Abenteuerlicher Fischzug in Kolumbiens Häfen
EINE ANLEITUNG ZUM AUSPLÜNDERN DER STAATSKASSEN
KORRUPTION und Amtsmissbrauch im Zusammenhang mit der Privatisierung von Staatsbetrieben sind in Lateinamerika nichts Neues. Auch in Kolumbien wurden in den letzten Jahren die Staatskassen geplündert. Bei der Privatisierung der Häfen, dem größten Raubüberfall in der Geschichte des Landes, profitierten zunächst die Arbeiter und Gewerkschafter, dann ihre Anwälte und schließlich im großen Stil Richter und Abgeordnete. Es erstaunt wenig, dass die Aufklärung der Verstöße nur schleppend vorankommt. Dennoch empfiehlt der IWF weitere Strukturanpassungsmaßnahmen und Privatisierungen.
Von MAURICE LEMOINE
Einst wehte über der Karibik die schwarze Fahne mit dem Totenkopf und den zwei gekreuzten Knochen. Damals landete so mancher Gold- und Silbertaler in den löchrigen Taschen von Seeräubern, Piraten und Freibeutern, die als Abschaum der Menschheit und als Geißel jener bewegten Meere galten. Mit äußerster Gründlichkeit machten sie sich über etliche Galeonen her, plünderten in fernen, glücklichen, heißen Landstrichen die eine oder andere schmucke Stadt: Maracaibo etwa, Porto-Bello oder das schöne Cartagena de Indias, einst Kleinod von Neu-Granada, dem heutigen Kolumbien.
So gelang es beispielsweise dem Franzosen Robert Baal, den Gouverneur von Cartagena bei einem opulenten Festmahl zu überraschen und so 310 Kilogramm Gold zu erpressen. Damit wurde er zum Vorläufer einer Reihe von abenteuerlustigen Freibeutern, zu denen die Engländer John Hawkins (1567) und Francis Drake (1586), die Franzosen Jean-Bernard Desjeans und Jean Ducasse (1697) sowie der Admiral Edward Vernon (1741) zählten. Nachdem Letzterer Säbel und Zähne eingebüßt hatte, glaubte man sich in der Karibik, im Schutze imposanter Festungsmauern, vor Piraten und Plünderern gefeit. Bis zu jenem Tag am Ende des 20. Jahrhunderts, als ein gewisser César Gaviria die Bildfläche betrat.
César Gaviria, der als Mitglied des Partido Liberal am 27. Mai 1990 zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, setzte von vornherein auf Neoliberalismus, wirtschaftliche Öffnung und Globalisierung. Ursprünglich besaß der Staat Kolumbien fünf Seehäfen – Cartagena, Barranquilla und Santa Maria an der karibischen Küste, Buenaventura und Tumaco an der Pazifikküste. Alle fünf wurden von einer einzigen Behörde mit dem Namen Colpuertos verwaltet. Durch eine geschickte Pressekampagne gelang es dem Präsidenten, den Zustand der Häfen in der Öffentlichkeit als chaotisch anzuprangern, ihre Privatisierung voranzutreiben und sie nach der Unterzeichnung des 1991 verabschiedeten Gesetzes Nr. 1 umzusetzen.
In bewährter Tradition verschleuderte nun der Staat seine eigenen Vermögenswerte und Maschinen, nichts wurde inventarisiert, keine einzige Ausschreibung durchgeführt. Wer jeweils den Zuschlag für einen Auftrag bekam, lag im Ermessen eines einzigen Beamten, des superintendente portuario, der seine Vertragspartner denn auch willkürlich auswählte. Laut Artikel 12 des Gesetzes war ihm ein solches Vorgehen ausdrücklich erlaubt: „Innerhalb von fünf Monaten nach dem Antrag [auf Konzessionserteilung] soll der Generalintendant der Häfen einen Beschluss fassen, der festlegt, innerhalb welcher Fristen die Konzession erteilt werden kann.“
Weitere Regelungen gab es nicht. Und es ist wohl reiner Zufall, dass hinter den Strohmännern, die sich damals auf dieses einträgliche Geschäft stürzten, die Crème de la Crème der beiden großen politischen Parteien steckt. Der Gouverneur von Santa Marta, Politiker wie Vidas Lacouture oder Davila, die mächtigen Familien der Küste wie die des Francisco Villa Cos, Freunde der damaligen Machthaber, Leute, denen der Präsident zu Dank verpflichtet war – sie alle hatten mit diesen Geschäften zu tun. Für einen Apfel und ein Ei wurden die Hafenanlagen an Unternehmen vergeben, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, oder an Privatpersonen, die nicht die geringste Erfahrung auf diesem Gebiet hatten. Freilich hatte das Gesetz in weiser Voraussicht diese Möglichkeit ins Auge gefasst und den Hafengesellschaften zugestanden, Subunternehmer zu engagieren. Und so konnten lauter inkompetente Glückspilze ihr Geschäft mit den in harten Dollars abrechnenden Häfen machen – und im Handumdrehen Multimillionäre werden.
