Der Mythos vom Ende des Nationalstaats
Von NOËLLE BURGI und PHILIP S. GOLUB *
In den letzten 200 Jahren waren Kapitalismus und Nation eng verkoppelt. Der Kapitalismus entstand in Form nationaler Märkte, entfaltete sich ausgehend von nationalen Territorien, basierte in seiner Entwicklung auf dem Nationalstaat. Das dynamische Zentrum des internationalen Kapitalismus waren die Nationalstaaten. Großbritannien und die USA, die – jeweils in ihrer Epoche – das Zentrum eines weltweiten Produktions- und Handelssystems darstellten und die Normen und Beschränkungen der globalen Wirtschaft diktierten.
Diese Koppelung von Nationalstaat und Kapitalismus soll nach neuester Lehrmeinung in Auflösung begriffen sein: Die Globalisierung mache den Nationalstaat hinfällig, das Politische machtlos, die staatliche Souveränität zur leeren Hülse.
Die Annahme vom Ende des souveränen Staats kommt dem Universalitätsanspruch des modernen Kapitalismus zupass. Erstmals in der Geschichte erhebt sich die Macht des Kapitals zum globalen System. Weder der englische Kapitalismus des 19. Jahrhunderts noch der amerikanische Kapitalismus nach 1945 hatten derart universelle Dimensionen erlangt. Wenn der Kapitalismus sich endgültig von seinen nationalen Bindungen befreit und zur transnationalen, nomadisierenden, schranken- und identitätslosen Macht deterritorialisiert hat, bedeutet das zugleich, dass der Nationalstaat zunehmend an Konsistenz verliert. Als bloßer Sachwalter ökonomischer Zwänge wird er ohnmächtig zusehen müssen, wie die globalisierten Märkte immer mehr die Oberhand gewinnen und er selbst jede Substanz und Souveränität einbüßt. Der Nationalstaat wird also nicht mehr der wichtigste Ort politischen Handelns und politischer Identität sein, nicht mehr ein strukturierender Rahmen der Solidargemeinschaft, des Zusammenlebens und des Gemeinwohls. Die formellen Attribute staatlicher Souveränität werden nur noch äußerlich vorhanden sein; der Staat wird höchstens noch ein Akteur unter anderen (privaten) Akteuren sein; im Extremfall wird er die Fähigkeit verlieren, den Lauf der Dinge zu bestimmen oder auch nur zu beeinflussen.
Vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses, der eine freiwillige Übertragung und Verlagerung von Souveränität bedeutet, steht diese Auffassung hoch im Kurs; einer Analyse der Globalisierung und der damit einhergehenden Veränderungen hält sie indes nicht stand. Sie unterschlägt die Rolle des Staats bei der Schaffung freier Märkte, verschweigt seine zentralen sozialpolitischen Intentionen und verkennt die zwischenstaatlichen Kräfteverhältnisse, die sich aus der Globalisierung ergeben. So hat sich der US-amerikanische Staat nicht etwa in die neue Marktutopie aufgelöst, sondern seine Vorherrschaft und seine Souveränität in spektakulärer Weise bekräftigt. Was die EU anbelangt, so verfolgt die Verlagerung staatlicher Machtbefugnisse allein den Zweck, Europa zur schlagkräftigen Wirtschaftsmacht zu machen, um sich im globalisierten Wettbewerb eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Wenn die Umstrukturierung der staatlichen Aufgabenbereiche die sozialen Missstände verschärft, ist dies keineswegs auf eine Schwächung des Staates zurückzuführen.
So wie der englische Staat im 19. Jahrhundert mit der Durchsetzung des freien Arbeitsmarkts eine der Bedingungen für den Aufschwung des Industrie- und Handelskapitalismus schuf (siehe Kasten), so mussten Ende des 20. Jahrhunderts die notwendigen Bedingungen für die Entstehung eines freien Weltmarkts produziert werden. Die kapitalistische Weltwirtschaft seit 1945 war keineswegs eine „freie Marktwirtschaft“. Auf internationaler Ebene sorgte eine umfassende Regulierung der Devisen- und Kapitalmärkte für monetäre Stabilität und Sicherheit, auf nationaler Ebene fungierte der Staat als Garant der Solidargemeinschaft und Koordinator der Wirtschafts- und Industriepolitik.
