Aufgerappelt aus Ruinen
Von GÉRARD PRUNIER *
Verirrt in seine irredentistischen Träume der Sechziger- und Siebzigerjahre, erlebte Somalia in den Achtziger- und Neunzigerjahren einen kontinuierlichen Verfallsprozess. Doch bereits vor dem Abzug der Blauhelme der UN-Streitkräfte in Somalia (Unosom) im März 1995 waren Anzeichen einer Neustrukturierung zu spüren. Mit der Entstehung von Somaliland im Mai 1991 – seinerzeit als eine schockierende, „sezessionistische“1 Tollheit empfunden – setzte die Neubildung ein.
Somaliland schlug damit, ohne es wirklich zu wollen, den Weg ein, den Somalia-Experten als „building block process“ (Prozess eines dezentralen allmählichen Aufbaus) bezeichnen. Als die Vereinten Nationen – vergeblich – versuchten, eine Einheitsregierung für ganz Somalia einzusetzen, verweigerte sich Somaliland diesem ehrgeizigen und wirklichkeitsfremden Unterfangen und begann stattdessen, seinen eigenen Boden zu bestellen.
Diese Entwicklung hatte unmittelbar nach dem Ende des Kriegs eingesetzt, als der Rat der Clans (shir) im Januar 1991 in Berbera zusammentrat. Die im Norden des Landes operierende Guerilla der Somalischen Nationalbewegung (SNM) hatte nach einem zehn Jahren dauernden Kampf gegen die Diktatur von Siad Barre beschlossen, das Schicksal „ihrer“ Region zu erörtern und nicht erst abzuwarten, bis sich die Situation in Mogadischu wieder stabilisieren würde.
Fünf Monate später bedrängte bei einem zweiten großen shir in Burao die Bevölkerung die SNM-Führung, die Unabhängigkeit innerhalb der Grenzen des ehemaligen Protektorats Britisch-Somaliland auszurufen. Die Proklamation stieß auf allen Seiten auf heftige Kritik: bei der UNO, die nach wie vor auf eine Einheitsregierung setzte, bei der Organisation der Afrikanische Einheit (OAU), die darin eine Verletzung des Artikels 2 ihrer Charta sah, und auch bei der Arabischen Liga, die sich um die territoriale Integrität eines ihrer Mitgliedstaaten sorgte.
Niemand glaubte an die Lebensfähigkeit dieses „Staates“. Und dennoch hat Somaliland überlebt. Die ersten Jahre (1991-1995) waren sehr hart. Das Land wurde wie die Nachbarregionen weiter im Süden von Kämpfen zerrissen. Unter Berufung auf ihre Clanzugehörigkeit versuchten die Führer der ehemaligen Guerillaorganisationen mit allen Mitteln, sich Besitztümer zu erplündern und einen Zipfel der Macht zu ergattern. Doch die marodierenden Gruppen konnten entscheidend geschwächt werden, als man es auf großen Clanversammlungen schaffte, die Zivilbevölkerung gegen die Milizionäre aufzubringen, denen damit der Nachwuchs entzogen wurde.
1993 hatte der große shir von Borama einen „Präsidenten“ gewählt: Mohammad Ibrahim Egal, der in den Sechzigerjahren, vor der Diktatur, Ministerpräsident des vereinten Somalia gewesen war. Als vorsichtiger Taktierer ohne großes Charisma verstand er es, die Milizen weiter zu schwächen und seinen „Staat“, den die internationale Gemeinschaft als Stiefkind behandelte, allmählich zu institutionalisieren. 1997 beschloss eine neu gewählte Nationalversammlung eine Verfassung; der Staat begann zu funktionieren.
Somaliland, das mit einem Minimum an Finanzmitteln auskommen muss (die Steuereinnahmen – im Wesentlichen Zölle – beliefen sich 1999 auf 36 Millionen Mark), das bei einer Gesamtbevölkerung von 2 Millionen Menschen einen Staatsapparat von nur 6 000 Personen unterhält und völlig freien Warenverkehr zulässt, begeisterte selbst die rigorosesten Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Mit ihren 18 000 Mann hat die Armee noch immer zu viel Gewicht. Finanzminister Mohammad Said „Gees“ klagt, dass sie fast die Hälfte seines Etats absorbiert, fügt dann aber seufzend hinzu: „Aber immerhin haben wir dafür Frieden.“ Die Presse ist frei und die Justiz unabhängig. Die Journalisten, die ständig die Regierung angreifen, werden mit schöner Regelmäßigkeit wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts verhaftet und regelmäßig von den Gerichten im Namen der Meinungsfreiheit wieder auf freien Fuß gesetzt.
