Kleine Hoffnung für die Linke in den USA
Von BARBARA EPSTEIN *
Die Protestaktionen gegen das WTO-Ministertreffen in Seattle vier Wochen vor der Wende zum Jahr 2000 haben der amerikanischen Linken nach Jahrzehnten der Niederlagen wieder Anlass zur Hoffnung gegeben. Sollte sich das Bündnis aus Gewerkschaften, Umweltverbänden, Menschenrechtsorganisationen und radikalisierten Jugendlichen festigen, könnte die US-Linke ihren Niedergang beenden und sich in einer breiteren demokratischen Bewegung gegen die global agierenden Unternehmen neu verankern.
Damit diese Hoffnung zur Wirklichkeit wird, müsste die Bewegung von Seattle allerdings auch die Latinos und Afroamerikaner mit einbeziehen, die auf den Demonstrationen kaum vertreten waren. Es besteht sonst die Gefahr, dass das Aktionsbündnis auseinander bricht und jede Gruppe wieder ihrer eigenen Wege geht. In der Tat verfolgten die Organisationen, die relativ unabhängig voneinander für den Protest in Seattle mobilisierten, bisher recht unterschiedliche Ziele. Erst das gewalttätige Vorgehen der Polizei verwandelte das lose Aktionsbündnis in eine Art von geeinter Bewegung. Die Frage ist, ob diese Einheit von Dauer sein wird.
Im Kontext der US-amerikanischen Politik brachte der militante Zusammenschluss vom vergangenen Jahr zwei ermutigende neue Entwicklungen. Zum einen stellte er den Absolutheitsanspruch von Markt und Privatwirtschaft in Frage. Denn jenseits des erklärten Zieles der Bewegung, die WTO an der Durchsetzung einer weiteren Runde von Liberalisierungen im Welthandel zu hindern, richtete sich der Protest implizit auch gegen die globalen Mega-Unternehmen, deren Interessen die WTO vertritt und fördert.
Die kritische Haltung gegenüber der Macht dieser Unternehmen ist für die amerikanische Linke etwas Neues. Die Bewegungen der sechziger Jahre richteten sich in erster Linie gegen den Staat: Die Bürgerrechtsbewegung klagte die Rechte der Schwarzen ein, und die Antikriegsbewegung forderte die Einstellung des Vietnamkriegs. Insofern die Macht, gegen die sie antraten, fest in den Händen der Demokratischen Partei zu liegen schien (von 1961 bis 1969 unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson und von 1954 bis 1980 mit einer demokratischen Mehrheit im Kongress) kamen die radikalen Bewegungen der sechziger Jahre zu dem Schluss, dass sie es mit einer Form von Sozialstaat zu tun hatten, die den Mächtigen nur dazu diente, sich für ihr Handeln die nötige Legitimation zu sichern.
In dem Maße, als die wachsende Macht der Großunternehmen zu erheblichen Beschränkungen des staatlichen Handlungsspielraums führte, verlor diese Spielart der Radikalität allerdings an Gewicht. Als logische Konsequenz dieser neuen Bedingungen verlegte sich die amerikanische Linke nun auf die Kritik an den großen privaten Akteuren der Weltwirtschaft.
Eine zweite neue Entwicklung für die US-Linke brachte die Anti-WTO-Bewegung insofern, als die gewerkschaftlichen Organisationen seit langer Zeit wieder einmal mit radikalen, gewaltfreien Aktionsgruppen zusammenarbeiteten. Die letzte Kooperation dieser Art geht auf die dreißiger Jahren zurück. Damals zog der neu gegründete Gewerkschaftsverband CIO (Congress of Industrial Organizations) mit Hilfe der Kommunisten viele der unorganisierten Arbeiter in seine Reihen. Und auf der politischen Linken führte die Zusammenarbeit von Demokratischer Partei und Gewerkschaften im Zuge des New Deal zu zahlreichen sozialstaatlichen Errungenschaften und einer verbesserten Arbeitsgesetzgebung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg brach dieses Bündnis auseinander. Während die Gewerkschaften und die meisten Demokraten den Kalten Krieg und die Kommunistenverfolgung des McCarthy-Komitees (gegen „unamerikanische Umtriebe“) unterstützten, stellte sich die Linke gegen diese Politik und wurde zum Opfer der damaligen Hexenjagd. In den sechziger Jahren sorgte der Vietnamkrieg für eine weitere Entfremdung zwischen Linken und Gewerkschaften. Der größte Gewerkschaftsverband, AFL-CIO, verweigerte dem demokratischen Herausforderer George McGovern sogar die Unterstützung im Wahlkampf gegen Präsident Nixon, weil er es gewagt hatte, Frieden für Indochina zu fordern. Ebenso wenig Neigung verspürten die Gewerkschaften, die Bürgerrechtsaktivitäten der Schwarzen (Martin Luther King, Malcolm X) oder die Protestbewegungen der Weißen zu unterstützen (Studenten-, Frauen-, Schwulen- und Lesben-, Ökologiebewegung). Allerdings konnten sie damit keinen großen Schaden anrichten, da die Opposition der Linken gegen den Krieg wie auch ihre Kritik an Rassismus und Sexismus auch ohne Segen der Gewerkschaften bei großen Teilen der Bevölkerung gut ankam.1
In den zwanzig Jahren nach dem Ende des Vietnamkrieges wirkte sich die fortdauernde Spaltung zwischen Linken und Gewerkschaften jedoch für beide Seite negativ aus. So gelang es der konservativen Rechten, die öffentliche Diskussion zu beherrschen und die Gleichheitsideale zunehmend in Frage zu stellen. Die Gewerkschaften verloren an Vitalität, weil ihre Mitglieder (überwiegend weiß, männlich, im industriellen Sektor beschäftigt) für die Gesellschaft nicht mehr repräsentativ waren; die Linke wiederum verirrte sich zusehends ins kulturelle Getto der Mittelschichten, wo sie jegliche politische Wirksamkeit einbüßte.2 Demgegenüber könnte das Bündnis, das auf den Straßen von Seattle Gestalt annahm, der Anfang einer Bewegung sein, die bei einer Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung Gehör findet.
