17.03.2000

Folgenlose Eruptionen in Ecuador

zurück

Folgenlose Eruptionen in Ecuador

Von JOSÉ MARÍA TORTOSA *

Ecuador erhielt seinen heutigen Namen 1830. Einige Jahre zuvor hatte eine französisch-spanische Expedition den Verlauf des Äquators durch das Land bestimmt. Damit wurde auch der Argwohn der Städte Guayaquil und Cuenca zerstreut, die es nicht gern gesehen hätten, wenn das Land Quito genannt worden wäre. Die „Korporationen und Familienväter von Quito“, von denen selbstverständlich die Indígenas ausgeschlossen waren, wählten den Landesnamen mit Rücksicht auf die nationale Einheit – eine Entscheidung, die sich als symbolisch für die künftigen Probleme des Landes erweisen sollte.

Durch zwei völlig unterschiedliche Ereignisse kam Ecuador, ein Land mit zwölf Millionen Einwohnern, Ende 1999 und Anfang 2000 in die Schlagzeilen der Weltpresse. Zuerst brach der Vulkan Guagua Pichincha aus und brachte die Hauptstadt Quito an den Rand einer Notstandssituation, Ende 1999 folgte der Ausbruch des Tungurahua, die Touristenstadt Banos musste evakuiert werden. Vor allem die Ereignisse im Januar 2000 jedoch hatten Nachrichtenwert: Da wurde die Dollarisierung der Volkswirtschaft beschlossen, gefolgt von einem Putschversuch und einem kurzlebigen Triumvirat aus Militärs, Indígenas und Politikern; schließlich wurde Präsident Jamil Mahuad abgesetzt und an seiner Stelle sein bisheriger Vize, Gustavo Noboa, ernannt.

So wie die Vulkanausbrüche durch die tektonischen Verwerfungen der Nazca- und Sudamericana-Platten ausgelöst wurden, die in Ecuador aufeinander stoßen, so sind die sozialen Eruptionen die Folge von Verwerfungen innerhalb der ecuadorianischen Gesellschaft.

Die gesellschaftlichen „Eruptionen“ sind immer häufiger geworden, zumindest seit 1979, als die Demokratie wieder eingeführt wurde und das militärische Interregnum zu Ende ging, das 1972 mit der Absetzung des Präsidenten Velasco Ibarra begonnen hatte. Um nur die jüngsten Ausbrüche zu nennen: 1992, als Rodrigo Borja Präsident war, fand bereits ein Aufstand der Indígenas statt, der 1994 erneut aufflackern sollte. Starke öffentliche Protestbewegungen führten im Februar 1997 zum Sturz Präsident Abdalá Bucarams. Er ging ins Exil, Fabián Alarcón wurde als Interimspräsident eingesetzt. Auch im vergangenen Jahr waren die Mobilisierungen zahlreich: im März ein neuerlicher Aufstand der Indígenas und ein Streik der Lastwagen-, Bus- und Taxifahrer, der das Land lahm legte. Im Juli erneuter Streik der Kraftfahrer und der von den Indígenas initiierte „Marsch auf Quito“, gleichzeitig ein eintägiger Generalstreik. Im Januar wieder ein „Marsch auf Quito“ mit Unterstützung durch den „Verband indigener Nationalitäten von Ecuador“ (Conaie) sowie durch einige Militärs und Oppositionsparteien. Der Schatten des Peruaners Fujimori und vor allem der des Venezolaners Hugo Chávez lag auf diesen sozialen Aufständen.1

Ohne die unheilvolle Rolle des Schmierentheaters leugnen zu wollen, das von der politischen Klasse aufgeführt wird – das eigentliche Problem ist die wirtschaftlichen Situation.2 Die Nettoauslandsschuld Ecuadors liegt bei 13,5 Milliarden Dollar, das entspricht über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Um diese Schulden bedienen zu können, muss das Land 40 Prozent des Staatshaushalts aufwenden, gegenüber 8 Prozent für Bildung und 3 Prozent für das Gesundheitssystem. Und die Regierung beugt sich den „Therapien“ des IWF. Trotzdem – oder gerade deswegen – ist die Inflation 1999 auf über 60 Prozent gestiegen und das Wirtschaftswachstum um 7 Prozent zurückgegangen. Und während der Kurs der Landeswährung im August 1998 noch bei 5 000 Sucre pro Dollar lag, wurde er im Januar 2000, zum Zeitpunkt der Dollarisierung, auf 25 000 pro Dollar festgesetzt.