Inzwischen wird die „Sezession“ von Somaliland von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt, auch wenn andererseits niemand bereit ist, das Land international anzuerkennen, was es im Übrigen immer weniger nötig hat. „Wir erhalten keinerlei internationale Hilfe“, sagt Mohammad Said „Gees“, „aber somit sind wir auch das einzige afrikanische Land, das praktisch keine Auslandsschulden hat.“ Erstmals engagiert sich auch die Europäische Union in Somaliland mit umfangreichen Programmen zum Wiederaufbau des Hafens von Berbera, der zunehmend vom benachbarten Äthiopien genutzt wird, da der Hafen von Dschibuti häufig überlastet ist. Im letzten Jahr importierte Addis Abeba 46 000 Tonnen über Berbera – ein eher bescheidenes Volumen, aber immerhin ein Test. Nach dem positiv verlaufenen Experiment spricht die Europäische Union inzwischen davon, einen „Straßenkorridor“ zu schaffen, der die äthiopische Hauptstadt mit dem Roten Meer verbinden soll.
Das Modell Somaliland hat bereits Nachahmer gefunden. In den Nachbarregionen Bari, Nugaal und einem Teil des Mudug orientieren sich die Majerteen-Clans, die ebenfalls jahrelang gegen die Diktatur gekämpft hatten, zunehmend auf eine Autonomie. Das dauert etwas länger als in Somaliland, denn Oberst Jussuf Abdullahi, der „historische Führer“ der Majerteen, der 1978 die Rebellion gegen Siad Barre geleitet hatte, versuchte lange Zeit, eine „Regierung der nationalen Einheit“ zustande zu bringen. Dafür gibt es allerdings angesichts der ständigen Zwistigkeiten zwischen den Befehlshabern der Milizionäre des Südens wenig Aussicht auf Erfolg.
Die Jahre 1997 und 1998 waren von ausführlichen und bisweilen verwirrenden Diskussionen geprägt. Zwei mögliche Alternativen standen zur Debatte: Die „Neugründung eines Einheitsstaats“ oder die Selbstverwaltung der Region. Hinzu kamen Differenzen zwischen den Subclans der drei großen Majerteen-Zweige. Oberst Jussuf Abdullahi vom Subclan Osman Mahmud war keineswegs unumstritten. Dennoch gelang es einem großen shir, der sich Mitte 1998 in Garowe versammelte, die Gegensätze zu überwinden und sich auf die Schaffung einer autonomen Verwaltung zu einigen. Diese behielt ihren Sitz weiterhin in Garowe, da die Clan-Rivalitäten in dem wirtschaftlichen Zentrum Bossaso zu stark gewesen wären.
Bossaso erlebte nach der Schließung des Hafens von Mogadischu einen regelrechten Handelsboom. Seine Bevölkerung ist seit Kriegsende von 20 000 auf 200 000 angewachsen. Die um ihre neue Prosperität bangende Stadt konnte sich mit einem Präsidenten aus dem Mudug – einer ländlichen, als primitiv geltenden Zone – nur unter der Bedingung abfinden, dass man ihr innerhalb der Region eine gewisse Autonomie beließ.
Im Gegensatz zu Somaliland verzichtete die neue Administration von „Puntland“2 darauf, sich formal als unabhängig zu erklären. Man wollte sich die Zukunft nicht verbauen, aber zugleich befolgte man damit ein taktisch-politisches Kalkül von Oberst Abdullahi, der im Gegensatz zu Präsident Egal eine Rolle im Schattentheater der „Wiedervereinigungs“-Manöver anstrebte. Solche Manöver dauerten unvermindert an, wobei die Arabische Liga, Ägypten, Italien und (etwas diskreter) die UNO als Drahtzieher agierten.
Die Regierung der Clans
DIE Vorstellungen über eine „Wiedervereinigung“ waren einfach, um nicht zu sagen einfältig: Früher gab es einmal einen somalischen Staat, der existiert nicht mehr, also muss man ihn wiederherstellen. Die Frage nach den Ursachen seines Verschwindens wurde erst gar nicht gestellt. Doch gerade die Weigerung, über diese Frage nachzudenken, war der entscheidende Grund, warum die UNO mit ihrer Intervention zwischen Dezember 1992 und März 1995 gescheitert ist.
