17.03.2000

Der König drängt, die Regierung bremst

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Der König drängt, die Regierung bremst

Von ZAKYA DAOUD und KADER ABDERRAHIM *

Seit er vor acht Monaten den marokkanischen Thron bestieg, sind die Marokkaner von ihrem jungen König Mohammed VI. zweifellos ebenso fasziniert wie die internationale Öffentlichkeit. Das Tempo, in dem politische Veränderungen und Reformen eingeleitet wurden, war atemberaubend: Der Monarch ließ eine neue Haltung gegenüber den Ärmsten des Landes erkennen. Justiz und Verwaltung sollten geliftet, der Rechtsstaat gestärkt und die ins Stocken geratene Wirtschaft angekurbelt werden; er reiste in die Rif-Provinzen. Dann kam die Aufsehen erregende Rückkehr bekannter Oppositionspolitiker, insbesondere von Abraham Serfaty und der Familie Ben Barkas1 , und schließlich die Entlassung von Innenminister Driss Basri, die allseits begrüßt und als Zeichen des Bruchs mit dem alten Regime gewertet wurde.

Die neue Haltung wird sogar in der ausgesprochen heiklen Saharafrage deutlich. Nach der Niederschlagung der Unruhen in El Aijun, im September 1999, die in einem Bericht der marokkanischen Menschenrechtsorganisation kritisiert wurde, leitete der König eine Politik ein, die nicht mehr nur Sicherheitsfragen in den Vordergrund stellt, sondern auf den Dialog mit den Sahraouis setzt: Es sollen Lösungen für die sozialen Probleme gefunden werden, die Einrichtung einer gewählten regionalen Volksvertretung ist geplant.

In den politischen Führungsetagen des Auslands reagierte man mit großzügigen Zuwendungen an den neuen Monarchen. Seit seiner Thronbesteigung erhöhte sich der Anteil der umgeschuldeten Auslandsverpflichtungen Marokkos von 20 auf 30 Prozent2 ; die Europäische Union stimmte grundsätzlich einer Nichterneuerung des Fischereiabkommens zu; die „amerikanische Hilfe für den Aufbau eines modernen, demokratischen, stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen Marokkos“ ist erneut bewilligt worden; und – ein noch deutlicheres Zeichen – angesichts der Verzögerungen bei der Registrierung der Wahlberechtigten ist die Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara um zwei Jahre auf 2002 verschoben worden.

Dennoch wurden hier und da Zweifel laut an der Art, wie dieser König herrscht und regiert, ernennt und entlässt, befiehlt und anregt – er ist in allen politischen Bereichen so präsent, als gäbe es die Regierung von Abderrahman Youssoufi überhaupt nicht mehr. Da der Monarch so aktiv ist und die Regierung stillhält (wofür sie zunehmend kritisiert wird), entsteht ein Missverhältnis, das auch den Marokkanern immer weniger gefällt. Wiewohl sie zahlreiche Anzeichen für einen Wandel erkennen, bleibt offenbar vieles beim Alten. Vor allem im Verhalten gegenüber der Regierung hat sich kaum etwas verändert.

Kürzlich hat Mohammed VI. in einer Grußadresse an die Teilnehmer eines Seminars zum Thema kleine und mittlere Unternehmen deutlich genug formuliert, was er von der Regierung erwartet. Sie soll sich weiter um angemessene institutionelle Rahmenbedingungen für die Wirtschaft bemühen, das volkswirtschaftliche Gleichgewicht wahren, für Planungssicherheit und vereinfachte Verwaltungsabläufe sorgen und Investitionshindernisse beseitigen.

Im Klartext heißt das: Der König gesteht der Regierung lediglich die Rolle einer Verwaltungsmacht zu, während er für sich beansprucht, die politischen Strategien zu entwickeln und für die „gerechte Verteilung von Gewinnen und Arbeitseinkommen“ zu sorgen. Am 20. August 1999, in seiner zweiten Rede an die Nation, hat Mohammed VI. im Übrigen Wert darauf gelegt, an die in der Verfassung verbrieften königlichen Vorrechte zu erinnern, und damit deutlich gemacht, dass er sie in Anspruch nehmen will.

