11.02.2000

Jetzt ist die Partei wieder am Zug

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Jetzt ist die Partei wieder am Zug

Von PHILIPPE PAPIN *

Im Januar 1999 erklärte Le Kha Phieu, Generalsekretär der Vietnamesischen Kommunistischen Partei (KPV), ohne Umschweife: „Die Hauptursache für unsere nachlassende Wirtschaftstätigkeit liegt in der Ineffizienz unseres Staatsapparates.“ Einige Monate zuvor hatte die Zeitung Lao-Dong (Die Arbeit) in der Rubrik „Bürger schreiben der Redaktion“ den Leserbrief einer alten Frau veröffentlicht, die zuerst ihr revolutionäres Engagement und ihren Beitrag im Unabhängigkeitskampf Vietnams hervorhob und sich dann darüber beklagte, dass ihr von Funktionären des Volkskomitees1 ihre Parzelle weggenommen worden sei.

In einer wohl abgestimmten Medienkampagne wurde insbesondere der Einsatz während der verheerenden Überschwemmungen, von denen Ende 1999 im Landesinneren acht Millionen Menschen betroffen waren, ausführlich breitgetreten. Die Katastrophe bot einen willkommenen Anlass, um die Staatsbeamten der Unfähigkeit zu zeihen und ihnen, wie nicht anders zu erwarten, die Kommunistische Partei als unerschütterliches Bollwerk und als Garant der nationalen Zusammengehörigkeit und Einheit gegenüberzustellen. Wie bei einem Damm, der zugleich schützt und verbindet, liege die Stärke der Partei in ihrer einzigartigen Fähigkeit, die Vietnamesen zu sammeln und zu einen.2

Seit einem Jahr spitzen sich die Konflikte zwischen Staats- und Parteiapparat kontinuierlich zu. Dabei ist der Vietnamesischen Kommunistischen Partei inzwischen jedes Mittel recht, um den Staat in ein schlechtes Licht zu rücken. Der Erfolg bleibt nicht aus.

Nachdem sich seit über einem Jahrzehnt die Regierung um die wirtschaftliche Öffnung und die laufenden Geschäfte gekümmert hat, tritt nun die Partei wieder stärker auf den Plan und zieht Bilanz. Ihre Schlussfolgerung ist gnadenlos: Schuld an den Wirtschaftsproblemen, dem Rückgang der Auslandsinvestitionen, der rasant zunehmenden Armut und dem Aufruhr der steuerlich stark belasteten Landbevölkerung sei der Staatsapparat, dessen Modernisierungsprojekt für Vietnam als gescheitert zu betrachten sei.

Nun ist die Partei selbst am Zug und tritt offensiv an die Öffentlichkeit. Ihr Generalsekretär erscheint regelmäßig auf den Titelseiten der Zeitungen, empfängt ausländische Delegationen und reiste höchstpersönlich nach Peking, um ein Grenzabkommen zwischen China und Vietnam auszuhandeln. Ausgerechnet parteieigene Betriebe führten als erste versuchsweise Akkordlöhne ein. Die seit zehn Jahren nur schleppend vorankommende Umwandlung der Unternehmen in Aktiengesellschaften nimmt nun auf direktes Betreiben der Partei endlich ihren geordneten Gang.

Diese Wende in der vietnamesischen Politik veranschaulicht weniger einen vermeintlichen Konflikt zwischen Bewahrern auf der einen und Erneuerern auf der anderen Seite, sondern schlägt vielmehr eine den Erfahrungen des Reformkommunismus anderer Länder entgegengesetzte Richtung ein.

Die Vitalität der Kommunistischen Partei und ihr Anspruch auf Verkörperung der nationalen Einheit werden verständlicher, wenn wir mit etwas Abstand auf die Geschichte blicken und versuchen, dem vietnamesischen Verständnis vom Wesen und den Bedingungen der Herrschaftsausübung gerecht zu werden.

Seit Ende des 15. Jahrhunderts eine zentralistische Monarchie entstanden war, spielte der Staat in Vietnam stets ein wichtige politische Rolle. Im Konfuzianismus galt der Herrscher zwar als Sohn des Himmels, zugleich und vor allem aber als ein Repräsentant des Himmels auf Erden, der für seine Handlungen Rechenschaft abzulegen hatte und für mögliche Katastrophen verantwortlich gemacht wurde.