Das weiße Getto linker Politik
DIE Anwesenheit der Gewerkschaften in Seattle war in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Sie verschaffte der Anti-WTO-Bewegung größere Legitimität, sie zeigte, dass die Wut auf die Politik der Großunternehmen weit verbreitet ist, und sie verlieh dem Protest aufgrund der engen Beziehungen zwischen AFL-CIO und Demokratischer Partei eine ansonsten kaum vorstellbare politische Durchschlagskraft. So äußerte sich Bill Clinton kurz vor den Demonstrationen kritisch über die geheime Verhandlungsführung der WTO und regte an, die WTO solle eine Studiengruppe beauftragen, arbeitsrechtliche Mindeststandards auszuarbeiten, die für alle WTO-Mitglieder verbindlich sein sollten.
Natürlich wollte sich Clinton damit nur als Gewerkschaftsfreund profilieren und die Gewerkschaften in ihrer Unterstützung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Albert Gore bestärken, denn eine solche Studiengruppe hätte keinerlei Machtbefugnis, ihre Empfehlungen durchzusetzen. Aber auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die WTO ging Clinton sogar noch einen Schritt weiter: Gegenüber dem Seattle Post-Intelligencer erklärte er, die Vereinigten Staaten würden die Verabschiedung arbeitsrechtlicher Regelungen verlangen, einschließlich entsprechender Sanktionen bei Verstößen.
Clintons Mitarbeiter beeilten sich zwar, die Äußerung zu dementieren, aber es war zu spät: Zahlreiche Vertreter der Dritten Welt zeigten sich empört. In ihren Augen sind Billigarbeitskräfte ein Pfund, mit dem sich in der globalen Ökonomie wuchern lässt, und sie zeigten wenig Neigung, auf diesen Vorteil zu verzichten. Nicht zuletzt deshalb ging das Ministertreffen ohne konkrete Beschlüsse zu Ende. Die AFL-CIO, deren Einfluss seit Beginn der achtziger Jahre beständig schrumpft3 , konnte sich mit Recht zugute halten, dass sie an diesem Ausgang nicht unbeteiligt war.
Auf der anderen Seite möchte die Gewerkschaft die engen Beziehungen zur Demokratischen Partei und den entsprechenden politischen Einfluss nicht durch unvorsichtige Allianzen mit linken Gruppierungen gefährden. Seit Jahrzehnten geht sie auf Distanz zu fortschrittlichen Bewegungen, die sie in den Verdacht des Radikalismus bringen könnten. Zwar arbeitet die AFL-CIO seit der Wahl von John Sweeney zum Vorsitzenden immer wieder mit progressiven Gruppen zusammen, etwa in den Kampagnen gegen die Überausbeutung der Arbeit – vor allem von Immigranten – oder gegen die Liberalisierung des Welthandels. Doch auf der anderen Seite legte sich Sweeney noch vor Beginn der derzeitigen Vorwahlen für den demokratischen Kandidaten Albert Gore ins Zeug, der als vehementer Befürworter des 1993 unterzeichneten Nafta-Abkommens gilt.4 Manche Organisatoren der Anti-WTO-Aktionen glauben denn auch, Sweeney wäre ein distanzierteres Verhältnis zu den linken Gruppierungen lieber gewesen.
Anders als bei den amerikanischen Vorwahlen von 1984 und 1988, als Jesse Jackson beachtliche Erfolge erzielen konnte, hat die Linke innerhalb der Demokratischen Partei diesmal keinen Kandidaten vorzuweisen. Das zeigt in gewissem Sinne, wie bedeutsam die zu leistende Aufgabe ist, und legt womöglich nahe, den Dialog der Verdammung vorzuziehen. Die beiden Kandidaten für das Präsidentenamt (und ihre beiden ausgeschiedenen Hauptkonkurrenten) sind ausnahmslos für die derzeitige WTO-Politik. Allein die Kandidatur von Ralph Nader konnte, wenn sie nicht wie 1996 rein symbolisch bleibt, die Kritik der Globalisierung im Wahlkampf (ein wenig) zur Geltung bringen.
