Apartheid unter Plastikplanen
Von VICTOR ANGEL LLUCH *
„Das alles hier ist eine Falle. Mein Bruder aus Marokko wollte kommen, aber ich habe ihm gesagt: Komm nicht, hier ist es grässlich.“ Im Gegenlicht gleicht die Falle, von der Mohammed Mehdi spricht, dem Meer, einem geometrischen Meer, facettiert, matt glänzend und in Streifen geteilt. Ein Meer, das seinen Horizont zu verlängern scheint, in einer einzigen Welle gegen die Berge steigt, um sich blau und weiß schimmernd auf die Hänge zu legen. Ab und zu ragt ein Baum, ein Feigenkaktus, aus diesem Meer hervor. Einige wenige Bereiche sind noch leer, abgeteilt zwar, doch leer und nur von niedrigen Büschen bedeckt, an denen tausende zerrissener Plastikfetzen hängen. Das Meer, das sind die Treibhäuser von El Ejido, 17 000 Hektar mit weiß-blauen Plastikplanen überdecktes Land.
Über den Mauern aus flatterndem Plastik ein endloser Himmel. Und Schweigen. Möglichst weit von der asphaltierten Straße entfernt hängt Wäsche an der Leine. Dort leben die maghrebinischen Arbeiter, verstreut, weit auseinander, ins Zentrum des Treibhaus-Labyrinths verbannt oder an die Flanken der Hügel abgeschoben. Parias, die man sich stumm, unsichtbar und rechtlos wünscht. Sie leben in den Mauern eines alten Gebäudes, dessen Dach eingestürzt und das nun mit einer Plastikplane überdeckt ist. Oder in den Wracks der beiden Kombis, die Seite an Seite auf ihren Achsen stehen und ebenfalls von einer Plastikplane umspannt und überdeckt werden. Oder in Schuppen, neben Pestiziden und Düngemitteln.
Zwei aneinander gelehnte und durch eine Plastikplane geschützte Paletten, in der Mitte ein Loch: die Latrine. Anderswo, zwischen einer Lagerhalle und dem Reservoir der Bewässerungsanlage, deren Wasser auch für die Küche und die Toilette genutzt wird: eine enge, fensterlose Betonbaracke. Innen ein Waschbecken, ein Spiegel und eine Kloschüssel. Die Mauern und der Boden nackt. Das Auge wandert ins Innere der Treibhäuser: Gartenbau ohne Erde. Paprika, Tomaten, Gurken, Auberginen, Wassermelonen und Blumen, je nach Saison. In der Ferne zeichnen sich unter den Planen Silhouetten ab: Arbeiter bei ihrer Arbeit.
Cortijo nennen die Arbeiter ihre Unterkunft. Der Ausdruck, der „Landhaus“ bedeutet, ruft Erinnerungen wach an Olivenhaine und Pferdeherden, an friedlich unter der Sonne schlummernde Weiten, so dass es überrascht und betroffen macht, wenn ihn die Maghrebiner verwenden, um von den baufälligen Hütten zu sprechen, in denen man sie unterbringt. „Bevor ich herkam, wusste ich bereits, was hier los ist. Aber du kannst es dir nicht vorstellen“, erregt sich Hazroud. „So wohnen wir, fünf Personen. Das Dach aus Plastik. Kein Licht, kein Wasser, keine Dusche. Nichts. Keine Toiletten. Alle wissen, dass wir so leben. Doch die Leute hier wollen uns keine richtige Wohnung geben, weil sie die Marokkaner nicht mögen. Wir würden ja bezahlen, aber sie wollen nicht.“
Dann schweift der Blick ab, wandert über die Schaumstoffmatratzen, den Kocher, die Wände voller Risse. Unwürdige Lebensbedingungen ertragen und sie anderen vorführen, sich so zeigen zu müssen, das führt zu Selbsthass. Die Wahrheit zuzugeben, das heißt, sich eine zusätzliche Wunde zuzufügen. „Wenn einer Arbeit findet, sagt ihm der Chef: ,Hier wirst du schlafen.‘ Und weil der Arbeiter keine Wohnung hat, beginnt die Ausbeutung. ,Ich zahle dir nur 3 500 Peseten1 , da ich dir ja einen Schlafplatz gebe.‘ Vor ungefähr zwanzig Jahren begann sich hier die Landwirtschaft zu entwickeln. Die Leute kamen mit dem neuen Reichtum nicht zurecht. Sie haben es mit Gewächshäusern versucht, und es hat gut funktioniert, doch sie haben nie gelernt, wie man andere Menschen anständig behandelt. Es gibt einen enormen Reichtum, die Produkte aus Almería gehen heute in alle Welt. Doch die Lage der hier arbeitenden Einwanderer wird immer schlechter.“2