Die Erklärung, die Wirtschaftslage „habe sich verschlechtert“, erweckt den Eindruck, dies sei gewissermaßen selbsttätig geschehen.3 In Wirklichkeit „wurde sie verschlechtert“, im Verlauf eines langen Prozesses, der in den heutigen Engpass mündete, und zwar durch konkret auszumachende gesellschaftliche Gruppen.

Wenn man nicht bis in die Zeit des Kolonialismus zurückgehen will, lässt sich der Beginn des wirtschaftlichen Abstiegs auf den Anfang der siebziger Jahre datieren, eine Periode, die in Ecuador „der Erdölboom“ und in Europa „die Ölkrise“ genannt wird. Unter der damaligen Militärdiktatur begab sich das Land in den Teufelskreis der Verschuldung: Mit dem Wohlwollen der Banken, die durch die Petrodollars einen Liquiditätsüberschuss hatten, überschuldete sich Ecuador erheblich, was – mittlerweile unter einer demokratischen Regierung – die „Schuldenkrise“ auslöste.

„Schuldenkrise“ bedeutete nichts anderes, als dass neue Schulden aufgenommen wurden, um die alten zu bezahlen, und dass „Strukturanpassungs“-Maßnahmen ergriffen wurden, die die Schwächsten noch weiter schwächten, hingegen die Banken, besonders die ausländischen unter ihnen, schützten. Bis zur Präsidentschaft Jamil Mahuads 1998 gab es mehrere Schuldenmoratorien. Während seiner Amtszeit jedoch verschärfte sich die Krise der öffentlichen Finanzen erheblich. Zum einen bedeutete der Fall der Erdölpreise 1997 und 1998 eine starke Einbuße bei den staatlichen Einkünften, die zu mehr als der Hälfte aus dem Rohölexport stammten. Dieser Verlust konnte auch durch höhere Lohnsteuern nicht ausgeglichen werden, da sich die Bevölkerung in diesem Punkt als widerspenstig erwies.4 Um einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erreichen, reduzierte die Regierung Subventionen und Sozialausgaben und legte den Ärmsten, vor allem den ambulanten Verkäufern aus der Schattenwirtschaft, neue Steuern auf; ferner erhöhte sie im März 1999 den Benzinpreis um 174 Prozent.

Das Finanzsystem war zu diesem Zeitpunkt in Auflösung begriffen, und der soziale Unmut wuchs. Getreu seinen neoliberalen Maximen eilte der Staat den bedrängten Banken zu Hilfe – sechs von ihnen gingen dennoch Bankrott. Im März 1999 wurden die Bankguthaben der Bürger per Dekret teilweise eingefroren; im September kündigte die Regierung von Ecuador die Nichtzahlung eines Teils der Schulden (50 Millionen Dollar) an. Mitten in diesem Chaos wurde die Dollarisierung der Wirtschaft eingeführt, in einem verzweifelten Versuch, zu retten, was zu retten war, und sei es auf Kosten der Schwächsten.5

Kurz: Die Wirtschaft Ecuadors ist durch ein Missmanagement aus dem Tritt gekommen, für das die Militärregierungen und die politische Klasse verantwortlich zeichnen. Dazu beigetragen hat eine „Vormundschaft“ seitens des Auslands, dem es weniger um das Wohl Ecuadors als um die Stabilität der nordamerikanischen Gläubigerbanken zu tun war. Angesichts einer Führungsschicht, die das Land als ihr Privateigentum ansieht und einer Opposition (einschließlich der Conaie), die große Reden über ihre hehren Ziele schwingt, aber über kurzfristigen Aktionismus nicht hinauskommt, ist es nicht erstaunlich, dass die traditionelle soziale Polarisierung noch beschleunigt wurde.

Ethnosoziale Bruchlinien

DIE Verarmung Ecuadors, intensiviert durch die neoliberale Politik, die Eingriffe des Staates auf ökonomischer Ebene auf ein Minimum reduzierte6 , wird selbst von der Weltbank anerkannt: 46 Prozent der Bevölkerung verfügen nicht einmal über den berühmten Dollar pro Kopf und Tag, der nach Ansicht dieser Institution den Unterschied zwischen Armen und Nichtarmen ausmacht.