So weit sind das alles nur ganz gewöhnliche Vorgänge im großen Monopolyspiel der so genannten Marktwirtschaft. „Aber die Geschichte geht noch weiter“, sagt acht Jahre danach die Senatorin Ingrid Betancourt, die diese Machenschaften öffentlich anprangert. „Denn die Privatisierung war nur ein Ablenkungsmanöver, um den größten Raubüberfall in der Geschichte Kolumbiens zu organisieren.“
Die fünf von Colpuertos verwalteten Häfen beschäftigten damals mehr als 15 000 Arbeiter, die in acht Gewerkschaften und einem Dachverband zusammengeschlossen waren. Diese Verbände hatten sich bedeutende Privilegien erworben und es angeblich fertiggebracht, „nacheinander alle Regierungen an der Nase herumzuführen“. Für Präsident Gaviria kam es zum damaligen Zeitpunkt vor allem darauf an, eine gewaltsame Reaktion der Arbeiter auf die angekündigte Privatisierung zu vermeiden. Als probates Mittel wurden die Arbeiter einfach entlassen. Zum allgemeinen Erstaunen gingen sie jedoch nicht auf die Straße.
Das Gesetz Nr. 1 erlaubte zwar den Transfer aller Vermögenswerte des Staates an ein Privatunternehmen, sah aber gleichzeitig vor, dass sämtliche Schulden und Verbindlichkeiten vom Staat übernommen würden. So heißt es in Artikel 35 des Gesetzes: „Der Staat übernimmt die Zahlung von Ruhestandsgeldern und Sozialleistungen jeglicher Art und kommt für Entschädigungen und Geldstrafen [sic!] auf, die zu Lasten von Colpuertos gehen ...“ Damit war die Grundlage für eine teuflische Maschinerie geschaffen, denn lange ließen die Geldstrafen nicht auf sich warten.
Reiche Rente nach dem Tod
IN den letzten Monaten der Existenz von Colpuertos, also zwischen Mai und August 1991, waren nämlich seltsamerweise sechs neue Tarifverträge mit den Gewerkschaften unterzeichnet worden. Sie garantierten den Arbeitnehmern allerlei Vorteile auf Grund diverser Lohnfaktoren. Es handelte sich um etwa vierzig Zuschläge und Sondervergütungen, die bei der Berechnung der Renten und Pensionen einbezogen werden mussten, wie etwa Zuschläge für Frühstück, Mittagessen, Abendessen (die sowieso bereits zu Lasten des Betriebes gingen), Transporte, Sonn- und Feiertage, Urlaub, Überstunden, Krankheit, Unfall, gesundheitsschädigende Arbeit, Schulgeld für die Kinder. Von noch größerem Einfallsreichtum zeugen die Vergütungen für Streikperioden, Beihilfen zu Begräbniskosten, Entschädigungen für ungerechtfertigte Aussperrungen, Sonntagsschuhe, Dienstzuschläge, Hemdenprämien und so weiter.
Als es nun darum ging, die Entlassungen durchzuführen und die Ruhestandsgelder festzusetzen1 , unterliefen den verantwortlichen Funktionären in den Häfen zahllose Irrtümer, freilich mit voller Absicht. Sie „vergaßen“ vor allem, die berühmten Faktoren zu berücksichtigen. Diese ärgerlichen Unterlassungen gaben in der Folge den Arbeitern die Möglichkeit, gegen den Staat vorzugehen, der vom „Fonds für soziale Verbindlichkeiten des Unternehmens Puertos de Colombia“ (Foncolpuertos) vertreten wurde. Dieser Fonds war nach der Schließung der Häfen gegründet worden, um die Ruhestandsgelder festzusetzen.
