11.02.2000

Die wahren Absichten im Kosovo

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Die wahren Absichten im Kosovo

IM Hinblick auf das Rambouillet-Abkommen war oft von Anhang B des Vertragswerks die Rede, der den Nato-Truppen die völlige Bewegungsfreiheit in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien zusicherte. Dennoch war es nicht diese Klausel, mit der Belgrad seine Ablehnung des Vertrags begründete. Warum?

Der jugoslawische Außenminister Zivadin Jovanovic behauptet, die Nato habe selbst Russland gegenüber ihre wahren Ziele verborgen. Einige Paragrafen des Anhangs (insbesondere Punkt 5 und 7) „wurden nie diskutiert. Sie wurden am Tag vor Abschluss der Verhandlungen vorgelegt.“ Dennoch zeigten sie, meint Jovanovic, dass der Westen „beabsichtigt hat, Jugoslawien zu besetzen“.

Anhang B und die Art seines Auftauchens und Verschwindens gehören zweifellos zu den ausgeblendeten Seiten dieses „moralischen Krieges“. Als die Amerikaner nach dem Scheitern der ersten Verhandlungsrunde unter französisch-englischem Vorsitz die Regie übernahmen, brachten sie natürlich ihre eigenen geostrategischen Vorstellungen mit.1 Dabei ging es insbesondere um die Rolle der Nato, die amerikanische Hegemonie und damit auch um die Frage nach der „Konstruktion Europas“.

Die europäischen Regierungen schlossen sich diesem nicht erklärten Krieg in der Annahme an, er werde nicht lange dauern. Sie betrachteten Slobodan Milosevic nicht als Hauptfeind, sondern als pragmatischen Gesprächspartner, der sich aus dem Kosovo ebenso zurückziehen würde, wie er die Krajina „vergessen“ und die großserbischen Ambitionen in Bosnien-Herzegowina aufgegeben hatte, um sich an der Macht zu halten. Dabei vergaßen sie, dass Milosevic durch das Dayton-Abkommen nicht geschwächt, sondern gestärkt worden war – selbst gegenüber seinen ehemaligen Verbündeten, die mittlerweile zu ultranationalistischen Gegnern geworden waren.

In den Sphären der Macht wurde die Frage nach der Zukunft des Kosovo sehr wohl diskutiert. Denn die Serbisierung der Provinz war gescheitert. Hunderttausende serbischer Flüchtlinge aus der Krajina hatten es abgelehnt, sich im Kosovo anzusiedeln, und bevorzugten die reichere, mehrheitlich serbische Wojwodina. Und die Albaner weigerten sich seit 1990 systematisch, „serbische Bürger“ unter einer serbischen Verfassung zu sein. Trotz der Beschwörung eines „serbischen Jerusalem“ ging es Belgrad vor allem darum, die Klöster und Bergwerke im Norden des Kosovo zu behalten. Drei Möglichkeiten standen zur Debatte: ein autonomes, ungeteiltes Kosovo, unter Hinnahme einer steuerlichen, kulturellen und institutionellen Apartheid (bei Sicherung gewisser Eigentumsrechte Belgrads); die Teilung der Provinz, wobei der Norden Serbien zugeschlagen würde; oder ein Tausch „Kosovo gegen Republika Srpska“.

Einige Monate vor Rambouillet hatten die US-Sondergesandten eine Offensive Belgrads gegen die „Terroristen“ der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) toleriert, gleichzeitig aber mit Bomben gedroht, falls diese zu „extrem“ würde. Die UCK hatte unter dem Druck der Repression an Popularität gewonnen. So waren die Drohungen das Gegenteil einer tauglichen Strategie zur Konfliktvermeidung. Denn der albanische Widerstand im Kosovo zielte im Kern darauf, die Kosovo-Frage zu internationalisieren, zuerst friedlich, dann mit Waffengewalt.