Wenn man sich jedoch nicht an diesem zweifelhaften Indikator, sondern an der Sicherung der Grundbedürfnisse an Nahrung, menschenwürdiger Unterkunft, Kleidung und persönlicher Sicherheit orientiert, könnte sich die Zahl der Armen auf bis zu 80 Prozent erhöhen. Wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und zudem immer zahlreicher werden, ist es verständlich, dass die schwindende Mittelklasse zu einer Klasse der Verängstigten und Manipulierbaren wird, während die Armen, insbesondere die Indígenas, vollends in die Verzweiflung stürzen.

Leider gibt es mehr aufeinander prallende soziale „Platten“, als es zunächst scheinen mag. Mit den genannten Gegensätzen verbunden, jedoch einer anderen Logik folgend, ist der soziale Bruch zwischen Indios und Kreolen (der weißen Oligarchie), wobei die Mestizen eine komplizierte Rolle zwischen diesen beiden Lagern spielen.7 Die kolonialen Ursprünge dieses Bruchs sind bekannt, doch hat sich die Situation der Indígenas seit der Unabhängigkeit von Spanien kaum verändert: Aufgrund des huasipungo-Systems8 bilden sie noch immer die unterste Schicht der Gesellschaft. Das geht so weit, dass die Haciendas bis vor kurzem einschließlich der Indios verkauft wurden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhielten sie das Wahlrecht.

Nachdem sie körperlich misshandelt, unwissend gehalten, wirtschaftlich ausgebeutet und während des „500-jährigen Reichs“, wie Noam Chomsky es nannte, ethnisch diskriminiert worden waren, sind sich die Indígenas nach und nach ihrer Lage bewusst geworden – ein Prozess, bei dem die katholische Kirche eine wichtige Rolle spielte. Dieses neue Bewusstsein festigte sich mit Hilfe von Organisationen wie der Conaie und drückte sich auch in der direkten Beteiligung an politischen Parteien wie der Pachakutik aus; eine Abgeordnete der Pachakutik, die Indígena Nina Pacari, stieg in der Ära Mahuad bis zur Vizepräsidentin des Parlaments auf.

Ein weiterer traditioneller sozialer Bruch, der ebenfalls auf die Kolonialzeit zurückgeht, wird von Zeit zu Zeit sichtbar: es ist die Spaltung zwischen der „Sierra“, dem auf 2 000 Meter Höhe gelegenen Andenhochland, und der „Costa“, der Pazifikküste. Der Küstenstreifen, der bereits mehrfach zum Streitobjekt zwischen Lima und Santa Fé (Bogotá) wurde, ist heute das Zentrum von Industrie, Bananenplantagen sowie Zucht und Export von Garnelen, den Schlüsselprodukten der ecuadorianischen Exportindustrie.9 Diese Region wirft der Sierra vor, die militärische und kirchliche Macht zu konzentrieren und die legitimen Forderungen der Küste zu missachten. Tatsächlich wurde am 23. Januar 2000, mitten in der Chaosphase, in der Provinz Guayas (in der Region Costa) ein Volksbegehren zur Autonomie der Provinz durchgeführt – mit Erfolg, wenn auch bei einer hohen Wahlenthaltung.10

In diesem Kontext bilden die Militärs eine ganz eigene Gruppe. Die meisten stammen aus der Sierra; sie kommen heute nicht mehr aus der Aristokratie, und auch Mestizen finden sich unter ihnen. Ökonomisch spielen sie durchaus eine Rolle: Sie besitzen Hotels, Unternehmen, sogar Universitäten. Das Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Peru und Ecuador im Jahre 1998, das 1999 durch einen Friedensvertrag zwischen Fujimori und Mahuad ratifiziert wurde, verhalf den Militärs zu Ruhm – für kurze Zeit. Laut Präsident Mahuad hat der Generalstab ihm die Kürzung des Rüstungsetats nicht verziehen, die auf die „Rückkehr zum Frieden“ folgte.11