Am Beginn der aktuellen Globalisierung stehen die Entscheidungen der USA, das internationale Währungssystem zu deregulieren, die Weltmärkte zu liberalisieren und dem Finanzsektor eine Unabhängigkeit und Machtvollkommenheit zu verschaffen, die er seit dem goldenen Zeitalter der britischen Finanz Ende des 19. Jahrhunderts nicht besessen hatte. Der Finanzsektor diktiert heute, abgekoppelt von seiner realwirtschaftlichen Basis, das Entwicklungstempo, die Beschränkungen und Normen eines Rentenkapitalismus, der den industriellen Kapitalismus der „dreißig ruhmreichen Jahre“ abgelöst hat.
Als Erstes wurde das Bretton-Woods-System der festen Wechselkurse1 von 1944 aufgegeben und durch ein System flottierender Wechselkurse ersetzt. Für diese im Alleingang getroffene Entscheidung Washingtons gab es 1973 triftige wirtschaftliche Gründe, denn die USA hofften, ihre nachlassende Wettbewerbsfähigkeit und steigende Auslandsverschuldung dadurch aufzufangen, dass sie ihre makroökonomischen Ungleichgewichte exportieren. In der Tat erwies sich die Freigabe der Wechselkurse als effizientes Instrument, um die strukturellen Anpassungsprozesse zu vermeiden, die angesichts des wachsenden Zahlungsbilanzdefizits eigentlich unumgänglich gewesen wären. Bei festen Wechselkursen und gültigem Gold-Devisen-Standard hätten die USA, wie heute die Dritte Welt, mit relativen Souveränitätseinbußen und höchst unpopulären Sparprogrammen einen hohen Preis entrichten müssen.
In dem neuen Währungssystem konnten die USA weiterhin aus den Geldreserven anderer Länder schöpfen, um den hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Dank ihrer politischen Vormachtstellung und der Rolle des Dollars als nach wie vor einziger globaler Reservewährung stand die währungspolitische Souveränität der USA trotz Überschuldung nie in Frage. Und die Verbündeten konnten die amerikanische Politik nicht in Frage stellen, ohne das Sicherheitssystem des Kalten Kriegs zu destabilisieren, von dem sie fraglos profitierten. Aus diesem Grund waren Japan und Europa jahrzehntelang gezwungen, die ständig steigenden Haushaltsdefizite und Auslandsschulden der westlichen Führungsmacht zu finanzieren.
Der nächste entscheidende Schritt war die Deregulierung des US-Finanzsektors in den Achtzigerjahren. Sie setzte eine weltweite Liberalisierung der Finanzmärkte in Gang, vorangetrieben vor allem von den amerikanischen Banken, Börsenhändlern, von Hedge-Funds2 und Rentenfonds, die der Finanzindustrie den Zugang zu den neuen Industrie- und Schwellenländern mit ihren hohen Renditen verschafften. Ein freier Weltkapitalmarkt war für die wirtschaftliche und finanzielle Gesundheit des weltweit führenden Schuldnerlandes also unerlässlich.3
Dies erklärt die langjährige Kontinuität der amerikanischen Politik hinsichtlich der Liberalisierung der Finanzmärkte. 1985 beschloss Ronald Reagan, „die Handels- und Investitionsbeschränkungen und die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs“ zwischen den Industrieländern zu beseitigen. Sein Nachfolger startete ein Aktionsprogramm („America's Enterprise Initiative“) zur Durchsetzung „freier Märkte und eines freien Kapitalverkehrs“ in der westlichen Hemisphäre. Und für die Clinton-Administration gilt: „Die vorhergehenden Regierungen zielten mit der Liberalisierung der Finanzmärkte vor allem auf Japan. Unter Clinton nahm man die ganze Welt ins Visier“, insbesondere jene neue Zone in Ostasien, die den amerikanischen Banken und Börsenhändlern als „Goldmine“4 erschien.
Mit einer Mischung aus Nötigung und Zusammenarbeit erreichten die USA 1985 die Liberalisierung des japanischen Finanzsystems und eine Aufwertung des Yen (Plaza-Abkommen).
