17.03.2000

Die Nato und ihre Südosterweiterung

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Die Nato und ihre Südosterweiterung

Von PAUL-MARIE LA GORCE *

NIEMAND will bestreiten, dass die Ursache des Kosovo-Kriegs im Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaates lag. Wie der weitere Verlauf jedoch zeigte, ging es dabei auch um eine strategische Neuordnung von ganz Südosteuropa. Die strategischen Ziele zu bestimmen, die die Vereinigten Staaten von Beginn an verfolgten, ist nicht einfach. Zu Anfang überwog der Wunsch, Jugoslawiens Einheit zu erhalten, wie er in einem Brief von Präsident George Bush an den jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Marković vom März 1991 deutlich wird. Die anderen Sieger des Zweiten Weltkrieges (Russland, Großbritannien und Frankreich) teilten diesen Wunsch. In einer zweiten Phase zeigte sich der maßgebliche Einfluss der deutschen Politik. Im Prinzip optierte Bonn sofort für die Auflösung der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien und für die Anerkennung der sich abspaltenden Staaten im Rahmen der bestehenden Republiksgrenzen.

Darin wurzeln alle folgenden Tragödien. Denn es lag auf der Hand, dass große Bevölkerungsgruppen (die kroatischen Serben, die bosnischen Kroaten und Serben) diese Entwicklung nicht schlucken würden. Hinzu kam der Einfluss des Vatikans, der die Entstehung zweier neuer katholischer Staaten in Kroatien und Slowenien mit Wohlwollen verfolgte. Überdies regte sich im Bereich der US-Politik auch eine sehr aktive kroatische Lobby.

Washington war in der Hauptsache daran gelegen, die Sache der muslimischen Bevölkerungsgruppe in Bosnien und den in Entstehung begriffenen bosnisch-muslimischen Staat zu verteidigen. Damit wollte man klar machen, dass die USA auch zur Unterstützung solcher Länder bereit seien, in denen der Islam vorherrscht, obwohl sie gegen mehrere andere islamische Staaten wie Libyen, Sudan, Irak und Iran agierten. Im Verlauf der Krise wurde ein weiteres Anliegen immer bedeutsamer: Man wollte verhindern, dass Russland in Osteuropa an Einfluss gewinnen und erneut eine wichtige Rolle auf dem Kontinent spielen könnte.

Die Logik des Kräftemessens trieb Restjugoslawien – also de facto die serbische Führung –, dazu, Moskau um Unterstützung anzugehen. Die Initiative ging also nicht vom Kreml aus. Das Ganze hatte auch nichts mit einer traditionellen historischen Bindung zu tun, wie fälschlicherweise oft angenommen wurde. Sofern eine solche überhaupt bestand, war Bulgarien die bevorzugte Balkannation.

Ein Machtspiel mit Russland

DIE Nähe zu Moskau entsprach auch nicht einem ursprünglichen Bedürfnis Belgrads. Präsident Slobodan Milošević war, als sich die jugoslawische Wirtschaft im „Übergang“ befand, zeitweise einer der nachgiebigsten Gesprächspartner des Internationalen Währungsfonds und damit indirekt der westlichen Regierungen.1 Später berief die serbische Führung den Schriftsteller Dobrica Ćosić, eine Symbolfigur des Widerstands gegen den Totalitarismus, an die Spitze der Bundesrepublik Jugoslawien, um den Westen nachsichtig zu stimmen und Hilfsgelder locker zu machen. Milan Panić, ein nach Belgrad zurückgekehrter Geschäftsmann aus den USA, wurde zum Ministerpräsidenten ernannt.