Nach wie vor ziehen die USA in Ecuador die Fäden, mittels der „Botschaft“, dem Sitz des neuen „Vizekönigs“, und ihrer Verfügung über die Militärbasis Manta.12 Geoökonomisch ist Ecuador den Multis ausgeliefert, sowohl den Bananen- wie den Ölkonzernen. Während die herrschende Klasse auf paramilitärische Gruppen zurückgreifen kann (so kursierten im vergangenen Jahr Gerüchte über ein Ausbildungslager in der Provinz Pichincha in der Sierra und eines in Esmeraldas, an der Küste; auch gab es Todesschwadronen bzw. vergleichbare Gruppierungen in Guayaquil), halten sich die Klassen der Ausgebeuteten und Frustrierten an die Guerilla oder versuchen es mit neuerlichen Volkserhebungen, wie sie von Antonio Vargas, dem Anführer der Conaie, nach dem gescheiterten Versuch im vergangenen Januar bereits angekündigt wurden.

Die Indígenas mögen sich lange Zeit betrügen lassen, aber nicht ewig. Man mag die Armen unterdrücken, bis es nicht mehr rentabel ist (das wäre der Reformismus) oder bis es nicht mehr möglich ist (das wäre die Revolution). Und auf diesem gefährlichen Kurs könnten die Spannungen zwischen Sierra und Costa, die nur allzu leicht zu manipulieren sind, noch unliebsame Überraschungen bringen. Künftige Ausbrüche sind absehbar, vor allem, wenn nichts gegen die Verwerfungen in der Gesellschaft getan wird.

dt. Antje Bauer

* Professor an der Universität in Alicante (Spanien), ehemals Gastprofessor an der Universidad Católica von Ecuador, Autor u. a. von: „Corrupción. Qué sistema la produce?“, Barcelona (Icaria) 1998.

Fußnoten: 1 Vgl. Diego Cornejo Menacho, „Los caminos des paraíso“, Hoy (Quito), 19. Januar 2000. Siehe auch das Interview mit General Paco Moncayo, Held im Peru-Ecuador-Krieg, zu dem Zeitpunkt Abgeordneter der „Demokratischen Linken“, der später in Zusammenhang mit dem Staatsstreich seinen Sitz aufgeben sollte: El País (Madrid), 22. Januar 2000. Gerüchte über einen Eigenputsch à la Fujimori waren verbreitet, nicht erst im Januar 2000. 2 The Guardian Weekly, 27. Januar 2000. 3 The Economist, 15. Januar 2000. 4 Vgl. El Comercio (Quito), 27. Januar 2000. 5 Die Wirtschaft war bereits dollarisiert: Am 5. Januar 2000 waren 45 Prozent des Kredits bereits Dollarschulden. Für den US-Ökonomen Paul Krugman ist die Dollarisierung ein Testlauf für kommende Finanzkrisen (International Herald Tribune, 20. Januar 2000). 6 Die Tageszeitung El Comercio (17. Januar 2000) bezieht sich auf einen vertraulichen Bericht der Weltbank („Ecuador: Crisis, Poverty and Social Services“, 17. Dezember 1999), in dem eingestanden wird, dass der Markt auf Dauer ohne sozialpolitische Maßnahmen nicht bestehen kann: Mit der Marktwirtschaft allein nimmt die Armut unweigerlich zu. 7 Es heißt häufig, 30 Prozent der Ecuadorianer seien Indígenas. Einige Anthropologen halten diese Zahl für überhöht. Die Conaie versichert, es seien 45 Prozent. 8 Landarbeiter erhalten als Entgelt für ihre Arbeitskraft ein huasipungo, ein kleines Stück Land für den Eigenanbau, werden jedoch nur minimal mit Geld entlohnt. 9 Das andere bedeutende Exportprodukt ist das Erdöl. Die Vorkommen liegen in der Region Amazonien. 10 Siehe El Universo (Guayaquil), 24. Januar 2000. Über Noboa heißt es, er vertrete die Interessen der Costa. 11 Siehe das Interview mit Jamil Mahuad in El Pais, „Fui enganado por los militares, ése fue mi error“, 26. Januar 2000. 12 Siehe Hoy, 22. Dezember 1999. Zum Kampf gegen die kolumbianische Guerilla als Priorität der „Botschaft“ vgl. die Erklärungen von Madeleine Albright in El Tiempo (Bogotá) vom 19. Januar 2000.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von JOSÉ MARÍA TORTOSA