11.02.2000

Der Supermarkt der Wünsche

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Der Supermarkt der Wünsche

Von MICHEL RAFFOUL *

DEM Anschein nach handelt es sich um einen ganz normalen, gigantischen Verbrauchermarkt: ein nagelneuer, bemerkenswert gut gestalteter und hell erleuchteter hypermarché, der morgen eröffnen könnte. Doch nie wird dort jemand einkaufen, denn der Ort ist ein geheimer Prototyp, zu dem die Öffentlichkeit keinen Zutritt hat. „Magali hat uns vor allem ermöglicht, die jüngsten Innovationen für unsere Filialen in Realgröße zu testen“, verlautbart man in der Führungsetage der Verbrauchermarktkette Carrefour. Die Schaffung einer fiktiv-realen Verkaufsfläche ist ein Novum in Frankreich und erfolgt just zu einem Zeitpunkt, da die großen Discounter sich einen Handelskrieg liefern.

„Dreißig Jahre argumentierten die Großmärkte einzig damit, dass ihnen das Niedrigpreisangebot einen schnellen und regelmäßigen Absatz sichere. Aber neuerdings beginnen die Kunden kleinere Supermärkte oder bestimmte Läden des Fachhandels vorzuziehen, wo dieselben Produkte verkauft werden, nur teurer“, erklärt Thibault Le Carpentier, Chef der Unternehmensberatung Obsand. Da die Supermarktketten in ihren Strategien strikt auf die Produzenten ausgerichtet sind, die von ihnen unter massiven Druck gesetzt wurden, um immer günstiger einkaufen zu können, musste ihnen diese Entwicklung wie die Infragestellung eines Dogmas vorkommen.

Aber worin liegt dieses „Plus“, das den Kunden veranlasst, bei der Konkurrenz die gleiche Ware teurer einzukaufen? Um dies zu beantworten, hat die Branche eine Reihe von Verbraucherbefragungen durchgeführt, deren Ergebnisse gehütet wurden wie ein Staatsgeheimnis. Beraterfirmen, Meinungsumfrage-Institute, Marktstudien, Trendanalysen – alle zur Verfügung stehenden Mittel wurden angewendet, ausgewertet und mit den soziologischen Daten des staatlichen Statistikamtes Insee verglichen. Zu sagen, die Ergebnisse hätten überrascht, ist eine heftige Untertreibung. „Heutzutage empfinden die Kunden den Einkauf in Großmärkten als eine Zumutung, sie begeben sich lieber in Geschäfte, die menschlichere Dimensionen haben, sich in ihrer Alltagsumgebung befinden und in denen sie beraten werden.“

Das Ziel ist klar: Wollen die Verkaufsgiganten auf die Erwartungen dieses neuen Verbrauchertypus reagieren, so müssen sie nicht nur die Kundschaft wieder an sich binden – die Hälfte kauft regelmäßig bei verschiedenen Ketten ein –, sondern auch den Impulskauf von Genusswaren wieder anregen, deren Umsatz mit der Wirtschaftskrise am stärksten zurückgegangen ist. Als erste Maßnahme vergrößerte man das Warenangebot, indem neue Abteilungen mit Schmuck- oder Drogeriewaren, Reisebüros, Bestattungs- und Kreditinstitute oder Theaterkassen geschaffen wurden. Gleichzeitig erweiterten die hypermarchés auch ihr Dienstleistungsangebot: Lieferung ins Haus, verkürzte Wartezeiten an der Kasse, eine praktischere Aufteilung der Verkaufsfläche nach dem so genannten Küchenschrankprinzip, das heißt Platzierung der Waren nach einer Anordnung, wie sie auch im privaten Haushalt bevorzugt wird; hinzu kommen Kinderbetreuung und diverse Unterhaltungsangebote im Stile des „retail-tainments“, also des amerikanischen Vergnügungskaufparks.

Viel schwieriger hingegen ist es, eine Nachbarschaftlichkeit herzustellen, wie die kleinen Läden sie bieten: Wie soll man in einer Mammutanlage von mehreren tausend Quadratmetern die anheimelnde Atmosphäre eines Tante-Emma-Ladens kreieren? Nun, als erstes greift man auf die Traditionsfarben der Kleinhändler zurück. Bei Carrefour zum Beispiel ist die Fleischwarenabteilung rot, die Wurstwarenabteilung rosa, die Backwaren präsentieren sich in zwiebackgoldenem Umfeld, der Verkaufsbereich für Fisch ist blau-weiß gekachelt, die Ecke, in der der Wein lagert, als Kellergewölbe und mit gedämpftem Licht gestaltet, und schließlich ist dort, wo die abgepackten Waren angeboten werden, die Verkaufsfläche in Grün und Gelb gehalten. Der hypermarché, ganz und gar die Antithese des kleinen Ladens, hat sich ins „Lädchenhafte“ gewendet. „Die Suche nach einer nachbarschaftlich-freundlichen Atmosphäre bedeutete auch die Rückkehr der Verkäufer“, so Philippe Moati, Mitarbeiter am Credoc, einem Forschungszentrum, das die Veränderungen in den Lebensbedingungen untersucht. Gestern waren sie Staffage oder übten Druck auf den Kunden aus, heute sind sie nett und zuvorkommend, informieren über die Produkte und geben den Kunden Sicherheit beim Kauf. Dank der Verkäufer vollzieht sich im Verbrauchermarkt eine kulturelle Revolution: Er steht für Zuverlässigkeit und Kompetenz.