Das Hauptproblem der Nato-Regierungen und speziell Frankreichs und Großbritanniens lag darin, dass ihr Stabilitätskonzept für den Balkan zwingend vorsah, die Grenzen Jugoslawiens zu erhalten, also den Zielen Belgrads näher war als denen der Albaner. So hieß es in einem Brief von Außenminister Hubert Védrine an Jacques Chirac und Lionel Jospin vom 20. Januar 1999: „Ohne einen politisch ausgehandelten Kompromiss muss man dem Kosovo entweder gewaltsam ein Protektorat aufzwingen, oder aber das Chaos einer unkontrollierten Unabhängigkeit in Kauf nehmen.“2

Die damit benannte Gefahr ist nicht etwa irgendeine Form von „Völkermord“. Es ist die Unabhängigkeit des Kosovo. Darum blieben die ersten beiden Phasen der Rambouillet-Verhandlungen ebenso erfolglos, wie es das Abkommen zur Beendigung des Krieges bleiben muss. „Wir halten an dem fest, was die Resolution besagt“ (Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen), bekräftigt Zivadin Jovanovic, „an einer Autonomie im Rahmen Serbiens mit gleichen Rechten für alle Bürger.“

Nur wollte die serbische Bevölkerung, wie man auch in Belgrad wusste, nicht für das Kosovo sterben, und erst recht nicht an einem Völkermord an den albanischen Nachbarn mitwirken. Was sich in den südserbischen Städten während des Krieges abspielte, beweist die Haltlosigkeit eines Schlüsselarguments, mit dem die Nato-Bomben legitimiert wurden: dass eine serbische Offensive oder, wie es meist hieß, ein „Völkermord“ unvermeidlich bevorstand.

Ganz im Gegenteil fällt auf, dass in Cacak und Leskovac, in Kraljevo, Krucevac und anderen Städten des Südens, wo am meisten Soldaten für den Kosovo-Krieg mobil gemacht wurden, die Einberufenen rebellierten und sich „Bürgerparlamente“ gegen den Krieg aussprachen. Selbstverständlich wurden die Treffen verboten, Strafen verhängt und die Attacken der Polizei verschärft. Dennoch konnte man es sich nicht leisten, die traditionell bäuerliche Basis der Armee frontal zu bekämpfen.

Ohne die Bombardierung wäre es den serbischen Streitkräften niemals möglich gewesen, ohne viel Federlesens hunderttausende Albaner zu vertreiben. Der Anhang B war schon deshalb nicht entscheidend, weil sich beide Seiten bereits auf den Krieg eingestellt hatten, bevor die Scheinverhandlungen wieder aufgenommen wurden. Die Folgen hatte niemand unter Kontrolle.

Am 26. Mai 1999 erklärte Adem Demaci, der „Mandela des Kosovo“ – er verbrachte unter Tito 24 Jahre im Gefängnis – in einem Interview mit AFP: „Wenn die USA die Garantiemacht [für ein Abkommen] sein wollen, ist dies zu begrüßen. Dann müsste aber ein Serbe auf der einen und ein Albaner auf der anderen Seite des Tisches sitzen.“ Zu den Verhandlungen in Rambouillet meinte er: „Wir hatten keine geschlossene Delegation, die fähig gewesen wäre, sich mit den Serben auseinander zu setzen. Wenn wir schon nicht in der Lage waren, mit den Serben zu verhandeln, wie sollten wir dann in der Lage sein, mit ihnen zusammenzuleben? Freiheit kann kein einseitiges Privileg sein, nur für die Albaner. Man kann nicht zufrieden sein, wenn es die anderen nicht sind.“

C. S.

Fußnoten: 1 Siehe insbesondere den ausgezeichneten Essay von Daniel Bensaïd, „Contes et légendes de la guerre éthique“, Textuel 1999; sowie Gilbert Achcar, „La nouvelle guerre froide. Le monde après le Kosovo“, Paris (Actuel Marx Confrontation, PUF) Paris 1999; Yannick Bové und Barbara Delcourt (Hg.), „Que nos valeurs sont universelles et que la guerre est juste“, Paris (Cerisier) 1999; François Chesnais, Tania Noctiumes et Jean-Pierre Faye, „Refléxions sur la guerre en Yougoslavie“, Paris (L'esprit Frappeur) 1999. 2 Libération, 1. Juli 1999.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von C. S.