„Ab und zu rufe ich die Familie an“, lächelt Hazroud. „Viel ist nicht zu sagen ... Man spricht von den Missständen, doch die ganze Wahrheit erzählt man nicht. Um die Familie nicht zu verletzen. Manchmal sagt man, es fängt an, besser zu werden‚ obwohl sich ja gar nichts ändert.“
Eine von „Almería Acoje“ (einer Hilfsorganisation für Arbeitsimmigranten) durchgeführte Untersuchung machte im Juni 1999 auf folgenden Sachverhalt aufmerksam: „Von 260 Unterkünften, in denen 1 150 Personen leben, entsprechen nur 33 Prozent den Vorschriften. Die übrigen Unterkünfte sind zu 42 Prozent einfache landwirtschaftliche Lagerräume, zu 15 Prozent unbewohnbare, halb zerstörte Häuser und zu 10 Prozent verfallene Cortijos. In den meisten gibt es kein fließendes Wasser; 60 Prozent der Unterkünfte liegen irgendwo verstreut, am Rande der städtischen Siedlungskerne.“ Der Bericht schloss mit einer vorausahnenden Warnung: „Das bedeutet, dass es für die Immigranten wenig, um nicht zu sagen keine Möglichkeiten gibt, sich in die Gesellschaft Almerías zu integrieren. Ein Großteil der Bevölkerung betrachtet die Immigranten als Außenseiter, ,weil sie in Häusern leben, die wir nicht benutzen würden‘. Wenn wir nicht wollen, dass es hier zu Konfrontationen kommt, wie wir sie aus anderen Ländern kennen – noch ist Zeit, ihnen vorzubeugen. Doch bis jetzt haben wir nichts getan.“
Zur Abschiebung an den Rand der Städte gesellt sich, ganz klassisch, die rassistische Diskriminierung in der Öffentlichkeit. Die marokkanischen Arbeiter sind in den Bars und Cafés unerwünscht. Systematisch weigert man sich, sie zu bedienen. Brahim: „Man will uns in den Gewächshäusern, aber nicht in den Häusern. Man will uns weder in den Cafés sehen noch in den Straßen, nirgends. Man will uns nur arbeiten sehen.“
Die Arbeit, das ist zunächst einmal die Anwerbung, morgens zwischen sechs und acht auf einem Platz in El Ejido oder am Ende einer der Straßen. Die Tagelöhner warten in Gruppen auf dem Bürgersteig oder am Straßenrand. Mit diversen Fahrzeugen kommen die Unternehmer an: Pick-ups, Landrover, Touristen-Kleinbusse. Hektische Aufregung, wenn eines davon anhält. Die Arbeiter drängen sich zusammen: Gespräche, bisweilen Verhandlungen, Einstellung, harmlose Rivalitäten der Arbeiter untereinander. Ein paar Probleme bezüglich der Reihenfolge – der eine sagt, er sei vor dem anderen da gewesen, oder einer behauptet beim Einsteigen in den Transporter, dass er ausgewählt worden sei und eben nicht der andere. Spannungen, keine wirklichen Konflikte. Die Wagen fahren weg, mit zwei, drei, manchmal vier Arbeitern. „Der Chef kommt, er wählt aus, er nimmt einen, und wenn es gut geht, nimmt er dich am nächsten Tag wieder. Er nimmt einen immer nur für einen Tag. Er bezahlt dich am Ende des Tages. Wenn alles in Ordnung ist, wenn er dich am nächsten Tag wieder nimmt, dann bezahlt er dich für den folgenden Tag. Er nennt dir einen anderen Ort und holt dich dort ab. Wenn er dich nicht nimmt, gehst du in die Unterkunft zurück, um den ganzen Tag zu schlafen. Ohne Arbeit.“