Ein Staat als über den Clans stehende Autorität – allein schon diese Vorstellung ist der somalischen Kultur völlig fremd. Mit dem Problem hatte man sich nie auseinander gesetzt: Zuerst war es im pseudodemokratischen Chaos der Sechzigerjahre untergegangen, und nach 1969 wurde es von der gnadenlose Diktatur eines Mannes, der Benito Mussolini immer noch als seinen „ehemaligen Oberbefehlshaber“ bezeichnete, schlicht und einfach negiert.
Ein „Staat“ im westlichen Sinne unterscheidet sich von den regionalen Verwaltungen, wie sie in Somaliland und Puntland bestehen, in mannigfacher Hinsicht. Zum Beispiel was die Entstehungsbedingungen betrifft. Die somalischen Quasi-Staaten begreifen sich nicht etwa als über den Clans stehende Gebilde, im Gegenteil. Sie entstehen unter der Ägide einer bestimmten Familie von Clans (den Issak in Somaliland, den Majerteen in Puntland) und achten innerhalb der Verwaltung darauf, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Zweigen der Subclans zu wahren.
Der Clan, das Magnetfeld des somalischen Lebens, wird nicht mehr negiert und auch nicht mehr auf so üble Weise manipuliert, wie es unter Siad Barre der Fall gewesen ist (auch wenn man es damals nicht offen zu sagen wagte). Er wird als Realität anerkannt, mit all seinen Vorzügen (wie Solidarität) und Gefahren (wie der Vervielfachung durch Spaltung), aber auf jeden Fall als unumgängliche Realität. Deshalb zieht man es vor, ihn zu nutzen, statt ihn auf voluntaristische Weise „überwinden“ zu wollen.
Zum anderen verstehen sich die neuen Verwaltungen selbst als „Minimalorganismen“, das heißt, sie wollen mit sehr wenig Geld und einem äußerst reduzierten Beamtenapparat auskommen, indem sie Leistungen und Aufgaben, die man von einem „Staat“ in einer solchen Situation logischerweise nicht erwarten kann, lieber der Privatinitiative überlassen. So sind etwa Stromversorgung und Telekommunikation vollständig in privater Hand, es werden kaum Steuern erhoben, und das Gewicht der Armee soll wenn möglich weiter verringert werden.
Auch das „Staatsgebiet“ ist nach dem Clansystem organisiert, um Übergriffe wie in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu verhindern, als bestimmte Hawiya-Subclans die Ländereien ihrer Nachbarn brutal überfielen. Und wenn es auf Territorien, die mehrheitlich von einer großen Clanfamilie bewohnt werden, „Enklaven“ kleinerer Clans gibt, wie etwa die der Gaddabursi in Somaliland, genießen diese gewisse Vorrechte als Kompensation dafür, dass man ihnen kein autonomes Unterterritorium zuweisen kann.
Allerdings gibt es auch Ausnahmen von dieser Regelung: So wurde den Clans der Dolbahante, die im Sanaag – einem Grenzgebiet zwischen Somaliland und Puntland – leben und weder Issak noch Majerteen sind, im Laufe der Zeit ein Art „Sonderstatus“ zwischen beiden Verwaltungen eingeräumt. Zeitweilig hatte man befürchtet, diese Clans könnten die Kontrolle des Grenzgebiets für ihre eigenen Interessen nutzen.
Dass dieses Vorgehen angemessen und richtig ist, lässt sich auch anhand des Negativbeispiels Benadir belegen. Anfang 1998 gab es hier den Versuch, eine Pseudo-„Regionaladministration“ zu installieren. In Wirklichkeit war dieses Gebilde das Ergebnis eines Abkommens, das mehrere Kriegsherren in Kairo unterzeichnet hatten, und zwar genau nach dem UNO-Modell der Jahre 1993/94. Ohne irgendeinen shir, ohne Diskussionen mit den Clanältesten, ohne Befragung der Bevölkerung und ohne die territorialen Grenzen der Clans zu respektieren, versuchten die beiden einstigen Rivalen Hussein Aidid und Ali Mahdi – beide von schwindendem Einfluss –, ihren eigenen Quasi-Staat zu schaffen, den sie eines Tages sogar auf das Gesamtgebiet des ehemaligen Somalia auszudehnen hofften.
