17.03.2000

Peter Watkins filmt die Pariser Kommune

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Peter Watkins filmt die Pariser Kommune

Von PHILIPPE LAFOSSE *

„Wer sich als Regisseur heute der publikumsverachtenden Ideologie der Massenkultur widersetzt und keine frenetische Abfolge aus simpler Erzählung, Gewalt, Lärm und Action zusammenschneiden will, mit einem Wort, wer die Einheitsform, die ich die Monoform nenne, ablehnt, wird nicht unter anständigen Drehbedingungen arbeiten können. Ausgeschlossen.“ Diese Worte stammen von Peter Watkins (geboren 1937), englischer Filmemacher und einer der wichtigsten lebenden Regisseure, der, obwohl er seit fünfunddreißig Jahren dreht, seit Mitte der siebziger Jahre seine Filmprojekte nur unter größten Schwierigkeiten realisieren kann.

„Mehr als Schwierigkeiten“, präzisiert er. „Seit 1976, als mein letzter Film [„Edvard Munch“] professionell produziert wurde, komme ich nicht mehr normal an Geld heran, weshalb mich viele Leute schon für tot halten.“ Wer freilich das Glück hatte, seine ikonoklastischen, kritischen, komplexen und aufrührerischen Spielfilme zu sehen, wird sie nicht so schnell vergessen. „Die Produzenten stecken das Geld primär in Unterhaltungsfilme. Wer etwas anderes macht, Alternativen sucht und kreativ arbeiten will, wird marginalisiert. Die Repression ist institutionalisiert, genauso wie die mediale Gewalt.“

Gedreht hat Peter Watkins „La Commune“ in Montreuil, einem Vorort von Paris, mit über zweihundert Darstellern, viele von ihnen Laien. Produziert haben ihn hauptsächlich die in Marseille ansässige „13 Production“, der Sender La Sept-Arte und das Musée d’Orsay. Gesamtkosten: gut 2,1 Millionen Mark. Bei seiner Abreise nach Vilnius (Litauen), wo er inzwischen lebt, hinterließ der Schöpfer von „War Game“ (1965), „Privilege“ (Privileg, 1967), „Gladiators“ (1969) und „Punishment Park“ (Strafpark, 1970) einen neuen Kinofilm, der vom Volkswillen, von derMacht und vom Protest gegen die Macht handelt. Es ist ein politischer Film, der zu gemeinschaftlichem Handeln und zum Nachdenken aufruft.

Das englische Publikum entdeckte Peter Watkins im Dezember 1965. Damals war er 28 und hatte seit einem Jahr einen Auftrag beim Fernsehen; BBC 1 sendete einen Film über die Schlacht von Culloden, bei der sich am 16. April 1746 der Schotte Charles Edward Stuart und der Herzog von Cumberland mit ihren Truppen gegenüberstanden. Was ein bloßer Historienschinken hätte werden können, erwies sich als Frontalangriff gegen den Imperialismus mit eindeutigem Gegenwartsbezug und alles andere als klassischer Präsentationsweise: Ein Fernsehreporter wird ins 18. Jahrhundert zurückversetzt, wo er die Teilnehmer der Schlacht interviewt.

Mit „War Game“, einem pazifistischen Brandsatz gegen die Atombombe, im Jahr darauf ebenfalls für die BBC gedreht, führt uns Peter Watkins drastisch vor Augen, wie eine Apokalypse aussähe, „die nicht nur unsere Vergangenheit und Gegenwart zerstören, sondern auch die Zukunft der Menschen für lange Zeit ruinieren würde“1 . Er empört sich darüber, dass keine Informationen über die atomare Aufrüstung an die Öffentlichkeit gelangen und auch keine Debatte stattfindet. Doch seine Gegner machen gegen ihn mobil, und der Film wird nie gesendet.

„Punishment Park“, 1970 in den USA gedreht, geißelt ein gewalttätiges Amerika, das die Menschenrechte mit Füßen tritt und protestierende Bürger wie „politische Kriminelle“ behandelt. Auch dieser Film bezieht seine Kraft aus seiner Realitätsnähe – vier Tage nach der Premiere in New York wird er aus den Kinos genommen.

Der unbedarfte Zuschauer hätte meinen können, mit dem 1976 entstandenen Film „Edvard Munch“ hätte sich die Lage eingerenkt. Doch der Film, der in seiner Mischung aus Persönlichem und Gesellschaftlichem zu den intelligentesten und stärksten Künstlerbiographien der Filmgeschichte gehören dürfte, fand keinen großen Verleih und war praktisch nirgends zu sehen. Noch schlimmer erging es dem vierzehnstündigen Streifen „The Journey“ (Reise / Der Weg, 1987), der in den Jahren 1983 bis 1986 ganz „normale“ Leute in zwölf Ländern zu Wort kommen lässt: Kein einziger Fernsehsender wollte ihn haben. Auch die zwischen 1992 und 1994 gedrehte Biographie „The Freethinker“ über August Strindberg und seine Frau, die Schauspielerin Siri von Essen, hat kaum ein Mensch je gesehen.