„Problematisch wird es“, stimmt Larbi zu, „wenn nicht genug Arbeit da ist. Der Chef kommt, und alle wollen arbeiten. Also zahlt er, was er will. Manchmal sagt er: Ich brauche zehn Leute für 4 000 Peseten [47Mark]. Und dann gibt es nichts zu verhandeln.“ Die Rekrutierung der illegalen Arbeiter findet in aller Öffentlichkeit statt. Keinerlei Überwachung durch die Polizei. „Die Polizei? Denen ist das egal. Sie wissen, dass du hier bist, sie sprechen dich nicht an, es gibt kein Problem. Es gibt keine Polizeikontrollen. Sie sehen dich auf der Straße, kein Problem.“
Die Unterwerfung unter den Arbeitgeber, das stumme und umfassende Akzeptieren der wirtschaftlichen Ausbeutung sind dagegen unabdingbare Voraussetzungen, wenn man die Legalisierung seines Status erreichen will. Dazu erhält man zunächst einen vom Arbeitgeber aufgesetzten Vorvertrag und kehrt in sein Herkunftsland zurück, um ein reguläres Einreisevisum zu erhalten, wobei die Zahl der pro Jahr zugebilligten Verträge im Rahmen einer „Kontingent“-Politik3 genau festgelegt ist. „Es herrschen Wut und Verzweiflung. Da ist ein Unternehmer, der sagt, dass er dich braucht, du arbeitest, er sagt, dass er dir Papiere verschaffen werde. Und wenn es so weit ist, sagt er, dass es Probleme gebe, dass er keine Zeit habe, und schiebt das Ganze auf das kommende Jahr hinaus. Das ist eine Tortur, und das über zwei, drei Jahre hinweg. Er weiß, dass du all die Arbeit ertragen wirst, die er dir zusätzlich gibt, um dich bis aufs Letzte auszubeuten. Er weiß genau, dass du dir, wenn du eines Tages die Papiere hast, eine andere, eine bessere Arbeit suchen wirst. Ohne Papiere bleibst du immer derselbe. Du bist von diesen Papieren abhängig.“
Unter solchen Ausbeutungsbedingungen hat die erhoffte Legalisierung, der man so viel geopfert hat, eine perverse Wirkung. Die versprochene und schließlich erlangte Frucht erweist sich als vergiftet: „Wenn du die Papiere hast, will dich der Unternehmer nicht mehr. Er wird die Sozialversicherung für dich bezahlen müssen. Er wird dir 4 700 statt 4 000 Peseten zahlen müssen. Für ihn ist das herausgeworfenes Geld.“ Alles geht von vorne los. Manch ein legalisierter Gastarbeiter akzeptiert die Arbeitsbedingungen und den Lohn der Illegalen, um nicht arbeitslos zu werden und über kurz oder lang die erworbenen Rechte zu verlieren.
Alle Voraussetzungen für einen rassistischen Ausbruch waren in El Ejido gegeben. Ein Funke genügte, um eine Bevölkerung aufzubringen, in der sich Ignoranz, Hass und Angst kurzgeschlossen hatten. Dazu beigetragen haben fremdenfeindliche Phantasmen und Reden, die von einem Teil der Medien, der politischen Organisationen und der Staatsorgane unablässig serviert wurden und die auf die Gleichung setzten: Marokkaner = Gefahr.
Jagdszenen in El Ejido
DIE Ermordung einer Spanierin und die Verhaftung eines jungen, geistig verwirrten Maghrebiners waren der entscheidende Funke in diesem Pulverfass. Drei Tage lang, vom 5. bis zum 7. Februar, loderte die rassistische Gewalt in der Stadt. Zielscheibe waren die marokkanischen Arbeiter. Über 72 Stunden hinweg haben Horden mit Eisenstangen bewaffneter Bauern, denen sich Jugendliche aus den Schulen anschlossen, ihre Opfer geschlagen, durch die Straßen gejagt und bis in die Gewächshäuser gehetzt. Gesperrte, verbarrikadierte, in Flammen stehende Straßen. In dem abgeriegelten Ort, zu dem El Ejido geworden war, wurden die Geschäfte ansässiger Marokkaner verwüstet, ihre Wohnungen zerstört und in Brand gesteckt, die Moschee geplündert, die heiligen Texte entweiht. Viele verbargen sich in den Gewächshäusern oder versuchten, ihre Wohnungen zu schützen.