Die Generaldirektion dieser neuen Behörde hatte Präsident Gaviria am 27. November 1992 einem gewissen Hernando Rodriguez übertragen. Von diesem Mann weiß man nichts, außer dass er mit der umstrittenen Catalina Daniels verheiratet ist, die bis heute dem Kongress angehört und angeblich „schon früher einschlägig bekannt war als eine der korruptesten Personen von ganz Kolumbien“. Gleich nach seinem Amtsantritt leistete Hernando Rodriguez einen wesentlichen Beitrag zu dem Meisterwerk, das da gerade entstand: Durch die Zerstörung der Datenbasis, die sämtliche Informationen über die Arbeiter enthielt, organisierte er das totale Chaos. Ein Beamter, der über die ganze Sache gut unterrichtet ist, macht darüber folgende vertrauliche Mitteilung: „Von da an weiß man nicht mehr, wer sie sind, wie viele sie sind, welche Ansprüche sie haben, ob oder wie lange sie gearbeitet haben, auf welche der Lohnfaktoren sie Anspruch haben. Übrig geblieben ist eine zerfledderte Datenbasis, die im besten Fall unvollständige Informationen beinhaltet.“
Die ehemaligen Hafenarbeiter, die sich durch all diese Unregelmäßigkeiten betrogen fühlten, gaben ihrer Unzufriedenheit über die Rentenbemessungen Ausdruck. Da jedoch der Widerspruch, den sie bei der Behörde einlegten, unbeantwortet blieb, „beauftragten sie einen Rechtsanwalt. Der wiederum brachte sie in Kontakt mit anderen mehr oder weniger dubiosen Anwälten.“ Und unter all den selbstlosen Verteidigern, die sich spontan zur Verfügung stellten, tauchten zahlreiche ehemalige Funktionäre von Colpuertos auf: dieselben Leute, die die folgenschweren Irrtümer bei der Abwicklung begangen hatten.
Nun hagelte es eine Unmenge von Beschwerden (insgesamt 30 000 für 16 000 Arbeiter). Da zuverlässige Daten völlig fehlten, hätte nur die Vorlage der so genannten hojas de vida (Lebensläufe, die den Werdegang eines Arbeiters im Unternehmen darstellen) eine Einschätzung der berechtigten Ansprüche ermöglichen können. Diese aber waren in den Häfen geblieben und unbrauchbar geworden: Man hatte sie lose in Container geworfen oder in wüstem Durcheinander in irgendeinem gelegentlich überschwemmten Winkel der Hafenanlagen gestapelt. Von nun an konnten Forderungen aller Art gestellt werden, selbst die abwegigsten und am wenigsten nachvollziehbaren. Es folgten Verurteilungen zu Zahlungen, die auf unmotivierten richterlichen Begründungen beruhten. Unmotiviert? Oh nein! Sie waren mehr als motiviert, wie das folgende Beispiel zeigt: Da fordert eine Gruppe von Arbeitern, die von einem Rechtsanwalt vertreten wird, 1,55 Milliarden Peso (ungefähr 800 000 Euro oder 1,6 Millionen Mark). Der Richter in seiner unendlichen Weisheit hält das für zu wenig und gewährt 2 Milliarden Peso (2 Millionen Mark) – und steckt hinterher die Differenz in die eigene Tasche.
Von Leuten, die anonym bleiben wollen, wurden uns Einzelheiten der tückischen Maschinerie anvertraut: Von Rechts wegen muss ein ehemaliger Arbeiter, bei dessen Rentenbemessung die erwähnten Faktoren unzureichend oder gar nicht berücksichtigt wurden, eine Pauschalforderung stellen. Tatsächlich aber erhebt er für jede einzelne Unregelmäßigkeit eine gesonderte Forderung (durchschnittlich 20 Forderungen pro Rentner). So heißt es dann etwa: „Im vorliegenden Fall haben wir es mit vier Unregelmäßigkeiten zu tun, von denen die eine diesen, die andere jenen Anspruch rechtfertigt.“ Das Ganze wird dann vom Richter abgesegnet, der noch hinzufügt: „Für jeden Tag Verzug muss der Staat einen Tageslohn als Entschädigung zahlen.“ Bei einer einzigen Forderung würde sich die Geldbuße „für acht Monate Rückstand beispielsweise auf die Lohnsumme von etwa 160 Arbeitstagen belaufen, d. h. umgerechnet 14 Mark x 160 = 2 240 Mark. Dazu kämen noch die laufenden Zinsen. Aber da sich die Geldstrafe auf vier Forderungen bezieht, sind das 2 240 x 4 = 8 960 Mark. Manchmal gibt es 10, 15, oder gar 20 Einzelforderungen. Und manche Prozesse laufen über mehrere Jahre. Rechnen Sie mal nach.“
Die Anwälte stellten alle möglichen Forderungen und erreichten, was immer sie wollten. Die Strafen und die Verzugszinsen trieben die zu zahlenden Beträge in die Höhe.2 Da es weder Kontrollen noch einen Informationsaustausch zwischen den Gerichten gab, reichten manche ihre Beschwerde bei mehreren Gerichten gleichzeitig ein (in Cartagena, Barranquilla, Santa Maria, Bogotá usw.). „Damit nicht gleich auffiel, dass es sich um dieselbe Angelegenheit handelte, wurden die Namen oder die Nummer des Personalausweises leicht verändert.“ Wie viel das Zehnfache einer Zwei-Millionen-Mark-Forderung ist, kann sich jeder leicht ausrechnen. Renten, die sich normalerweise auf 300 oder 400 Mark belaufen würden, explodierten buchstäblich. Erwerbsunfähigkeitsrenten wurden an kräftige, kerngesunde Erwachsene ausgezahlt.