Eine Schwäche der Anti-WTO-Bewegung in Seattle lag darin, dass sie überwiegend von weißen Mitbürgern getragen wurde. Die Bewegung der Schwarzen, die in allen bisherigen fortschrittlichen Bündnissen eine wesentliche Rolle gespielt hatte, ist Seattle fern geblieben. In Seattle waren nur diejenigen Gruppen vertreten, die kaum schwarze Mitglieder zählen: die von Produktionsverlagerung bedrohten Gewerkschaften der Stahlarbeiter, Maschinenbauer, Lastwagenfahrer und Hafenarbeiter und die Umweltschutzorganisationen, die sich hauptsächlich mit den ökologischen Folgewirkungen des internationalen Handels beschäftigen. Die Bewegung für Umweltgerechtigkeit hingegen, die gegen die Niederlassung umweltverschmutzender Industrien in Gegenden kämpft, die mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnt sind,5 und die im Gegensatz zu den um Flora und Fauna besorgten Umweltschutzgruppen auch nichtweiße und nichtbürgerliche Schichten anspricht, war in Seattle kaum präsent.
Denn auch die radikalen Gruppen und Initiativen rekrutieren sich in erster Linie aus weißen Mittelschichtjugendlichen, die dem Kapitalismus und seiner Warenkultur kritisch gegenüberstehen, eine Karriere in einem großen Unternehmen ablehnen und sich oft mit schlecht bezahlten Jobs durchschlagen. Das Wiedererstarken einer solchen Jugendkultur ist gewiss eine der erfreulichsten Nachrichten aus Seattle. Doch auf schwarze und Latino-Jugendliche wirkt die Subkultur der Aussteiger und Karriereverweigerer wenig anziehend. Sie werden Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs kaum verschmähen und sich im Unterschied zu weißen Mittelschichtjugendlichen auch kaum für gewaltfreie Aktionen begeistern oder sich dem Konsens einer weitgehend von Weißen dominierten Bewegung unterwerfen.
Einstweilen muss das Bündnis von Seattle jedoch mit seinen internen Meinungsunterschieden klarkommen. Die Ansichten darüber, was mit der WTO und der von ihr repräsentierten globalen Ökonomie geschehen soll, gehen weit auseinander. Während die radikaleren Kräfte dieses System pauschal ablehnen, sehen die Mainstream-Ökologen und die Gewerkschaften die Möglichkeit, die transnationalen Unternehmen via WTO so weit unter Druck zu setzen, dass sie sich zur Achtung gewisser arbeits-, umwelt- und menschenrechtlicher Minimalstandards bereit finden. Die Gewerkschafter wollen als nächsten Schritt den WTO-Beitritt Chinas verhindern, damit dieses Land nicht in den Genuss der Meistbegünstigungsklausel kommt. Die radikalen Gruppen, aber auch viele Umweltschützer, nehmen hingegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds ins Visier. Doch die Meinungsverschiedenheiten sind nicht mehr so destruktiv wie in den sechziger Jahren: Heute hält sich keine der Gruppen oder Gewerkschaften für unfehlbar, wenn es darum geht, Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem zu entwerfen.
Die Anti-WTO-Aktionen von Seattle verhinderten nicht nur den Beginn einer neuen Verhandlungsrunde, sie zeigten auch, dass sich die Forderungen der Gewerkschaften und der Umweltschützer nicht widersprechen, sondern ergänzen. Sie brachten Gewerkschafter und junge Radikale zusammen und bauten Berührungsängste ab. Und sie machten deutlich, dass die globale Ökonomie bei vielen Menschen auf Widerstand stößt. Ob dies für eine längerfristige Zusammenarbeit ausreicht, bleibt abzuwarten. Eine dramatische Situation wie im Vietnamkrieg, die eine Koalition der fortschrittlichen Kräfte herstellen könnte, besteht heute nicht. Manche Demonstranten handelten aus persönlicher Betroffenheit, weil sie die Auswirkungen der Globalisierung am eigenen Leib erfahren mussten; viele andere, weil sie begriffen haben, welche Gefahren auf uns zukommen. Doch die meisten Menschen verhalten sich noch immer passiv und sehen schlicht keinen Handlungsbedarf.
In einer Zeit der Wachstumsrekorde hat bisher keine Krise das Vertrauen der US-Bürger in das bestehende Wirtschafts- und Sozialsystem erschüttern können. Obwohl der Graben zwischen Arm und Reich durch die Globalisierung der Wirtschaft ständig tiefer wird, hegen sie noch immer die Hoffnung, durch harte Arbeit und ein bisschen Glück in die Reihen der Wohlhabenden aufzurücken. Solange diese Überzeugung nicht erschüttert wird, dürfte die Bewegung gegen die Allmacht der Unternehmen nicht mehr als ein hoffnungsvoller Ansatz bleiben.
dt. Bodo Schulze
* Professorin an der University of California, Santa Cruz, Autorin von „Political Protest and Cultural Revolution: Nonviolent Direct Action in the 1970’s and 1980’s“, Berkeley (California Press) 1991.