Der König hat also in Worten und Taten eindeutig Position bezogen: Er will die Institution des Königtums erhalten, aber einen moderneren Herrschaftsstil einführen, und er besetzt die Schlüsselpositionen mit seinen Leuten. Erstaunlich genug, dass die Regierung dazu schweigt und eine Aufgabenteilung akzeptiert, die die eigentümlichen Kompromiss- und Repressionsstrukturen der Machsen fortführt. In den Augen der marokkanischen Öffentlichkeit hat sich damit der Pakt bereits überlebt, den der verstorbene König Hassan II. mit Abderrahman Youssoufi, dem ersten gewählten Ministerpräsidenten, geschlossen hatte: Er bestand darin, dass die Monarchie der Regierung die Leitung der Staatsgeschäfte überlässt, um ihrerseits einen reibungslosen Thronwechsel vollziehen zu können.

Die Marokkaner waren ohnehin längst der Meinung, dass die Regierung Youssoufi, mit ihren einundvierzig Ministern aus sieben politischen Gruppierungen (nicht zu vergessen die achte Partei, die direkt vom verstorbenen König ernannten „Minister des Herrscherhauses“), es mit den Reformen langsam angehen lassen musste. Zu übermächtig war der Einfluss von Hassan II. auf das politische Leben, und zu deutlich hatte sein mächtiger Innenminister Driss Basri die Hand im Spiel, wenn es um Regierungsentscheidungen ging. Man war also gespannt, ob sich nach dem Abtreten von Hassan II. und vor allem nach der Entlassung von Driss Basri am 9. November 1999 in dieser Hinsicht etwas ändern würde.

Tatsächlich blieb nicht nur die Veränderung aus, sondern man hatte verstärkt den Eindruck, dass sich die Dinge sogar zum Schlechteren wendeten: Während die Auftritte des Königs unübersehbar waren, schien die Regierung in Erstarrung verfallen zu sein. Der Anschein trog nicht: Nach dem Vorbild seines Vaters entfaltete Mohammed VI. eine Unzahl von Aktivitäten und berief eine königliche Kommission nach der anderen ein: zur Saharafrage, zum Problem der Investitionen, zur Bildung, zur Armut, zu den sozialen Problemen und sogar zu der Frage, wie jene 1,1 Milliarden Dollar, die Rabat aus der Vergabe einer zweiten Lizenz für ein GSM-Mobilfunknetz erlöst hatte, im Rahmen einer „Hassan-II.- Stiftung für Fortschritt und Entwicklung“ eingesetzt werden sollten.

Was bezweckt Mohammed VI. damit? Will er die Glaubwürdigkeit seines Ministerpräsidenten erschüttern, dem die Presse bereits vorwirft, „übervorsichtig, träge und phantasielos“3 zu sein? Teilt er die Kritik, das Vorgehen der Regierung sei zu passiv – immerhin hat er am 12. Oktober 1999 öffentlich sein Bedauern darüber bekundet, dass die Resultate der Regierungsarbeit „hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben“ seien. Oder nimmt er einfach nur die Vorrechte in Anspruch, die ihm seiner Auffassung nach zukommen?4 Jedenfalls wird inzwischen von allen Seiten die Forderung laut, die Regierung zu straffen (nach der Ernennung von zwei neuen Staatsministern durch den König umfasst sie nun dreiundvierzig Minister)5 oder umzubilden, oder sogar den Ministerpräsidenten abzulösen.

Abderrahman Youssoufi hat sich bemüht, den Empfehlungen seiner Unterstützer nachzukommen und schleunigst zu handeln. Er hat zehn Gesetzesvorhaben vorgestellt und den Kampf gegen die Korruption verstärkt. Aber zugleich hat er erneut betont, dass es bei der „vorhandenen Prioritätenliste“ bleiben werde. Dass Youssoufi jüngst im Kabinett wissen ließ, er wolle zu Ehren des in der Bevölkerung verhassten früheren Innenministers Driss Basri eine zeremonielle Teestunde geben, hat ihm verschärfte Kritik eingebracht. Menschenrechtsaktivisten demonstrierten mit Kerzen in den Händen vor seinem Amtssitz. Und selbst wohlgesonnene Beobachter zeigten sich erstaunt und erinnerten daran, dass derselbe Youssoufi noch 1993 unter Hinweis auf Basris Vormachtstellung das damalige Angebot, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, abgelehnt hatte.