Ganz besonders begünstigt von dem System wurde der ehemalige Gewerkschaftsführer Arturo Forbes Rye. Er war im April 1973 als Lagerverwalter eingestellt worden und erhielt am Ende seiner beruflichen Laufbahn einen Lohn von etwa 615 Mark im Monat. Heute steckt er eine Monatsrente von 26 000 Mark ein. (Inzwischen hat der ehemalige Gewerkschafter Jura studiert und vertritt 150 Mandanten.) Da weder Kontrollmechanismen noch irgendwelche objektiven Kriterien für die Stichhaltigkeit eines Urteils existierten, zahlte die Staatskasse die abwegigsten Beträge ohne jeglichen Widerstand. Man könnte darüber lächeln und in diesen Machenschaften, die aus den ehemaligen Arbeitern von Colpuertos die reichsten – und angepasstesten – Arbeiter der ganzen Welt gemacht haben, einfach eine Demokratisierung der Korruption sehen. Aber der Schein trügt.
Eine Angestellte des öffentlichen Dienstes prangert mit kaum verhaltener Wut in der Stimme den Mechanismus an, den sie aus dem Effeff kennt: „Alle diese Leute stammen von der Küste, sie haben ihre Kultur und ihre Eigenheiten, aber außerdem konnten sie sich auf die mehr als aktive Komplizenschaft der ... Politiker stützen, um das Staatsvermögen zu plündern.“ Das Wort „Politiker“ kommt nicht über ihre Lippen, unsere Gesprächspartnerin kritzelt es nach einem kurzen Blick auf das Tonbandgerät auf ein Blatt Papier, um erst dann ein wenig nervös den Satz zu beenden. Ein anderer Gesprächspartner, der Informationen aus erster Hand hat, beginnt das Gespräch mit den eindrücklichen Worten: „Wenn Sie meinen Namen nennen, bin ich ein toter Mann.“ Wieder ein anderer, der die Angelegenheit genauestens kennt, sagt mit fester, aber gedämpfter Stimme: „Sie kennen mich nicht, Sie haben mich niemals gesehen, Sie haben mich niemals getroffen.“ Hier wird ein Vertrag zur Ermordung einer missliebigen Person mit einem sicario (einem Helfershelfer) bei etwa 400 Mark gehandelt. Schließlich sind ebenso hochrangige wie kostspielige Interessen im Spiel.
In der Tat lassen sich die vom Staat ausgegebenen Schwindel erregenden Summen nicht nur mit der Geldgier der Arbeiter erklären. Übrigens – so erzählte man uns – „haben viele Arbeiter niemals erfahren, dass ein Rechtsanwalt für sie tätig war. Diese fantastischen Summen haben in Wirklichkeit nur Einzelne erhalten.“
„Zunächst kassiert man Provision für die ungerechtfertigten Beträge, die den Arbeitern zugesprochen werden“, erklärt Ingrid Betancourt. „Dann bedient man sich direkt. Denn wo keine Datei existiert, kann jeder seine Daten frei erfinden.“ So verwandelte sich Foncolpuertos in eine „Geldmaschine“. Jeden Tag sprachen Leute vor, die Forderungen an den Staat geltend machen wollten. Und jeden Tag verurteilten die Richter denselben Staat zu Zahlungen, ohne dass sie ihr Urteil auf irgendein beweiskräftiges Dokument stützen konnten. Nach dem Motto „eine Hand wäscht die andere“ bot z. B. ein Direktionsmitglied von Foncolpuertos, Omar Niebles, einem Richter aus Santa Marta das allerneueste Modell eines Kleintransporters als Gegenleistung für ein günstiges Urteil, das ihm die bescheidene Summe von 1 Million Mark einbringen sollte.