Doch all dies nutzte nichts. Seit sich auf Betreiben Deutschlands die damaligen EG-Staaten, aber auch die USA, für die sich von der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien loslösenden Republiken einsetzten, blieb der Belgrader Regierung nichts anderes übrig, als auf die Unterstützung Russlands zu setzen. Um Russland von der Region fern zu halten und zu verhindern, dass es auf dem Balkan erneut Einfluss gewinnt, wurden die Vereinigten Staaten zum Feind Serbiens. Hier wie anderswo entwickelte der Konflikt also eine Eigendynamik, die dazu führte, dass die beteiligten Kräfte ihre ursprünglichen Absichten und ihr strategisches Kalkül änderten.

Die wahren Ziele der US-Politik und die Absicht Washingtons, eine strategische Neuordnung auf dem Balkan durchzusetzen, wurden nach dem im November 1995 geschlossenen Dayton-Abkommen offensichtlich. Dayton hätte durchaus zu einer dauerhaften Befriedung der Krise führen können. Seine Bestimmungen sahen ausdrücklich die Einrichtung besonderer Bindungen zwischen der serbischen Republik in Bosnien und Restjugoslawien einerseits und dem kroatischen Teil Bosniens und Kroatien andererseits vor. Auf dieser Grundlage hätten sich elastische Beziehungen zwischen den betreffenden Gebieten entwickeln können. Dieser Weg wurde jedoch nie beschritten. Auch die Sanktionen gegen Jugoslawien, die eigentlich aufgehoben werden sollten, wurden im Wesentlichen beibehalten.

Die strategischen Ziele der USA sowie die Absicht, Russland auszugrenzen, fanden sich im Kosovo-Krieg bestätigt, den die Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) ohne Billigung der Vereinten Nationen und Russlands begann.2 Die ersten Kriegstage, die nach Einschätzung westlicher Experten Jugoslawien unmittelbar zur Kapitulation bewegen sollten, führten jedoch im atlantischen Lager und vor allem innerhalb der US-Führung zu einer Vertrauenskrise. Das war auch an der gedrückten Stimmung bei den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der Nato abzulesen. Die Schlusserklärung unterstrich sogar die Rolle des UN-Sicherheitsrates bei der Bewältigung der Krise und enthielt die bezeichnende Aussage: „Russland hat eine besondere Verantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen und spielt in der Suche nach einer Lösung für den Kosovo-Konflikt eine bedeutende Rolle.“

In der Praxis wurde Russland jedoch mit allen Mitteln gehindert, vor Ort zu intervenieren und auf die Lösung der Krise Einfluss zu nehmen. Als am 12. Juni 1999 ein aus Bosnien kommendes russisches Infanteriebataillon überraschend am Flughafen von Priština eintraf, stellte man umgehend sicher, dass es keine Verstärkung erhalten konnte. Die amerikanische Diplomatie setzte alle Hebel in Bewegung, um bei den Regierungen Rumäniens und Bulgariens zu erwirken, dass Russland das Überfliegen der beiden Länder verboten wurde.

Dieses Vorgehen hielt die russische Militärpräsenz im Kosovo auf niedrigster Stufe und zeigte zudem, dass sich Rumänien und in geringerem Maß Bulgarien so verhielten, als seien sie bereits Nato-Mitglieder.

Die unerwartete Dauer des Kosovo-Krieges erlaubte der russischen Diplomatie, in die Vermittlerrolle zu schlüpfen, so dass schließlich am 9. Juni 1999 in Kumanovo an der makedonischen Grenze ein Abkommen unterzeichnet werden konnte. Im Gegensatz zu den Vorschlägen von Rambouillet war darin die Besetzung des Kosovo durch UNO-Truppen vorgesehen, während der Nato nur ein „substantieller“ Anteil eingeräumt wurde, was eine russische Beteiligung in Aussicht stellte.

