. In der Wirtschaft, wo öffentlicher und privater Sektor nebeneinander existieren, macht sich die politische Macht der Kommunistischen Partei deutlich bemerkbar. Im Lauf der Jahre ist eine wahre Klasse von Notabeln entstanden, die Posten in beiden Bereichen kumuliert. Es kann vorkommen, dass dieselbe Person (häufig auch eine Frau) eine Abteilung in einem Staatsbetrieb leitet und zugleich Gewerkschafts- oder Parteisekretärin einer Betriebsgruppe war bzw. ist. Häufig leiten solche Multifunktionäre noch eine private Produktionsstätte, die bis zu hundert Mitarbeiter beschäftigen kann.

Solche Arbeitnehmer (die entweder im eigenen Heim arbeiten oder in einer Werkstatt, üblicherweise im Haus des Chefs) erhalten einen annähernd einheitlichen Stücklohn; ihre berufliche Situation ist überaus prekär, da von der Auftragslage abhängig. Nur einige wenige Begünstigte können sich eine stabile Arbeitsstelle sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor sichern; und sie sind bei dem gegebenen Lohnniveau die einzigen, die ihren Lebensunterhalt gut bestreiten können. Andere abhängig Beschäftigte haben zumindest in einem der beiden Sektoren eine feste Stelle. In wirklicher Unsicherheit leben all jene, die nur zeitweise eine Tätigkeit im privatwirtschaftlichen Sektor finden.

Wer in diesem neuen vietnamesischen Kapitalismus Finanzkapital akkumulieren will, muss zunächst über Beziehungskapital verfügen, das heißt in das Netz von Politik und Gewerkschaften eingebunden sein, sprich: in das institutionelle Netz, zu dem die Staatsbetriebe gehören. In den Ländern Osteuropas und in China haben vorzugsweise alte Kader aus den Staatsfirmen von der Privatisierung profitiert. Die steht allerdings in Vietnam noch nicht wirklich auf der Tagesordnung, doch ist hier bereits ein ähnliches Phänomen zu beobachten, wenn auch in einer zersplitterten Form. Die Zahl der Nutznießer ist größer, denn wo der Staatsbetrieb fortbesteht, fördert er in seinem Umfeld die Entstehung von unzähligen kleinen Privatunternehmen. So entsteht allmählich eine bürgerliche Schicht.

Diese Form des Kapitalismus bringt eine ganze Reihe sozialer Probleme mit sich: Korruption, Schmuggel, Prostitution, Glücksspiel und neuerdings sogar Drogen. Die staatlichen Stellen, aber auch die Medien nehmen sich dieses Problems sehr intensiv an, denn die Korruption trifft den Staat selbst, bedeutet sie doch, dass die Regeln nicht einmal von den Beamten respektiert werden, die sie selber erlassen haben. Die Liste der Vergehen reicht von der Unterschlagung eines Teils (bis zu einem Viertel) der Kohleproduktion der Staatsbetriebe von Hong Gai2 über illegale Bauprojekte mitten im Zentrum von Hanoi bis zur üblich gewordenen Steuerhinterziehung.

Zollvergehen und Steuerhinterziehung haben ein solches Ausmaß angenommen, dass die Mittel des Staates nicht mehr ausreichen, um die öffentliche Grundversorgung etwa im Gesundheits- und Schulwesen zu sichern. Die Beamten können sich mit ihren geringen Gehältern die Konsumgüter nicht leisten, die jetzt allenthalben angeboten werden; die Schere, die sich zwischen ihren Bedürfnissen und ihren finanziellen Mitteln auftut, zwingt sie zur Suche nach zusätzlichen Einkommensquellen.3 Die Besoldung der Beamten ist ein grundlegendes Problem. Der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Do Muoi, unterstrich auf dem 8. Parteitag in seinem politischen Rechenschaftsbericht die Notwendigkeit, „die Besoldungstabelle weiter zu verbessern, damit die Beamten von ihren Bezügen leben können“.

Die vietnamesische Gesellschaft hat damit einen prekären Punkt erreicht: Da der Staat seine Rolle nicht mehr wirklich erfüllen kann, muss sie sich mit einer Fülle von krisenhaften Erscheinungen herumschlagen. Die Gesetze bedeuten nichts mehr oder nicht mehr viel, jeder setzt zur Erreichung seiner Ziele auf seine eigenen Mittel und Wege. Mit einem Satz: Das alte System funktioniert nicht mehr, doch der „Marktmechanismus“, der zum Leitprinzip geworden ist, funktioniert auch (noch) nicht richtig.

dt. Passet/Petschner

* Professor an der Université des Antilles et de la Guyane, Ceregmia.

Fußnoten: 1 Zitiert von Vo Nhan Tri, „Vietnam's economic policy since 1975“, Singapur (Institute of Southeast Asian Studies) 1990, S. 183. 2 Vietnam Economic Times, Hanoi, April 1995, S. 5. 3 Nach Angaben des Ministeriums für Arbeit, Kriegsinvaliden und Soziales soll die Kaufkraft der Gehälter zwischen 1993 und 1996 um 30 Prozent gesunken sein. Vietnam Investment Review, Hanoi, 4.-10. November 1996, S. 2.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von MICHEL HERLAND