Entsprechend dieser Idee schufen sich die verschiedenen Ketten ihre Eigenmarken. Wenn die Artikel zuvor mit dem Tiefstpreis lockten, so entwickeln sie sich nun zu einer echten Alternative gegenüber den großen Markenprodukten. Franck Cochoy, Marktsoziologe an der Universität von Toulouse, ist in dieser Sache einem interessanten Rätsel nachgegangen: Wie hilft man dem Kunden bei der Wahl zwischen gleichartigen Produkten? Der Discounter Leclerc hat hierfür eine originelle Lösung gefunden. In der Schinkenabteilung zum Beispiel werden dem Kunden auf fünf Regalen von fünf Metern Länge verschiedenste Marken angeboten. Um ihm bei der Entscheidung zu helfen, hat Leclerc eine preiswerte Marke ausgesucht und mit einem Orientierungslabel versehen, einer Art von hauseigenem Qualitätssiegel. „Vom Parkplatz an wird der Kunde in einer Weise, die etwas Eintrichterndes hat und von beunruhigender Effizienz ist, systematisch zu den von Leclerc ausgesuchten Waren gelenkt.“ Damit hat sich der Verkäufer endgültig von einer beratenden in eine Entscheidungsinstanz verwandelt.

Doch die größte Herausforderung für die Verbrauchermarktgiganten stellen die in den letzten Jahren aufgetauchten Fach-Discountläden mit einer besonderen, pfiffigen „Geschäftsidee“ dar. Sie verzeichnen ein exponentielles Wachstum – mitunter auf Kosten eben der hypermarchés. Zu nennen sind hier „Saint Macloud“, „La Halle aux vêtements“, „La Clé des marques“, „Usines center“, „Nature et Découverte“, „Ikea“, „Décathlon“, „Gap“ oder „H&M“. „Diese Geschäfte sind unsere schlimmsten Feinde“, räumt der Marketingchef einer großen Kette ein. Sie sind überaus aggressiv auf dem Markt. „Im Fachjargon nennen wir sie category killers.“ Wobei das entscheidende Verkaufsplus der Fachdiscounter weder in der Spezialisierung ihrer Warenpalette noch in den niedrigen Preisen liegt, sondern in einer bestimmten Atmosphäre.

„Es genügt nicht, Waren zu günstigen Preisen anzubieten“, bemerkt Laurent Pouquet, Forscher am Credoc. „Sie müssen inszeniert werden, damit eine Atmosphäre, ein Stil, eine Lebensform deutlich werden, ja sogar ökologische oder politische Überzeugungen, wie zum Beispiel bei „Ikea“ oder „Nature et Découverte“; es geht um ein Image, ein Selbstbild, in dem der Kunde sich wiedererkennen möchte. Das Ganze hat auch einen Namen: Marketing der immateriellen Aspekte.“ Dieses Motiv ist beim Kauf so entscheidend geworden, dass die großen Verbrauchermärkte es nicht länger umgehen können und nun versuchen, es wissenschaftlich umzusetzen. „Die immateriellen Aspekte ermöglichen es, den Kunden zu binden und ihn zugleich zum Impulskauf von Produkten mit hoher Gewinnspanne anzuregen, und im selben Zuge wird auf die category killers reagiert. Man reitet auf gerade angesagten Trends, ob es nun der Trend zum Lokalen oder zur Exotik ist, ob die Ökologie oder die Rückkehr zu den ,wahren‘ Werten“, führt Pouquet aus. Ja, warum soll man nicht tiefer in die Tasche greifen für das gleiche Produkt, wenn es anders erscheint und man zudem noch zu einer guten Sache beitragen kann?

Seit kurzem richten bestimmte hypermarchés „Erlebniszonen“ ein, in denen der Tisch, die Unterhaltungselektronik, das Baby, das Frühstück, der Hausgerätepark oder das Auto im Mittelpunkt stehen. Ausgestaltet ist das Ganze mit ausgesuchten Materialien. Farbe, Beleuchtung, akustisches Ambiente und demnächst auch Gerüche erzeugen eine ruhige oder geborgene Stimmung, die genau das Gegenteil des sterilen Großmarkts von gestern darstellt. Zunächst Beratungs-, dann Entscheidungsinstanz beim Warenkauf, schwingen sich die Verbrauchermarktgiganten nun auf, Träger aktueller Ideen zu sein.

Einige Ketten versuchen nun, die unbewussten Kaufwünsche des Kunden dank der erstaunlichen Technologie des „datamining“ zu prognostizieren. Die Einführung der Kundenkarte als Zahlungsmittel liefert unzählige Informationen und zudem ein genaues Porträt jedes einzelnen Kunden. „Diese Technologie wird im 21. Jahrhundert von zentraler Bedeutung sein. Die Zukunft der Großmärkte gehört demjenigen, dem es gelingt, das Kapital zu dechiffrieren, das in jedem Verbraucher steckt“, stellt man sachlich und unaufgeregt bei „L'Echangeur“ fest, einem europäischen Ausbildungszentrum für neue Markttechnologien. „Die Wettbewerbsfähigkeit der Ketten wird sich fortan nach dem Umfang ihrer Datenbank berechnen“, meint auch Hani Roumieh, Marketingdirektor bei EMC-France, einem Datenbank-Spezialisten. Diese weit verzweigte – verzweifelte? – Suche nach dem verlorenen Kunden spiegelt die tiefgreifende Identitätskrise der großen Verbrauchermärkte. Ehedem eine Art einfachstes Warendistributionszentrum und befangen in einer Tiefstpreis-Logik, haben sie nun begonnen, die unbewussten Wünsche ihrer Kunden zu entschlüsseln. Ob die Dynamik ihres Niedergangs aufgehalten werden kann steht freilich auf einem anderen Blatt.

dt. Passet/Petschner

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von MICHEL RAFFOUL