Die amerikanische Reaktion auf dieses Abkommen, das die westlichen Regierungen unterzeichnet hatten, war bezeichnend. Der Generalstab des Atlantikpakts in Brüssel verkündigte sofort die Ernennung des britischen Generals Michael Jackson zum Befehlshaber der Besatzungstruppen und die Aufteilung des Kosovo in fünf Zonen, die den fünf Nato-Ländern USA, Großbritannien, Deutschland, Italien und Frankreich unterstellt wurden. Den Jugoslawen wurde diese Entscheidung einfach mitgeteilt. Wie man sich erinnert, reagierte Russland auf dieses Vorgehen mit großem Unwillen und entsandte seinen Militärattaché nach Belgrad, um darauf hinzuweisen, dass die vorgesehene Aufteilung in keiner Weise dem Buchstaben und Geist des Abkommens vom 2. Juni 1999 gerecht wurde. Darauf folgten weitere Verhandlungen in Moskau und Köln, die zur Integration eines russischen Kontingents in einer westliche Zone führten.

Dennoch nahmen sich ab diesem Zeitpunkt die westlichen Regierungen und insbesondere die US-amerikanische Führung zahlreiche Freiheiten in der Auslegung des Abkommens heraus. Von den darin festgehaltenen „Grundsätzen der Souveränität und territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien“ blieb praktisch nichts übrig. Denn die kraft dieses Abkommens eingesetzten Behörden verordneten, mit Unterstützung der vor Ort stationierten Nato-Truppen und ohne jegliche vorherige Kontaktnahme mit Belgrad – neue Rechtsvorschriften, die radikal zwischen dem Kosovo und dem übrigen Jugoslawien unterscheiden und sogar mit der Einführung einer neuen Rechtsordnung und der Deutschen Mark als einzigem Zahlungsmittel dieser Region verbunden sind. Andererseits ist die Nato, obwohl ihr das Abkommen nur eine „substantielle Beteiligung“ an der „internationalen Sicherheitspräsenz“ zugesteht, die es im Kosovo zu errichten gilt, de facto die einzige militärische Autorität, von der jede weitere Beteiligung abhängt.

So zeichnete sich im Verlauf der verschiedenen jugoslawischen Krisen nach und nach der neue strategische Status des Balkans ab. Die durch den Bosnien-Krieg begünstigte, von den Vereinten Nationen begrüßte und direkt dem Kommando des Atlantischen Bündnisses unterstellte Militärpräsenz der Nato in diesen Ländern ist zu einem dauerhaften Faktor geworden. Zur Durchsetzung der gegen Jugoslawien verhängten Boykottmaßnahmen ließen die Vereinigten Staaten von der ungarischen Regierung eine militärische Antennenanlage aufstellen, die sie selbst betreiben. Mittlerweile geht die Einbindung Ungarns in das Atlantische System weit darüber hinaus, insofern es den Beitritt zur Nato – also auch zu dessen politischer und militärischer Organisation – vollzogen hat. Aus demselben Anlass sind übrigens US-amerikanische Militärantennen ebenfalls in Albanien und in Makedonien errichtet worden.

Albanien und Makedonien dienten den gegen Jugoslawien aufgestellten Nato-Truppen als Aufmarschgebiet und Rückzugsraum. Von hier aus wären die umfassenden Bodenoperationen ausgegangen, wenn es zu ihnen gekommen wäre, obwohl keines der beiden Länder dem Atlantischen Bündnis angehört. Das albanische Territorium diente der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) während des Konflikts als strategische Rückzugsbasis. Der Zugang des Atlantischen Bündnisses nach Makedonien, wo sich einige zentrale Kommandoeinrichtungen der Nato befanden, wäre durch die Mitgliedschaft Griechenlands, und in zweiter Linie auch der Türkei, sowie durch die Stellungen und Militäreinrichtungen der Vereinigten Staaten in diesen Ländern auf jeden Fall gesichert gewesen. Mit dem Kosovo-Krieg baute die Nato ihre militärische Vormachtstellung in Südosteuropa aus. Sie hat, und zwar erstmals sehr offen, eine Art Protektorat auf fremdem Territorium installiert. Darin wird sie im Übrigen von den Vereinten Nationen unterstützt.