Die Bauern verwüsteten die Räume der Hilfsorganisation „Andalucia Acoje“ und beschuldigten die Mitarbeiter, „die Ausländer über ihre Rechte zu unterrichten, damit sie sich rächen können“. Juan Miralles zufolge waren dies „drei Tage des Wahnsinns, in denen niemand wissen konnte, wie weit das alles gehen würde. Dennoch wäre es ein Leichtes gewesen, die Ausschreitungen zu verhindern, wäre man von Anfang an eingeschritten. Die Staatsorgane haben die Dinge geschehen lassen.4 Die Stadtverwaltung hat den Druck der Bauern sogar direkt gefördert. Niemand hat dem ausbrechenden Wahnsinn Einhalt geboten, im Gegenteil, man ließ den Dingen so lange ihren Lauf, bis die Differenzen zwischen den Gemeinschaften unversöhnlich geworden waren.“ Und er fügt hinzu: „Ich bin immer noch überrascht, welch kühlen Kopf die Marokkaner bewahrt haben. Hätten sie mit gleicher Münze erwidert, was man ihnen angetan hat, ich weiß nicht, was passiert wäre ... Viele sind aus der Stadt geflohen, einige ins spanische Hinterland, andere sind nach Marokko zurückgekehrt. Leider sind gerade diejenigen geflohen, die am besten integriert waren, die Familien.“
Während dieses Pogroms – mit mehr als vierzig Verletzten, geplünderten Geschäften, in Brand gesteckten Autos und Wohnungen – war die Aufmerksamkeit der Medien und der Regierungen der EU auf den Regierungsantritt einer Koalition aus Konservativen und extremen Rechten in Österreich konzentriert. Nicht dass dies ein unbedeutendes Ereignis wäre oder dass man sich darum nicht kümmern müsste. Doch das gute antirassistische Gewissen brachte sich dabei ziemlich wohlfeil zum Ausdruck. Eine unter großem Getöse errichtete geistige Maginotlinie gegen die Verbrechen der Vergangenheit, gegen einen Epigonen, einen Schatten, der durch die Aufmerksamkeit, die die Medien ihm verschafften, noch größer wurde.
Im selben Moment aber kam ebenjener Rassismus, den die europäischen Regierungen in Österreich bekämpfen wollten, in Spanien zum Ausbruch, in konkreter und krimineller Weise, die ohne große Analysen oder Umschweife zu verdammen ist. Das eine anzuprangern sollte nicht hinderm, auch das andere zu verurteilen. Nur fand Letzteres in Spanien statt, unter einer Regierung, die sich wie die vierzehn anderen zu den so lautstark, so nachdrücklich, so eilig plakatierten „gemeinsamen europäischen Werten“ bekennt. Man hätte sich mit der Schattenwirtschaft beschäftigen müssen, hätte die fremdenfeindliche Haltung der Staatsorgane und die Einwanderungspolitik der spanischen Regierung kritisieren müssen. Keine einzige Regierung der EU hat protestiert.
Mit einer von 8 500 Bürgern unterzeichneten Petition bewehrt, verweigerte Juan Enciso, Bürgermeister von El Ejido, dem Roten Kreuz die Aufstellung provisorischer Zelte, in denen jene untergebracht werden sollten, die ihre Wohnung verloren hatten und nun unter den Plastikplanen der Gewächshäuser schlafen. Am Ende riefen die Unternehmer Almerías nach rumänischen und litauischen Gastarbeitern. „Mit den Marokkanern ist es aus“, sagten sie. „Mit denen gibt es zu viele Probleme.“ Dem hält Juan Miralles entgegen: „Und wieder glaubt man, die Immigranten wären das Problem. Die Leute sagen: Wenn wir die Marokkaner loswerden, werden wir das Problem los, während es doch ein soziales, menschliches und administratives Problem ist; es handelt sich um eine Frage der Wohnungen, der Rechte, der Papiere usw. Jetzt wird es an den Arbeitsplätzen sehr starke Konflikte und Rivalitäten geben. Noch schlimmer aber ist die Tatsache, dass die Bewohner von El Ejido glauben, eine gute Tat vollbracht, endlich aufgeräumt zu haben. Doch wenn morgen das Problem mit einer anderen Gemeinschaft wieder auftaucht, was wird dann geschehen?“
dt. Markus Sedlaczek
* Chilenischer Schriftsteller, lebt in Frankreich.