Aber Peter Watkins lässt sich nicht kleinkriegen: „Die norwegische Gesellschaft, die Munch zugrunde richten wollte, ist wie die schwedische Gesellschaft, die Strindberg zugrunde richten will: unsere Gesellschaft verpaßt eben jedem, der sich ausdrücken will, egal wo und wie, einen Maulkorb. Eine Vergangenheit, die isoliert, erstarrt, von der Gegenwart abgetrennt wäre, die gibt es nicht. In ‚Culloden‘ oder ‚Munch‘ sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig präsent. Deshalb vermische ich, stelle Zusammenhänge her. Von gestern reden heißt von heute reden. Das gilt auch für ‚La Commune‘. Unsere Vorstellung von der Zeit ist oft sehr konventionell.“

„La Commune“ ist vielleicht sein letzter Film, sagt er – und dass er ihn drehen konnte, war ein „unerwarteter Glücksfall“: Der verdankte sich der Einwilligung von Thierry Garrel (La Sept-Arte) und der überzeugten Unterstützung von Paul Saadoun (Direktor von „13 Production“). Peter Watkins gibt nicht auf. Er redet. Mit dem unverlierbaren Akzent des britischen Gentlemans setzt er seine wohlgewählten Worte gegen die Gleichschaltung des Denkens.

„Das Fernsehen hat der Gesellschaft totalitäre Erzählstrukturen aufgezwungen, ohne dass jemand die Zeit gehabt hätte zu reagieren, weil es schnell, arrogant und irgendwie geheimnisvoll war. Das meine ich mit der Monoform: eine Flut von Bildern und Tönen, in schneller und dichter Folge aneinander gehängt, eine fragmentierte Struktur also, die aber glatt wirkt.“ Diese verschwimmende und Schwindel erregende Mischung finde sich überall, von der Seifenoper über die Krimiserie bis zur Nachrichtensendung. „Entgegen dem Anschein ist die Monoform rigide und kontrolliert“, betont der Regisseur, „sie verkennt die unendlichen Möglichkeiten des Publikums und unterschätzt seine Reife.“

In Peter Watkins’ Filmen geht es stets darum, wie gesellschaftliche Kontrolle und Macht im einzelnen funktionieren: „Die Medienprofis haben eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der autoritären Systeme und der Spirale physischer, sexueller und moralischer Gewalt.“ Dabei hätte das Fernsehen durchaus eine andere Richtung einschlagen und ein wirklich demokratisches Kommunikations- und Interaktionsmedium werden können. „Aber es befindet sich in den Händen einer Elite von mächtigen Agenten, Magnaten, Managern, Programm- und Produktionsleitern, die eine ungeheure Macht auf sich vereinen und überall ihre globalistische, kommerzielle, grausam-zynische Ideologie durchsetzen wollen. Natürlich wollen Sie ihre Macht mit niemandem teilen. Ihnen geht es nur darum, ungehindert Einfluss auf die Menschen ausüben zu können. Deshalb stoßen wir heute überall auf die gleichen Bilder und auf die gleiche Weigerung, eine verantwortliche und vernünftige Haltung gegenüber der Gemeinschaft zu übernehmen.“

Um das Einheitsdenken zu untermauern, sei also das Einheitsbild geschaffen worden. Ein intolerantes und antidemokratisches Bild, so Peter Watkins weiter, in welchem das Publikum „nicht aus vielen komplexen Individuen“ besteht, „sondern aus einem einzigen großen Menschenblock, der für Werbeleute und die auf den Audimat fixierten Programmacher – also für den Kapitalismus und die Marktwirtschaft – das ideale Ziel abgibt.“ Ein Bild und eine Kultur, die sich „volksnah“ geben, „in Wirklichkeit aber völlig künstlich sind und mit dem Volk überhaupt nichts zu tun haben“.

Wer ist schuld daran? Peter Watkins nennt ohne zu zögern das Fernsehen: „Hätte das Fernsehen in den sechziger und siebziger Jahren eine andere Richtung genommen, dann wäre unsere Gesellschaft heute viel menschlicher und gerechter, das steht für mich fest. Die Massenmedien haben eine gewaltige und oft verheerende Wirkung, doch wir wollten das nicht wahrhaben, und unsere Erziehungssysteme haben versagt. Die Massenkultur, die uns aufgezwungen wurde, ist vulgär, engstirnig und brutal, beruht auf Vereinfachung und Voyeurismus, ist voller sexistischer und chauvinistischer Stereotype und dem Kult ums Geld verfallen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Monoform sind verheerend.“

„La Commune“ ist für Peter Watkins eine Möglichkeit, sich gegen die Enthirnungsmaschinerie zu wehren. Zu Beginn des Filmes richtet die Kamera in einer sehr langen Einstellung den Blick auf den Drehort nach Abschluss der Dreharbeiten. Dabei erfährt der Zuschauer, dass der Film in dreizehn Tagen mit jeweils einer Einstellung gedreht wurde, dann stellen die Schauspieler sich und die von ihnen dargestellten Personen vor. Es ist also gleichzeitig März 1871 und heute: „Stellen Sie sich bitte vor, wir hätten den 18. März 1871“, dann ein Kameraschwenk, wie in einer Reportage. Zwei Reporter eines lokalen Fernsehsenders kommen ins Bild.