Die Macht des Monarchen war also nicht absolut und aus jeglichem Zusammenhang gelöst, sondern im Gegenteil eng an die konkreten Bedingungen geknüpft. Im Extremfall konnte ein als unwürdig erachteter Herrscher sogar seines „himmlischen Auftrags enthoben werden“ (cach-mang, was so viel bedeutet wie Revolution). Diese ausgesprochen enge und, wie die jüngsten Überschwemmungen gezeigt haben, nach wie vor gültige Verknüpfung von politischer Legitimität mit säkularer Machtausübung trägt – angereichert mit einem modernen Staats- und Verwaltungsverständnis – stark zu einer veränderten Auffassung der Herrschaft bei.

In der Vergangenheit erfolgte die Auswahl der Mandarine in regelmäßigen Wettbewerben, an denen sich jeder ungeachtet von Besitz und Status beteiligen konnte. Das gesamte System schöpfte seine Kraft aus den vielen tausend Dörfern des Landes. Jeder hatte reale Chancen, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden, der allein eine glänzende Zukunft jenseits der mühsamen Lebensrealität der Reisbauern versprach. Der Staat hatte so Zugriff auf die besten Mitglieder einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, die ihrerseits starken Einfluss auf die Ausformung der Macht ausübte.

Noch heute stützt sich die Herrschaft politisch wie ideologisch auf diese Grundlage. Infolge des Krieges und der Umsiedlungsprogramme nach 1975 stammt die große Mehrheit der heutigen Kader vom Land. Ob Generalsekretär, Minister, Vorsitzender des Volkskomitees, regionaler Abgeordneter oder Beamter, sie alle wissen, wovon sie reden, wenn die schwierigen Lebensbedingungen auf dem Land angesprochen werden. Diese Verwurzelung der Macht in der ländlichen Lebensweise wird zwar manchmal unpassenderweise belächelt, sie ist jedoch insbesondere für Südostasien beachtlich, wo die städtische Wirtschafts- und Politelite von der gesellschaftlichen Basis, die sie eigentlich vertreten sollte, ansonsten weitgehend abgekoppelt ist.

Dabei waren auch die auf Kultur und Bildung fixierten Auswahlverfahren für Mandarine stets ein gefürchtetes Selektionsinstrument. Nicht technische oder administrative Kenntnisse wurden abgefragt, sondern akademisches Wissen, bestehend aus literarischen Aufsätzen, chinesischer Rhetorik und alter Dichtkunst. Diese realitätsferne Bildung erwies sich keineswegs als Nachteil, sondern spielte eine entscheidende Rolle in der Definition der Lehre.

Von den zukünftigen Staatsdienern wurde eine perfekte Kenntnis der klassischen Kultur erwartet, die der einfachen Bevölkerung unzugänglich war. Damit ließ sich ganz einfach ein einheitliches Denken der herrschenden Klasse herbeiführen, deren einziger gemeinsamer Nenner in der Bildung lag. Das geteilte Wissen schweißte die Staatsbeamten zusammen. Ungeachtet ihrer Herkunft aus den verschiedensten Winkeln dieses lang gestreckten, kulturell so vielfältigen Landes3 bezogen sie sich plötzlich auf dasselbe Wertesystem, auf dieselben konfuzianischen Glaubenssätze.

Trotz ihrer ländlichen Wurzeln war Macht also durch einen klassischen, Einheit stiftenden Bildungskanon legitimiert, der sich ständig weiterentwickelte und die Elite zusammenhielt. So stellte, mit anderen Worten, die „Reinheit der Lehre“ eine wesentliche Bedingung für die Einbindung der einfachen Bevölkerung in das Machtgefüge dar. Die Spaltung zwischen der Welt der Gelehrten und dem Volk konnte ausbleiben.

Anders als in China kehrten in Vietnam die Mandarine nach Beendigung ihrer Karriere an ihren Geburtsort zurück, wo sie die jüngere Generation in klassischer Kultur unterwiesen und sie auf die Auswahlverfahren für Beamte vorbereiteten. Damit war eine große Durchlässigkeit von unten nach oben gewährleistet, die Welt der Reisbauern blieb mit der der Gelehrten verbunden. Die Exmandarine trugen außerdem zur allmählichen Veränderung des Charakters der Dörfer bei, die mit ihren Stelen, Pagoden, Staudämmen, Gemeindehäusern und konfuzianischen Tempeln Bezugs- und Stützpunkte dieser grundlegend gemischten Kultur bildeten.