Handlungsbevollmächtigte klagten im Namen von je 100 Angestellten, die niemals existiert haben. Hier lässt sich eine Frau Caicedo Maria Teresa mit Hilfe von drei verschiedenen Personalausweisen (Nr. 229 222 061, 129 222 061 und 329 222 061) dreimal 47 000 Mark bewilligen. (Nebenbei bemerkt: In Kolumbien gibt es eigentlich gar keine neunstelligen Ausweisnummern.) Dort erhält ein Mann namens Adalberto Berdugo (auf Grund der Beschlüsse 1052, 1059, 1019, die einzig und allein vom Generaldirektor von Foncolpuertos, Salvador Atuesta Blanco, unterzeichnet sind) drei Zahlungen in Höhe von umgerechnet 104 000 Mark, 88 000 Mark bzw. 140 000 Mark. Anderswo gelingt es fünf angeblichen Arbeitern, etwa 770 000 Mark für sich herauszuschlagen, weil bei der Berechnung ihrer Rente die 29 Tage unberücksichtigt geblieben waren, an denen die Hafenabfertigung von Barranquilla bestreikt worden war. Ein weiterer Rentenanwärter, Personalausweis Nummer 122 687 993 (!), wurde – man höre und staune – 1899 eingestellt, was ja eine erkleckliche Anzahl von anrechnungsfähigen Dienstjahren ergibt.3
Noch ein haarsträubendes Beispiel: Ein Mann namens Oswaldo Brochero, der am 3. Oktober 1993 verstorben ist, unterzeichnet drei Monate nach seinem Tod eine Vollmacht für den Anwalt Alfredo Tapta. Dieser erwirkt (laut Schriftstück 1798 a) für seinen Mandanten eine monatliche Rente von umgerechnet 21 000 Mark, auf Lebenszeit selbstverständlich! Das Verfahren basierte auf einem der 471 Scheindokumente, mit denen insgesamt 550 000 Millionen Mark wegen Nichtzahlung von Ruhezulagen und Zuschlägen für die Arbeit mit ätzenden Substanzen gefordert wurden (1998 wurden davon 215 Millionen Mark ausgezahlt). Nach einer polizeilichen Voruntersuchung im Auftrag der Procuraduria General de la Républica (PGR, eine Mischkonstruktion aus Bundesrechnungshofs und Finanzaufsicht) sollen Beamte aus Bogotá mit jeweils 40 Prozent Provision an den gerichtlich zugesprochenen Beträgen beteiligt gewesen sein.4 So gelang es der Anwältin Leydith Correa Laffont, sich – mit Hilfe von gefälschten oder manipulierten Dokumenten – mehr als umgerechnet 6 Millionen Mark auszahlen zu lassen. Damit liegt sie noch vor dem Anwalt Dulis Escobar, dem „König des Vergleichs“, dessen Vermögen auf 4 Millionen Mark geschätzt wird.
Verfälschung der Datenbasis, unkorrekte Bemessung von Sozialleistungen und Rentenansprüchen, Annahme gefälschter Dokumente, absichtlich herbeigeführter Verlust von Rechnungen und illegale Zahlungen, bestochene Gewerkschafter, Arbeiter, die sich für Betrug hergeben, korrupte Funktionäre, Anwälte, Richter, Sachbearbeiter, Kämmerer, Gauner aller Art – sie alle fanden den Weg zu Foncolpuertos5 und vor allem zu seinen nacheinander amtierenden Direktoren. Und nicht zu vergessen: Die Herren und Damen Hernando Rodriguez, Deyfan Silva, Maria Fressia Suárez, Juan Manuel Cubides, Manuel H. Zabaleta, Salvador Atuesta, Maria Piedad Mosquera wurden allesamt von den liberalen Regierungen der Herren César Gaviria (1990-1994) und Ernesto Samper (1994-1998) ernannt.
Der derzeitig amtierende Contralor (staatlicher Rechnungsprüfer) Carlos Osso sagt es ohne Umschweife: „Aus all dem, was im Zuge der Überprüfung durch die procaduría ans Licht gekommen ist, kann man praktisch den Schluss ziehen, dass die Desorganisation, die zu dieser ganzen Verschwendung geführt hat, wohlüberlegt und sorgfältig geplant war.“ Mag sich jeder sein Urteil selbst bilden ... Von den 120 Angestellten von Foncolpuertos gehörten nur 11 leitende Angestellte dem öffentlichen Dienst an. Die anderen besaßen nicht die geringste Qualifikation für die komplexe und heikle Verwaltungsaufgabe, die ihnen anvertraut war. Der Chef der Abteilung für Sozialleistungen beispielsweise war Architekt. Unter den zuständigen Sachbearbeitern waren Abiturienten, Ernährungswissenschaftler, Ingenieure, Designer. Sie alle wurden auf Empfehlung diverser Politiker eingestellt, was manche vorsichtig als „Beziehungen mit Dritten“ bezeichnen.