Filmische Mittel, Herstellungsprozess und Erzählweise werden offen gelegt. Durch diesen Kunstgriff wird der Zuschauer den ganzen Film über immer wieder daran erinnert, dass er Zuschauer ist und kritikfähig bleiben soll. „Ich hoffe“, betont Peter Watkins, „die Leute lernen durch ‚La Commune‘, die Konventionen von Film und Fernsehen zu analysieren und in Frage zu stellen. Zwischentexte, Zwischentitel und meine Weigerung, eine vorgegebene Länge zu akzeptieren, sind dazu da, um den Mechanismus der audiovisuellen Medien auszuhebeln.“ „La Commune“ geht das Wagnis ein, Ideen zu filmen und das Denken Gestalt annehmen zu lassen, indem nachgezeichnet wird, wie Ideen sich materialisieren, wie Gedanken zu Taten werden. Herausgekommen ist ein Film über die nach wie vor lebendige Idee der Kommune, wobei die Erhebung nicht als gescheiterter Versuch erscheint, sondern als Beginn einer Reflexion, als Ausgangspunkt für eine neue Vorstellung von Solidarität und Engagement. Er enthält zahlreiche Parallelen zu unserer Gegenwart: Rassismus, Rolle der Frauen, Verteilung des Reichtums, Globalisierung, Zensur, Versagen der Schule.

Wer in diesen Film geht, sollte nicht erwarten, dass er die Hauptprotagonisten von damals – Louise Michel, Jules Vallès und andere Aufständische – vorgeführt bekommt. Denn obwohl er größte historische Treue anstrebt, hat der Film in seiner Vielschichtigkeit weit mehr im Sinn.

Das Thema des Films ist die Stimme des Volkes, genauer die Herausbildung dieser Stimme und gleichzeitig der Zustand der Demokratie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dazu gehört auch die Frage, wie eine gemeinsame Einschätzung und eine kollektives Handeln zustande kommen, denn „La Commune“ ist keineswegs eine simple Hymne auf die erste proletarisch-revolutionäre Machtergreifung: Unbeholfenheit, Missgriffe, persönliche Divergenzen und Konflikte werden keineswegs überdeckt. Auch dies gehört zu dem Wunsch, keinen „Einbahnstraßenfilm“ zu drehen, sondern die eingespielten Grenzen zwischen Publikum und Medien zu erweitern, auch wenn der Regisseur selbstkritisch meint, dass er wohl nicht alle Gefahren habe vermeiden können.

„Dieser Film wirft auch die Frage auf, was sich mit dem Fernsehen alles bewerkstelligen lässt, wie weit es dem gesellschaftlichen Interventionismus dient“, meint der Produzent Thierry Garrel. „Ein Wackerstein in den Sumpfgewässern der audiovisuellen Produktion.“ Ein widerspenstiges „work in progress“, das sich viel Zeit nimmt (über fünf Stunden!) in der immer wieder verdüsterten Hoffnung auf ein Mehr an Demokratie.

„Die Länge ist dann kein Problem, wenn das Thema es zuässt“, meint Thierry Garrel. „Wir sind durchaus bereit, den Rahmen eines Standard-Abendprogramms zu sprengen.“2 Für die - wiewohl stark gekürzte - Kinofassung hat sich bisher kein Verleih gefunden.3

Von Litauen aus kämpft Peter Watkins weiter: „Es geht um die Demokratie. Alternativformen müssen anerkannt werden. Die Erziehung durch die Medien soll kritisches Denken fördern und nicht die gedankenlose, sklavische Fortsetzung und Wiederholung des Bestehenden predigen. Mein Film ‚La Commune‘ ist ein Beitrag zu diesem Kampf. Er ermuntert auch zum revolutionären Kampf, der beim Anbruch dieses neuen Jahrhunderts eine Notwendigkeit ist.“

dt. Josef Winiger

* Journalist

Fußnoten: 1 Freddy Buache, „Le Cinéma anglais“, Lausanne (L’Age d’homme) 1978. 2 Arte wird „La Commune“ am 17. Mai 2000 in der Originalversion ausstrahlen: fünf Stunden und vierzig Minuten. 3 Die Kino-Version wird in der zweiten März-Hälfte im Musée d’Orsay in Paris gezeigt, im Rahmenprogramm zur Ausstellung über die Kommune – zu der Peter Watkins Film angeregt hat. (Auskunft: Musée d’Orsay, Tel. (0033 1) 45 49 11 11; www.musee-orsay.fr.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von PHILIPPE LAFOSSE