Diese Kultur wurde durch die voluntaristische Politik des Zentralstaates insbesondere im Bereich religiöser Glaubensbekenntnisse und Praktiken verstärkt. Die oft animistischen, in die landwirtschaftlichen Kreisläufe eingebundenen Volksreligionen wurden zunehmend verdrängt und mussten einer offiziellen staatlichen Ehrengalerie weichen, die sich aus bedeutenden Generälen, hohen Würdenträgern und Göttergestalten aus der Geschichte des Landes zusammensetzt. Um als Garant der Einheit aufzutreten, setzte sich die Staatspropaganda über die bestehende Vielfalt hinweg und hielt Einzug in die Dörfer.

Eine durch und durch dörflich geprägte Gesellschaftsstruktur entstand und „verstaatlichte“ in gewisser Weise das Land von innen heraus. Anstatt eine selbständige Intellektuellenschicht oder gar eine zur Zentralmacht alternative „Zivilgesellschaft“ herauszubilden, war das in der Doktrin vorgegebene Einheitsideal im Gegenteil sehr eng an den Staatsdienst geknüpft. Diese Zuspitzung auf die Zentralmacht erklärt, mit welcher Leichtigkeit sich später im Kontext des Befreiungskampfes der Soldatenkult und die Idealisierung des kommunistischen Staates durchsetzen konnten.

Während der Kolonialherrschaft zerbrach der einst so enge Bezug zwischen Wissen und Macht, Stadt und Land, Gelehrten und Volk. Dieses plötzliche Verschwinden der alten Gleichgewichte bedeutete, mehr noch als die politischen Erschütterungen und kriegerische Gewalt, einen entscheidenden Bruch im Autoritätsgefüge. Die Wettbewerbe wurden abgeschafft und die Mandarine unter Aufsicht gestellt. Die Gebildeten wurden plötzlich durch Intellektuelle abgelöst, die die Kolonialschulen besucht und die lateinische Schrift gelernt hatten. Die Macht ging in andere Hände über und nistete sich im Schutz des Kolonialgefüges in der Stadt ein, das Land zählte nicht mehr. Die Sphäre des Wissens hing fortan am Gängelband der Politik. Die dörfliche Struktur büßte jegliche Bedeutung ein.

Die Teilung zwischen Staatsapparat und Partei ist eine Folge davon. Nach dem Tod Ho Chi Minhs, der als Einziger dank seines Charismas kurzfristig die Funktion des Parteivorsitzenden, des Regierungschefs und des Präsidenten der Republik in einem ausübte, spalteten sich die Institutionen in zwei Blöcke auf. Seither treten Staat und Partei von den höchsten nationalen Instanzen bis zum kleinsten Bergdorf auf allen Ebenen nebeneinander auf: Die einen handeln, die anderen klären auf, hier wird die Macht praktiziert und dort gelehrt. Der Bruch der Verbindung zwischen Wissen und Macht lässt sich auch anhand der gegenwärtigen Statistiken ablesen: Von den Bezirkskadern verfügen knapp ein Drittel über einen Hochschulabschluss,von den Gemeindekadern sind es nur 3,5 Prozent. Es ist nun nicht mehr der Staat, der die talentiertesten Kräfte auf sich vereinigt, sondern die Dörfer belehnen umgekehrt die öffentliche Macht, die ihrerseits nicht mehr in der Lage ist, die Ausbildung ihrer Führungsschicht sicherzustellen.

Erstmals in ihrer Geschichte mussten sich die Vertreter der Zentralmacht direkt in die Dörfer begeben, um sich dort durchzusetzen. Zu dieser inzwischen nur noch von oben nach unten verlaufenden Bewegung kommt eine wuchernde Bürokratie, die derzeit 17 000 Beamte in den Bezirken und 220 000 in den Gemeinden beschäftigt – früher gab es insgesamt knapp 1 000 Mandarine – sowie die Parteidoktrin, nach der jede Gemeinde rund 50 Parteimitglieder stellen muss.

Die institutionelle Spaltung, die Verdoppelung des Apparats und das Auseinanderbrechen der früheren Einheit bedeuten einen klaren Bruch mit der Vergangenheit. Die gegenwärtige Politik der vietnamesischen Führung kann denn auch als Versuch gesehen werden, die überkommenen politischen Tugenden, die im Rückblick eine durchaus zweifelhafte Effizienz aufweisen, in einem anderen Zusammenhang wiederzubeleben. In dieser Strategie kommt der Erneuerung der „reinen Lehre“ eine zentrale Bedeutung zu. Davon zeugt auch die seit einem Jahr verfolgte Politik, die den Staatsdienst bei gleichzeitiger Parteimitgliedschaft als besonders effektiv ansieht und fördert.