Trotz der Unterstützung der Regierungen Ägyptens und Italiens, die sich immer noch für eine illusionäre „Wiederherstellung des somalischen Staates“ einsetzten, war der Plan bereits vor Jahresfrist gescheitert. Tatsächlich blieb es ein Projekt „von oben“, dessen Initiatoren als ehemalige Kriegsherren zu bekannt waren, als dass sie bei der Bevölkerung noch Kredit besessen hätten.
Aus Enttäuschung über seinen Misserfolg übernahm Hussein Aidid eine Söldnerrolle im Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea: Er stellte den Streitkräften Asmaras bereitwillig einen Brückenkopf zur Verfügung, von dem aus sie einen Angriff auf den Westen Äthiopiens unternehmen konnten. Anfang 1999 verlegte die eritreische Armee ein starkes Kontingent von Oromo-Kämpfern, die gegen die Äthiopier im Ogaden und im Bale marschierten, in den Benadir. Im Gegenzug erhoffte sich Hussein Aidid, Eritrea würde ihn bei der Behauptung oder gar Ausdehnung seiner Machtstellung im Süden Somalias unterstützen.
Doch die Rechnung ging nicht auf: Die äthiopische Armee griff ein und besiegte die Leute von Hussein Aidid mit Hilfe somalischer Reservetruppen des Digil- und Rahanwein-Clans. Im Grunde wäre das nur eine Episode in den zahllosen Konflikten zwischen den Kriegsherren Südsomalias geblieben. Doch nachdem die Digil und Rahanwein im September und Oktober 1999 ihr eigenes Clangebiet befreit hatten, beschlossen sie, dem Beispiel Somalilands und Puntlands zu folgen: Sie riefen einen großen shir in Hoddur zusammen und proklamierten ihre eigene lokale Administration in den beiden ehemaligen Provinzen Bay und Bakol.
Macht man sich einmal von den klischeehaften Bildern frei, die nach wie vor die Berichterstattung über Somalia bestimmen – die nur von Gewalt und Anarchie künden –, so haben wir es heute endlich mit einem Territorium zu tun, auf dem zu zwei Dritteln Frieden herrscht und das wirtschaftlich gesehen praktisch ohne jede Hilfe von außen funktioniert. Im letzten Drittel – der Zone um Mogadischu, die sich im Süden bis Kenia erstreckt – ist der Einfluss der Kriegsherren noch ungebrochen. Hier herrschen in der Tat noch immer anarchische Verhältnisse: Hier befinden sich bestimmte Gebiete im Besitz ganz unterschiedlicher Clans, eindeutige Territorien lassen sich nur sehr schwer abgrenzen, fremde Clans konnten sich – begünstigt durch die Wirren der Kriegsjahre – gewaltsam ausbreiten.
Vor dem Hintergrund des anhaltenden blutigen Chaos im Süden startete Dschibuti im September 1999 eine Friedensinitiative, die auch von der Interregierungsbehörde für Entwicklung (IGAD)3 unterstützt wird und die erneut versuchen will, das Phantom eines somalischen Staates wieder zu beleben.
Die Initiative mag die besten Absichten verfolgen, sie ist gleichwohl falsch und potentiell verhängnisvoll. Dass die Somalis selbst verschiedene regionale Administrationen ins Leben gerufen haben, ist ein Erfolg, den man nicht gefährden darf. Noch ist die Zeit nicht gekommen, einen vereinten somalischen Staat wiederherzustellen. Und überhaupt ist es Sache der Somalis, darüber zu befinden.
Der Versuch, sie nach unseren Normen zu ihrem Glück zu zwingen, hat bisher stets zu mehr Blutvergießen geführt und die unheilvolle Herrschaft der Kriegsherren nur unnötig verlängert. Somalia hat zwar ziemlich langsame Fortschritte gemacht, aber dafür sind sie selbst bestimmt und vermutlich solide fundiert. Im März 2000 hat das Parlament von Somaliland einen Antrag verabschiedet, wonach jeder, der sich der „Friedensinitiative“ der IGAD anschließt, als „Verräter und Feind der Nation“ betrachtet wird. Zum Glück sieht es ganz so aus, als sei dieses ungeschickte Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Damit aber wäre der Weg frei für eine notwendige Wirtschaftshilfe zugunsten jener kleinen Verwaltungseinheiten, die sich nach und nach herausgebildet haben und denen es in den kommenden Monaten und Jahren gelingen dürfte, ihre administrative Funktionsfähigkeit zu stärken.
dt. Matthias Wolf
* Forscher am Centre national de la recherche scientifique, CNRS