Die russische Präsenz im Kosovo beruht einzig auf einer Überraschungsaktion, die unter dem Druck der Regierungen der Nato-Länder sehr schnell behindert, kontrolliert und begrenzt wurde. Alles deutet darauf hin, dass die Einheiten der Nato-Mitgliedstaaten lange Zeit stationiert bleiben werden. Dabei wird entweder mit der Notwendigkeit argumentiert, das Kosovo vom Rest Jugoslawiens abzuteilen, oder auf einen theoretischen Status quo der internationalen Grenzen verwiesen, mit der Absicht, einer ausschließlich albanischen Verwaltung, die einen Anschluss an Albanien anstreben könnte, nicht die Kontrolle über das Gebiet zu überlassen.

All dies illustriert die Aussage des ehemaligen Botschafters der USA bei der Nato und heutigen Beraters der Rand Corporation, Robert E. Hunter, der über das Kosovo gesagt hat: „Es öffnet den Zugang zu Regionen, die für den Westen von vorrangigem Interesse sind – im Hinblick auf den arabisch-israelischen Konflikt, den Irak und den Iran, Afghanistan, das Kaspische Meer und Transkaukasien. Die Stabilität in Südeuropa ist unverzichtbar für den Schutz der westlichen Interessen und die Eindämmung von Gefahren, die weiterhin aus dem Osten drohen.“3

Die Logik der Ereignisse vom Kalten Krieg bis zu dessen Überwindung, vom Zusammenbruch des Ostblocks bis zur politischen und strategischen Neuordnung des Balkans ist offenkundig. Diese Entwicklung wird von der Osterweiterung der Nato begleitet und fortgeschrieben. Die amerikanische Strategie ist von einer Befürchtung diktiert: Sie will verhindern, dass erneut eine Weltmacht entsteht, die wie die Sowjetunion die uneingeschränkte Vormacht der USA in Frage stellen könnte. Diese Obsession gilt in erster Linie Russland. Der ehemalige Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, schreibt ganz offen: „Mit der Erweiterung der Nato kann dem unwahrscheinlichen, aber real bestehenden Risiko begegnet werden, dass Russland in sein altes Verhalten zurückfällt. Sie soll auch dazu beitragen, dies unmöglich zu machen.“4

Solche Überlegungen könnten im Übrigen auch an anderen Kriegsschauplätzen ein Eingreifen à la Kosovo nahe legen. So hat der US-Kongress im Jahre 1997 Zentralasien und die Region des Kaukasus in einer Resolution als „Zonen nationalen Interesses für die Vereinigten Staaten“ definiert. Das könnte etwa für die Konflikte in Dagestan und in Tschetschenien gelten – in einer Region also, die Zbigniew Brzezinski als „Balkan Eurasiens“ bezeichnet hat und in der sich ein langwieriges Kräftemessen anbahnt. Zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer scheint mit dem Kosovo-Krieg die Ära nach dem Kalten Krieg zu Ende zu gehen und eine neue Phase der Konfrontationen aufzuziehen.

dt. Birgit Althaler

* Journalist, Autor, unter anderem von „De Gaulle“, Paris (Perrin) 2000.

Fußnoten: 1 Susan Woodward, „Balkan tragedy, chaos and dissolution after the cold war“, Brookings Institution 1995; François Chesnais, Tania Noctiummes, Jean-Pierre Page, Réflexions sur la guerre en Yougoslavie“, Paris (L'Esprit frappeur) 1999. 2 Paul-Marie de La Gorce, „Was in Rambouillet und in der Rue Kleber geschah“, Le Monde diplomatique, Mai 1999; Eric Rouleau, „Errements de la diplomatie française“, Le Monde diplomatique, Dezember 1999. 3 Washington Post vom 21. April 1999. 4 Zitiert in Gilbert Achcar, „La nouvelle guerre froide“, Paris (PUF) 1999, S. 40.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von PAUL-MARIE LA GORCE