Um die Liberalisierung der Märkte in den neuen Industrie- und Schwellenländern Ostasiens zu erzwingen, stellten die Vereinigten Staaten eine regelrechte Kriegsmaschinerie auf die Beine. Unter Federführung des Handelsministeriums entstand ein Plan zur Öffnung von „zehn aufstrebenden Volkswirtschaften“ im pazifischen und atlantischen Raum, in den „sämtliche Regierungsstellen, von der CIA bis zu den Botschaftsvertretungen im Ausland“5 eingespannt wurden.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) begleitete und legitimierte diese Strategie. Dass bestimmte Schwellenländer und ihre Oligarchien von der Liberalisierung profitierten, ändert nichts daran, dass man sie ihnen mehr oder minder aufgezwungen hat: „In den Achtzigerjahren gerieten die Entwicklungsländer politisch stark unter Druck, ihre Wirtschaft zu öffnen. (...) Die binnenwirtschaftliche Ordnungspolitik der Entwicklungsländer wurde von mächtigen Staaten in Frage gestellt.“6
Zu Beginn der Neunzigerjahre verfolgte Washington das Ziel, das weltpolitische Gleichgewicht auch nach Ende des Kalten Kriegs zu bewahren, seinen technologischen Vorsprung und seine militärische Vormachtstellung zu behalten und sich ein günstiges internationales Wirtschaftsumfeld zu sichern. Diese Ziele hat Washington im Wesentlichen erreicht. Zwar ist die internationale Lage keineswegs stabil, und Hegemonie bedeutet keine absolute Autonomie. Aber kein Land und keine Ländergruppe scheint in absehbarer Zeit in der Lage zu sein, ein politisches Gegengewicht zu bilden und die einzigartige Position der Vereinigten Staaten in der Hierarchie der Nationen in Frage zu stellen. Die USA dominieren und strukturieren kraft ihrer Vormachtstellung die Gesamtheit der internationalen Wirtschaftspolitik. Liberalisierte Weltmärkte stärken die US-Wirtschaft, die in den „postindustriellen“ Schlüsselsektoren Finanzdienstleistungen, Kulturindustrie, Information und Kommunikation und Hightech-Produktion von erheblichen komparativen Kostenvorteilen profitiert.
Mit der Liberalisierung der Märkte einhergehend kristallisieren sich im Bereich der Wirtschaft und des Sozial- und Privatrechts neue global geltende Normen heraus. Der Ausgangspunkt dieses Prozesses ist ebenfalls in den USA zu sehen. In der Wirtschaft hat sich der Shareholder-Value durchgesetzt, das Gesamtsystem reguliert sich über die Bewertung von Unternehmen und Staaten durch Rating-Agenturen, und im internationalen Handel hat das letzte Wort die WTO-Schiedsstelle. Die führenden amerikanischen Rating-Agenturen Moody's und Standard & Poor funktionieren als Richter und Partei zugleich und können damit dem Rest der Welt die amerikanischen Normen aufnötigen.7
Weniger Souveränität, mangelnde Demokratie
DAS US-Kapital bewegt sich also in einem regulatorischen Umfeld, dessen Normen einer ständigen Umgestaltung unterliegen. Dabei sind die USA selbst durch diese normativen Beschränkungen nicht behindert. Vielmehr steuern sie die Marktentwicklung, so etwa bei den krisenentscheidenden Interventionen von Schatzministerium und Zentralbank im Börsenkrach 1987, beim Zusammenbruch des mexikanischen Peso 1994/95 und während der „asiatischen“ Krise 1997/98. Stets konnte ein Zusammenbruch des Systems verhindert und die Politik der Liberalisierung fortgesetzt werden.
Im Kielwasser der US-Hegemonie partizipieren die anderen Westmächte in unterschiedlichem Maße an der westlichen Vormachtstellung über die Dritte Welt. Im Zuge der Globalisierung institutionalisiert sich ein zwischenstaatliches Kräfteverhältnis, das die Souveränität des Nordens ebenso stärkt, wie es die Autonomie des Südens kontinuierlich einschränkt. Der freie Weltmarkt vertieft die Kluft zwischen den Zentren des Kapitals und dem Rest der Welt: zwischen den Besitzern von Wissen und Macht, von denen die geltenden Normen diktiert werden, und denen, die sie einzuhalten haben.
Die schwächsten Länder der Dritten Welt, die im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung oft zu einer wahrhaft perversen Spezialisierung genötigt werden, verlieren dabei die letzten Reste staatlicher Souveränität. Auch bei den „neuen Industrieländern“ (NIC) hat die Abhängigkeit vom Westen – wie der Fall Ostasien zeigt8 – in den letzten Jahren ständig zugenommen. Was Wunder: Die Autonomie der so genannten Schwellenländer war seit jeher begrenzt, die rein rechtliche Souveränität der schwächsten Peripherieländer schon immer eine bloße Fiktion.