Es gab weder ein Handbuch für die Durchführung der Verfahren noch irgendeine Form interner Kontrolle. Und – so unglaublich es klingen mag – der Zugangscode zum Datennetz des staatlichen Zahlungssystems (Sistema Nacional de Pagos) wurde nicht weniger als 61 Angestellten von Foncolpuertos anvertraut! Auf ihre hervorragende Qualifikation haben wir ja bereits hingewiesen. Also konnten die Angaben in den Dateien, mit deren Hilfe das Staatsvermögen verwaltet wird, beliebig verfälscht, gelöscht oder sonstwie manipuliert werden. So floss das Geld in Strömen – zum großen Nutzen all jener, die im Hintergrund operierten und die eigentlichen Drahtzieher und Nutznießer dieses finanziellen Aderlasses waren. „Es hatte sich ein regelrechtes Kartell gebildet, das folgendermaßen funktionierte: ein geringfügiger Betrag für den Arbeiter, eine üppige Zahlung an den Gewerkschaftsboss, ein fester Prozentsatz für den Anwalt, den Richter, den Beamten und für den Mittelsmann, der den Kontakt zwischen dem Beamten und dem Anwalt hergestellt hatte und überdies die Honoratioren in der Politik bezahlte.“
„Prozess 8000“
WAHLKÄMPFE und persönliche Bereicherung gingen unter der Regierung Gaviria Hand in Hand. In Bogotá sagte man mit bitterem Lächeln: „Die werden damit reich wie der Teufel.“ 1994 kam es zum Skandal, der dem neu gewählten Präsidenten Ernesto Samper beinahe zum Verhängnis wurde. Er wurde beschuldigt, zur Finanzierung seines Wahlkampfes umgerechnet ca. 7,4 Millionen Mark von den Drogenbaronen des Cali-Kartells erhalten zu haben. Verteidigungsminister Fernando Botero, der besagten Wahlkampf geleitet hatte, wurde inhaftiert und packte aus: Ja, der Kandidat Samper habe von den narcos Geld erbeten und es auch bekommen. Als Gegenleistung habe er ihnen das Versprechen gegeben, den beständigen, massiven Forderungen der USA nicht nachzukommen und sie nicht auszuliefern. Nach einem „Prozess 8000“ genannten und ziemlich undurchsichtigen Verfahren vor dem Kongress wurde Samper am 15. Dezember 1995 zur allgemeinen Überraschung freigesprochen.
Zu diesem Zeitpunkt verfügten einige hochrangige politische Persönlichkeiten – Vertraute des Präsidenten wie etwa Marta Catalina Daniels, Carlos Alonso Lucio, „Chucho“ Barcilla, Jaime Lara (derzeit inhaftiert wegen Drogenhandels) – über enge Kontakte zu Leuten, die an den Schaltstellen von Foncolpuertos saßen. Wurde die Institution benutzt, um den Freispruch für den Präsidenten zu einem hohen Preis zu erkaufen? Die Antwort kommt nur zögernd: „Es gibt keinen stichhaltigen Beweis dafür, aber das ist wohl die allgemeine Auffassung, auch innerhalb des Kongresses. Schließlich hat Heyme Mogollon, der die Ermittlungen gegen den Präsidenten leitete, sich mit 3 Millionen Mark in der Tasche vom Kongress verabschiedet und lebt jetzt in seinem Heimatdorf im hintersten Winkel der kolumbianischen Küste wie ein König.“
Nur die Senatorin Ingrid Betancourt, die wegen ihres mutigen und hartnäckigen Kampfes gegen die Korruption als schwarzes Schaf der politischen Klasse Kolumbiens gilt, wagt es, weiterzumachen. Mit Blick auf den Stoß von Unterlagen, die vor ihr auf dem Tisch liegen, sagt sie: „Dieses ganze Paket enthält Zahlungsansprüche, die zum Zeitpunkt des Samper-Prozesses vorgelegt wurden. Man hatte sie so formuliert, als ob sie 1993 verfasst worden wären, und sie dann in Barranquilla vorgelegt, weil die Kongressmitglieder wussten, dass sie dort auf die bestechlichsten Richter der Welt zählen konnten. Aber diesmal hatten sie kein Glück, denn eben erst war bei einer Rechnungsprüfung durch die CGR in Barranquilla6 festgestellt worden, dass der Hafen seine Schulden getilgt hatte und dass alle Leistungen gezahlt worden waren. Und gerade da fielen auf einmal lauter neue Forderungen vom Himmel – insgesamt in einer Höhe von 575 Millionen Dollar [1,15 Milliarden Mark].“
Der contralor Carlos Osso drückt sich vorsichtiger aus: „Alle sagen das hinter vorgehaltener Hand, aber außer Ingrid Betancourt spricht es keiner öffentlich aus. Ich für mein Teil bin sicher, dass gewisse Leute aus der politischen Szene aktiv an dem Betrug beteiligt waren. Die laufenden Untersuchungen werden bestimmt Beweise dafür liefern.“
Wie könnte es auch anders sein? Schon 1993 war man der Betrügerei auf die Spur gekommen. Am 24. Mai 1993 legte die CGR dem Finanzminister einen alarmierenden Bericht über die chaotischen Zustände bei Foncolpuertos vor. Nichts passierte. Zwei Jahre später fand eine neuerliche Rechnungsprüfung durch die CGR statt, auch sie kam zu erschreckenden Ergebnissen. Trotzdem wurden keinerlei gerichtliche Ermittlungen in die Wege geleitet, nicht einmal von Francisco Becerra, dem contralor general, der ja eigentlich an der Spitze ebenjener Behörde stand, die Alarm geschlagen hatte.7 Und die Minister, die für die Transparenz des Verfahrens sorgen sollten und die zur Direktion von Foncolpuertos gehörten, zeigten auch keine Reaktion.