Inszenierungen eines komplizierten Wandels

ABER der König, der den politischen Kurs bestimmt, und sein Ministerpräsident, der für die Umsetzung zuständig ist, sind nicht die einzigen Akteure in dieser Inszenierung eines komplizierten Wandels. Schließlich herrscht politisches Tauwetter, eine Atmosphäre freieren Denkens und offener Worte. Während die politischen Parteien überaltert und unzeitgemäß wirken, erweist sich die Zivilgesellschaft als äußerst lebendig und gewinnt zunehmend an politischem Gewicht: Aus ihren Reihen vor allem kommen die weiter gehenden Forderungen nach Veränderung und Reformen.

Die wichtigste Kraft sind Menschenrechtsvereinigungen wie „Wahrheit und Gerechtigkeit“, ein im Oktober 1999 entstandener Zusammenschluss von Opfern willkürlicher Verhaftungen und Verschleppungen. Sie wollen sich nicht mit den Vertröstungen auf künftigen Schadenersatz6 oder einzelnen Rehabilitierungen zufrieden geben, sondern fordern, dass die Verantwortlichen aus den Reihen der Geheimdienste vor Gericht gestellt werden. Mit dem Argument, dass es ohne Gerechtigkeit keine Versöhnung geben kann, treten sie gegen die Straffreiheit für die Täter an. Unter anderem ist auch geplant, Ex-Innenminister Driss Basri vor einem öffentlichen Tribunal symbolisch den Prozess zu machen. Zur Frage der strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Folterer, von denen einige noch immer öffentliche Ämter bekleiden, hat sich Mohammed VI. am 10. Oktober 1999 geäußert. Er verwies zunächst darauf, dass die Vergebung zu den islamischen Grundwerten gehört, und führte dann aus: „Was den Menschen auszeichnet, ist seine Fähigkeit, sich über jede Form der Rache zu erheben.“

Doch von allen Seiten hagelt es inzwischen Kritik wegen Unfähigkeit, Misswirtschaft, Pfründenpolitik und Bereicherung; Finanz- und Immobilienskandale werden aufgedeckt. Alles, was in den langen Jahren der Unterdrückung vertuscht werden konnte, kommt nun ans Licht. Aller Voraussicht nach werden sich die Vorwürfe und Anschuldigungen weiter ausdehnen. Selbst jene zweifelhaften Abgeordneten, denen die parlamentarische Immunität nur dazu dient, sich der Strafverfolgung zu entziehen, sind inzwischen in die Kritik geraten, und einige von ihnen werden sich vor Gericht verantworten müssen. Darüber hinaus tritt im März 2000 eine Verordnung gegen Ämterhäufung in Kraft. Bei dieser mehr oder weniger aggressiv geführten Abrechnung spielte die Presse ein wichtige Rolle. Sie ist ohnehin eine treibende Kraft des Wandels, und sie lässt sich zunehmend weniger den Mund verbieten.7

Den Höhepunkt erreichte die Welle der Kritik nach der Entlassung von Innenminister Basri. Die Vertreter der alten Ordnung bekommen es mit der Angst zu tun: Sie fürchten, dass die Büchse der Pandora nicht mehr zu schließen ist, und fangen schon an, ihre Seilschaften zu aktivieren.

Eine Menge ungelöster sozialer Probleme machen die Lage noch komplizierter. Die Gewerkschaften protestieren gegen das neue Arbeitsrecht und drohen mit Generalstreik – im Oktober 1999 hat im Übrigen der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (ICFTU) in Brüssel Kritik an der „zunehmend harten Haltung des marokkanischen Staates gegenüber den Gewerkschaften“ geübt. Die Unternehmer dagegen fordern Flexibilisierung der Arbeit und Reformen in Justiz und Verwaltung. Auch die arbeitslosen Akademiker melden ihren Protest an.

Die Frauenverbände kritisieren die Widerstände, die sich gegen das Programm zur Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft formiert haben. Dieses Projekt, das im März 1999 vom Staatsminister für soziale Fragen vorgestellt worden war, stieß sofort auf Ablehnung beim Minister für religiöse Angelegenheiten. Die Religionsgelehrten (ulema) und die Islamisten im Parlament schlossen sich umgehend der Kritik an, sogar der Führer einer Partei, die der Regierungskoalition angehört, wollte nicht zurückstehen. Kritik übten darüber hinaus auch zahlreiche prominente Mitglieder der sozialdemokratischen Partei des Ministerpräsidenten.