Auch die Europäische Union hat sich der Utopie des freien Weltmarkts verschrieben, obwohl sie potentiell ein wirtschafts- und sozialpolitisches Gegenmodell verkörpert. Ziel des Einigungsprozesses war seit Beginn der Achtzigerjahre ein Staatenverbund, der imstande sein sollte, nicht etwa den USA entgegenzutreten, aber doch sich mit ihnen zu messen. Da kein Land mehr den Herausforderungen der Globalisierung im Alleingang begegnen kann, versuchten die EU-Staaten ihre Souveränität in ein größeres Ganzes einzubringen, um sich gemeinsam zu behaupten. Auch Frankreich, das zunächst noch als lonely cowboy auftreten wollte, sah sich bald genötigt, das antizyklische Konjunkturprogramm der Jahre 1981 bis 1983 zugunsten einer antisozialen Sparpolitik aufzugeben, die das frostige Etikett „wettbewerbsorientierte Inflationsbekämpfung“ bekam.
Lassen die Zwänge der Globalisierung und die Imperative des wirtschaftlichen Einigungsprozesses den nationalen Regierungen also keinerlei Handlungsspielraum? Die Antwort ergibt sich aus einer Analyse des Souveränitätstransfers in Europa und der damit einhergehenden Umschichtung staatlicher Macht.
Ein Souveränitätstransfer zugunsten gemeinschaftlicher Entscheidungsinstanzen – etwa bei der Geldpolitik und im Wettbewerbsrecht – bedeutet nicht automatisch einen Verlust an nationaler Souveränität. Es handelt sich hier keineswegs um ein Nullsummenspiel, sondern um ein Pooling der einzelnen Souveränitätsrechte, das die Mitgliedstaaten befähigt, ihre bedrohte nationale Souveränität – gestützt auf einen umfassenderen regionalen Verband – zurückzugewinnen und gegen die Macht des Weltmarkts zu verteidigen.
Die Europäische Union verfügt über keine zentrale Entscheidungsinstanz. Für jedes Sachgebiet ist ein eigenes Gremium zuständig; in strategischen Fragen haben nach wie vor die nationalen Regierungen das letzte Wort – was mitunter, aber nicht immer, auf Kosten der Effizienz geht. Eine besondere Rolle spielt der Ministerrat, der sich aus den Ressortchefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Seine Rechtsetzungsbefugnis geht jedoch vielfach zu Lasten der nationalen Parlamente und des Europaparlaments.
In der Tat hat Souveränität mindestens zwei Aspekte. Was die Souveränität – definiert als relativ autonomes staatliches Handeln – innerhalb des internationalen Staatengefüges betrifft, so können die nationalen Exekutiven der EU-Länder – gestützt auf die Gemeinschaftsorgane – zweifellos souverän handeln, zumindest mit Blick auf die weltwirtschaftlichen Schlüsselprobleme. Zumindest in einer Frage ist sich Europa einig: in der Bejahung umfassender Wettbewerbsfreiheit, die zur absoluten Priorität und zum Wert an sich erhoben wurde. Dass in diesem Punkt der politische Wille der Einzelstaaten und der Gesamt-EU zusammenfallen, wird auch daran deutlich, dass die EU-Mitgliedstaaten manche Reformen schon umsetzen, bevor sie auf EU-Ebene beschlossen sind, oder in der nationalen Gesetzgebung weit über die EU-Vorgaben hinausgehen. So orientiert sich die Deregulierung der Finanzmärkte in Frankreich seit 1984 eher am angloamerikanischen als am „rheinischen“ Modell der Bundesrepublik.9
Was den anderen Aspekt der Souveränität betrifft, der unter dem Titel Volkssouveränität firmiert, so zeigt sich dagegen, dass die parlamentarischen Gremien und mehr noch die Zivilgesellschaft bei immer mehr Sachfragen umgangen und vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Die Umschichtung staatlicher Souveränität im Kontext der Globalisierung und des europäischen Einigungsprozesses bedingt also eine erhebliche Verselbständigung der Exekutive, ein „Demokratiedefizit“, das durch die Fülle von sozial- und beschäftigungspolitischen EU-Initiativen schwerlich zu bemänteln ist. Auf diesem Gebiet hält sich die Kommission auffällig zurück, angeblich weil die Komplexität der nationalen Sozialversicherungssysteme und die national unterschiedlichen sozialpolitischen Errungenschaften eine Harmonisierung der Gesetzgebung wenn nicht unmöglich, so doch zu einer äußerst heiklen Aufgabe machen.