Mit dem Urteil T-001 vom 21. Januar 1997, das einige leicht erkennbare Unregelmäßigkeiten feststellte, schaltete sich der Verfassungsgerichtshof ein. Am 19. Februar wurde der contralor David Turbay damit beauftragt, eine Steueruntersuchung zu einem ersten Paket von 34 gerichtlichen Entscheidungen über insgesamt 470 ehemalige Hafenarbeiter durchzuführen. Es ging um eine Summe von umgerechnet 7 Millionen Mark. Vier Monate später, am 29. September, wurden die Ermittlungen der Untersuchungskommission der CGR (Investigación fiscal no. 00229-97, relacionado con la sentencia T-01/97) eingestellt. Der contralor schloss den Fall mit der Begründung ab, dass „keinerlei steuerliche Unregelmäßigkeiten festgestellt werden konnten und man davon ausgehen kann, dass der Staat die tatsächlich fälligen Beträge in Übereinstimmung mit den gesetzlich und vertraglich festgelegten Leistungen gezahlt hat, ohne dass daraus irgendein Schaden für das öffentliche Vermögen entstanden wäre“8 .
Sämtliche Minister für Arbeit, Entwicklung, Finanzen, die während dieser langen Periode nacheinander im Amt waren, wurden gewarnt. Ebenso alle Finanzverwalter und hohe Beamte wie Zamora Zuniga Valverde, damals Richter am Obersten Gerichtshof bei der auf Arbeitsrecht spezialisierten Kammer. (Als Richter ließ er unrechtmäßige Entschädigungen zahlen. Seit seiner Pensionierung betätigt er sich als Anwalt jener Richter, die wegen genau solcher Amtspflichtverletzungen inhaftiert sind.) Frau Betancourt nimmt kein Blatt vor den Mund: „Die Präsidenten Gaviria und Samper wussten genau Bescheid, und zwar aus gutem Grund.“ Die Ermittlungen sind systematisch von ganz oben gestoppt worden.
Allen Anordnungen zum Trotz aber gab und gibt es viele kleine und mittlere Beamte, die diese Zustände widerwärtig finden und ihre Ermittlungsarbeit still und emsig fortsetzen, Beweise zusammentragen und üble Machenschaften durchleuchten. Diese Männer und Frauen verteidigen die Ehre ihres Landes – und riskieren dabei Kopf und Kragen. Auch Ingrid Betancourt, die diesen Kampf anführt, ist großem Druck und zahlreichen Drohungen ausgesetzt. „Aber als Senatorin“, sagt sie, „genieße ich wenigstens staatlichen Polizeischutz. Das ist immerhin etwas. Andere haben nichts dergleichen.“
Auch der derzeit amtierende contralor Carlos Osso, der 1998 nach der Machtübernahme durch den konservativen Präsidenten Andrès Pastrana berufen wurde, scheint sich um den Druck, der auf ihn ausgeübt wird, nicht zu kümmern. Er stellt ganz offen fest: „Ich komme zu dem Schluss – und das habe ich auch vor dem Kongress gesagt – dass unser Land einer Verschwörung zum Opfer gefallen ist, an der hohe Staatsdiener aktiv oder durch Unterlassung beteiligt waren.“
Nun geht es darum, das Ausmaß des Verbrechens abzuschätzen, eine schwierige Aufgabe, weil bei keiner einzigen Behörde, in keinem einzigen Amt auch nur der Ansatz einer Buchführung über die ausgezahlten Beträge vorliegt. Nach Einschätzung von Carlos Osso wurde inzwischen mindestens 1 Milliarde Mark aus dem staatlichen Haushalt in dieser Angelegenheit ausgegeben, davon sicherlich 40 Prozent auf Grund von betrügerischen Vorgängen. Und es geht noch weiter: Nach Angaben einer Gruppe des Arbeitsministeriums gab es im Juni 1999 noch 18 232 laufende Verfahren. Und die – höchstwahrscheinlich unrechtmäßigen – Zahlungen aus 1 000 Schlichtungsverfahren vom Dezember 1993 standen noch aus. Diese Summe schätzt Osso auf 2,5 bis 3 Milliarden Mark.9 Insgesamt handelt es sich also um mindestens 3,5 bis 4 Milliarden Mark.10 Nach Meinung von Ingrid Betancourt könnte sich der Schaden sogar auf 6 Milliarden Mark belaufen. „Das ist doppelt soviel, wie der Haushalt 2000 für die Bereiche Soziales, Erziehung, Gesundheit und Wohnförderung zusammen vorsieht. Und das in einem Land, in dem die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent liegt und 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Das ist ungeheuerlich.“ Und doch wird die Angelegenheit allem Anschein nach ohne einschneidende Konsequenzen bleiben. Etwa vierzig Arbeiter, Anwälte, Richter und Helfershelfer wurden inzwischen zwar verhaftet. Aber von Prozess zu Prozess wird die Sache immer mehr verwässert.