Die Partei ist inzwischen omnipräsent. Sie mischt sich offen in wichtige innenpolitische Angelegenheiten wie etwa den Kampf gegen Korruption und nutzt dabei einmal mehr die Gelegenheit, den Staatsapparat an den Pranger zu stellen. Sie spielt auch auf internationaler Ebene mit.

Doch am besten profilieren kann sich die KPV an der Wirtschaftsfront. Eine der Bedingungen für die Öffnung des Landes im Jahr 1986 war, dass die öffentliche Hand und damit die Regierung weiter im Zentrum der Finanzmacht stehen sollte. An die Stelle der versiegenden sowjetischen Hilfe und nachdem im südlichen Landesteil die amerikanischen Konsumgütervorräte erschöpft waren, traten, streng beaufsichtigt durch den Staat, der den Geldsegen verwaltet, die Investitionen von ausländischen Kapitalgebern, die bis zu einem Viertel des Staatshaushalts ausmachen.

Zwar kam die Wirtschaft, wie betont werden muss, tatsächlich in Schwung, die politische Strategie dagegen ist im Begriff zu scheitern. Die Auslandsinvestitionen sind zwischen 1997 und 1998 um 40 Prozent zurückgegangen, das Wachstum stagniert, und das Steueraufkommen ist nach wie vor sehr niedrig. Der Staat verarmt zusehends: Seine Einnahmen sanken 1997 von 30 auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Noch schwerer fällt ins Gewicht, dass die Verwaltung die Kontrolle über die reale Wirtschaft verloren hat, da über die Hälfte der Industrieproduktion und acht von zehn Arbeitsplätzen auf den Privatsektor entfallen.

Kritik wird aber auch an der wirtschaftlichen Entwicklung selbst geübt. Der einst nützliche informelle Sektor, der ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftete und jeden vierten Arbeitsplatz sicherte, ist mittlerweile ein Hindernis für die regionale Integration geworden. Seit 1995 ist Vietnam Mitglied des Verbandes Südostasiatischer Staaten (Asean) und seit 1998 im Forum der 20 Länder der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Apec).

Im Jahr 2003 werden die Asean-Länder eine Zollunion einführen, und schon heute steht fest, dass Vietnam, das sich mit dreijähriger Verspätung daran beteiligen will, diesem gemeinsamen Markt nicht gewachsen sein wird. Alle Versuche, eine wettbewerbsfähige Industrie aufzubauen, werden durch den Schmuggel von Importgütern untergraben, die billiger sind als die einheimischen Waren. Von den 24 000 im Jahr 1996 importierten Autos wurde ein Drittel illegal eingeführt. 1998 musste der Automobilhersteller Mekong seinen Betrieb einstellen, während Ford und BMW mit ernsthaften Lieferproblemen zu kämpfen hatten.

Die Parallelwirtschaft geht auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit der vietnamesischen Produkte und macht die wirtschaftliche Integration so riskant. Und trotzdem ist die Verankerung im südostasiatischen Wirtschaftsraum politisch notwendig, weil sie gegenüber China, dessen „Freihandelszonen“ wie Zitadellen in den südlichen Pazifik ragen, ein solides Gegengewicht darstellt. Die nationale Unabhängigkeit Vietnams ist eng gekoppelt an seine wirtschaftliche Stabilität.

Der Rückzug der Staatsmacht und regionale Unsicherheiten liefern der Partei den willkommenen Vorwand, um die Geschäfte wieder selbst in die Hand zu nehmen und sich gleichwohl von ihrer besten Seite zu zeigen. Nach einem Jahrzehnt des Laisser-faire und unverantwortlicher Nachgiebigkeit gilt es nunmehr, die Lehre von der Herrschaftsausübung mit der Praxis wieder in Einklang zu bringen, um die Wirtschaftsstrukturen zu sanieren und für die Zukunft gewappnet zu sein. Die lange vernachlässigte „reine Lehre“ entpuppt sich unversehens als Hüterin der nationalen Unabhängigkeit.

dt. Birgit Althaler

* Ecole française d'Extrême-Orient, staatliches französisches Forschungsinstitut CNRS.

Fußnoten: 1 Die alle fünf Jahre von den Volksräten gewählten Volkskomitees bilden die lokale Exekutive der Provinzen, Bezirke und Gemeinden. 2 „Die Quelle der Stärke der Kommunistischen Partei“ („Nguon suc manh cua Dang“), Artikel in der hochoffiziellen Wochenzeitschrift Nhang Dan (Das Volk), Hanoi, 2. Januar 2000. 3 In dem über 3 260 Kilometer langen Land leben 54 unterschiedliche Ethnien.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von PHILIPPE PAPIN