Deshalb wären die einzelnen Nationalstaaten aufgrund ihrer größeren Bürgernähe eigentlich eher imstande, die Interessen der Menschen unter Berücksichtigung der jeweiligen sozialpolitischen Traditionen und nationalen Temperamente zu wahren. Indes laufen die Sozialreformen, abgesehen von der technischen Komplexität der geplanten oder bereits realisierten Maßnahmen, in allen Ländern auf eine weitere Liberalisierung der Arbeitsmärkte hinaus. Dass diese Reformen den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben und in kleinen Schritten durchgesetzt werden, bedeutet entgegen einer weit verbreiteten Ansicht keineswegs, dass die nationalen Regierungen versuchen, der Globalisierung entgegenzuwirken.
Schon Karl Polanyi hat in „The Great Transformation“ (1944) vermerkt, dass der Staat hier schlicht die Rolle wahrnimmt, „das Tempo des Wandels, je nachdem, zu beschleunigen oder zu verlangsamen“. Der Staat komme durch schrittweise Reformen einem etwaigen Widerstand zuvor. Doch in dem Maß, wie sich die Reförmchen zur Gesamtreform fügen und ihre Kohärenz offenbaren, treten sie den Betroffenen als vollendete Tatsachen entgegen.
Ungeachtet aller Klagen über die Ohnmacht der nationalen Regierungen zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass sie ohne zwingende Notwendigkeit und mit vollem Einsatz an der Planung und Realisierung der neuen politischen Ökonomie mitwirken, dass sie daran also aktiv beteiligt sind und nicht nur versuchen, sich anzupassen.10 Die Einzelstaaten, die sich angeblich nur der unerbittlichen Logik der Sachzwänge fügen, arbeiten auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene an einer Neudefinition der ökonomischen Spielregeln gemäß der neoliberalen Lehre und Praxis. Die EU-Institutionen betätigen sich dabei nicht so sehr als Usurpator der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten, vielmehr bieten sie Letzteren die Möglichkeit, ihre Interessenwahrnehmung mit anderen Mitteln fortzusetzen.
Gleichwohl trägt der europäische Einigungsprozess in seiner „zwecklosen Zweckbestimmtheit“11 alle Merkmale eines blinden Naturprozesses. Unbeirrt geht Europa seinen Weg und lässt den Mitgliedstaaten keine Möglichkeit, einmal eingegangene Verpflichtungen zu widerrufen. So gesehen, geraten die EU-Länder zusehends unter die Räder, die sie selbst in Gang gesetzt haben.
Insofern der langfristige Orientierungsrahmen von den Einzelstaaten abgesteckt wird, sind diese allein für die allgemein verbindlichen Normen verantwortlich, die von der Kommission erlassen werden und als Richtschnur für die nationalen Gesetzgebungen gelten. Was aber wird passieren, wenn der Einigungsprozess den Mitgliedstaaten tatsächlich einmal aus der Hand gleiten sollte? Eine Rückkehr zum Status quo ante wäre die denkbar schlechteste Lösung, denn damit ginge auch der Handlungsspielraum verloren, den sich die Fünfzehn durch ihr konzertiertes Handeln geschaffen haben. Was dann Not täte, wäre eine erneute Diskussion über die Ziele der europäischen Einigung.
Wachsende soziale Ungleichheit ist nicht nur ein ethisches Problem, sie führt auch immer zur Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung und zu Brüchen im gesellschaftlichen Gefüge. Hier wäre die transnationale Dynamik der europäischen Einigung eigentlich eine gute Gelegenheit, die Sozialsysteme zu harmonisieren. Das hieße, bei Arbeitsbedingungen und Löhnen, bei der Beschäftigung und der sozialen Sicherung europaweit die jeweils arbeitnehmerfreundlichsten Regeln und Praktiken einzuführen. Der hierfür nötige politische Wille ist derzeit leider nicht in Sicht. Sollte sich dies einmal ändern, könnte Europa tatsächlich zum Vorbild werden. Ein europäisches Reich des Freihandels hingegen würde – im Verein mit den USA und Japan – vielleicht zu einem multipolaren Weltsystem führen, ganz sicher jedoch nicht zu mehr Gerechtigkeit in der Welt.
dt. Bodo Schulze
* Noëlle Burgi ist Forscherin am Centre de Recherches Politiques de la Sorbonne (CNRS), Philip S. Golub lehrt am Institut d'Études Européennes der Universität Paris-VIII-Saint-Denis.