Der Streit ist ein Dauerthema in den Zeitungen und hat den besonderen Effekt, die beiden islamistischen Gruppierungen Marokkos stärker ins Rampenlicht zu stellen: Es gibt einerseits die offiziell anerkannte „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ von Dr. Al-Chatib, die Ende November 1999 ihren vierten Parteitag abhielt und seit Sommer 1999 auch eine Parlamentsfraktion stellt, und zum anderen die radikale Oppositionsbewegung „Wohlfahrt und Gerechtigkeit“ von Scheich Abdessalam Yassin, die vor allem an den Universitäten verankert ist, von der man inzwischen allerdings auch weiß, dass ihre Anhängerschaft in der breiten Bevölkerung wächst. Viele Politiker, unter ihnen auch der Ministerpräsident,8 hätten nichts dagegen, die staatstreuen Islamisten in die Regierung aufzunehmen, zumal sie unverkennbar nach einem neuen politischen Profil suchen.

Gegenwärtig müssen sich alle politischen Gruppierungen auf die Phase des Umbruchs einstellen. Für einige Parteien, wie etwa die rechte Istiqlal, hat der Wahlkampf bereits begonnen. Und natürlich existieren weitere Problemherde. So ist insbesondere die Rolle der Armee ungeklärt, die die Polizei als Ordnungsmacht weitgehend abgelöst hat.

„Ich bin ich, und er ist er“, soll Hassan II. über den damaligen Erbprinzen Mohammed gesagt haben, und das hat sich als zutreffend erwiesen. Mit ebendiesen Worten hat sich auch der neue Innenminister Achmed-el-Midaoui von seinem Vorgänger abgesetzt. Doch Parolen wie diese werden schon bald nicht mehr als Ersatz für politische Konzepte dienen können.

In Zukunft wird es darum gehen, den Wandel auch gesetzlich zu verankern. Für das so genannte „System Basri“, das auf den Sonderrechten der Provinzgouverneure bestand und erst kürzlich einschneidende Veränderungen erfahren hat, steht das noch aus. Die beiden Parlamentskammern sind noch weitgehend durch das System der Mandatsverteilung geprägt, das der alte Innenminister festgelegt hat – Mohammed VI. hat jedoch bereits verlauten lassen, dass er die zweite Kammer für überflüssig hält. Eines Tages wird dieses berüchtigte System durch ein neues Wahlgesetz und durch ordentliche Wahlen abgeschafft werden müssen. Erst dann wird sich zeigen, ob sich in Marokko wirklich etwas verändert hat.

dt. Edgar Peinelt

* Journalisten

Fußnoten: 1 Nun soll endlich auch in Frankreich die im Interesse der nationalen Sicherheit unter Verschluss gehaltene Akte über Ben Barkas Verschwinden geöffnet werden. 2 Nach offiziellen marokkanischen Angaben ist die Auslandsverschuldung von 19,3 Milliarden Dollar (1998) auf 18 Milliarden Dollar (1999) gesunken. 3 La Nouvelle Tribune (Casablanca), 16. Dezember 1999. 4 Mohammed VI. hält sich dabei an die Regeln der dynastischen Nachfolge, wie sie von Evariste Lévy-Provençal beschrieben werden: „Histoire de l'Espagne andalouse“, Paris (Maisonneuve et Larose) 1950. 5 Derzeit gibt es vier Minister für das Bildungswesen, ebenso viele für die Außenbeziehungen und die sozialen Fragen. Obwohl eine Umbildung des Kabinetts ansteht, hat Ministerpräsident Youssoufi erklärt, dass „diese nichts an der Situation ändern wird“. 6 Es geht längst nicht mehr um die paar hundert Fälle, die unter Hassan II. öffentlich wurden. Die eingesetzte königliche Untersuchungskommission befasst sich inzwischen mit fast 3 000 Anträgen auf Wiedergutmachung. 7 Anfang Februar dieses Jahres ließ Mohammed VI. drei Zeitungen beschlagnahmen. Sie hatten einen offenen Brief des Islamistenführers Scheich Abdessalam Yassin veröffentlicht. In dem Brief wird der König aufgefordert, das auf 40 bis 50 Millionen Dollar geschätzte Auslandsguthaben seines Vaters zurück ins Land zu bringen, um Marokko „vom Joch der Weltbank“ zu befreien. 8 Siehe sein Interview in La vie économique, August 1999. Siehe auch die Äußerungen des Landwirtschaftministers Habib el-Maliki in Jeune Afrique, Nr. 2032, 21. Dezember 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von ZAKYA DAOUD und KADER ABDERRAHIM