Skandal ohne Folgen
DIE mit den Großkonzernen und dem politischen Establishment eng verbundenen Medien zeigen übrigens wenig Interesse an dem Skandal. Wie sollten sie auch, wenn beispielsweise der Chef der großen Tageszeitung El Espectador, Carlos Viera de la Fuente, als Anwalt für eines der Unternehmen tätig war, die aus der Priviatisierung der Häfen Profit geschlagen haben? Der nationale Rat der Richter und Staatsanwälte hat zwar die Notwendigkeit betont, an die 18 000 Urteile zu überprüfen, die in diesem Zusammenhang gesprochen worden sind. „Aber die Justiz ist dermaßen in den Skandal verstrickt, dass sie selber kaum imstande ist, gegen Senatoren, Abgeordnete, Minister und Präsidenten Anklage zu erheben.“
Was die Kontrollinstanzen betrifft, so sind sie noch immer in den Händen von Personen, die dem früheren Präsidenten Samper nahe stehen. Alfonso Gomez Mendez, der „fiscal“ genannte Oberstaatsanwalt, der derzeit die Untersuchung führen soll, war Anwalt der Minister, denen im „Prozess 8000“ vorgeworfen wurde, Geld von der Mafia bekommen zu haben. Der für Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte zuständige procurador Jaime Bernal war, kurz bevor er sein jetziges Amt übernahm, der private Anwalt von Hernando Rodriguez, dem ersten Direktor von Foncolpuertos. Dieser hatte, wie wir wissen, die Grundlagen für die Plünderungsaktion geschaffen, die ihm 20 Millionen Mark eingebracht haben soll.
Gegen Rodriguez läuft zwar inzwischen ein Gerichtsverfahren. Aber schon vor zwei Jahren hat der sich aus dem Staub gemacht und ward seitdem nicht mehr gesehen. Auch wurde die Baufirma Hermac Ltda, die er zusammen mit seiner Frau Marta Catalina Daniels besitzt, gepfändet (Hermac: Hernando y Marta Catalina). Und trotzdem sitzt diese Dame weiterhin im Kongress.
In der Zwischenzeit wurde der ehemalige Präsident Gaviria wieder in seinem Amt als Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt – mit der vollen Unterstützung seiner Amtskollegen, insbesondere der US-amerikanischen Regierung. Die derzeitige kolumbianische Regierung, die sich mit einer dramatischen Wirtschaftskrise konfrontiert sieht, musste beim Internationalen Währungsfonds um Hilfe nachsuchen. Beim IWF scheint man von den Machenschaften bei Foncolpuertos genauso wenig gehört zu haben wie von den Unterschlagungen öffentlicher Gelder, die Russland ausgeblutet haben.11 Jedenfalls gewährte der IWF der Regierung in Bogotá am 20. Dezember 1999 eine Unterstützung von 5,4 Milliarden Mark. Das entspricht in etwa der Summe, die in den Taschen kolumbianischer Politiker verschwunden ist. Einzige Bedingungen für diese Hilfe: Die Zügel müssen fester angezogen werden. So stehen also in Kolumbien Einschnitte im Staatshaushalt an, Reformen in der Steuerpolitik, beim Sozialversicherungssystem und bei den Beamtenpensionen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und – wie könnte es anders sein – weitere Privatisierungen.
dt. Dorothea Schlink-Zykan