Jetzt sind Mut und Einfallsreichtum gefragt
Von SANOU M‘BAYE *
Wider alle Erwartung sind in Senegal die beiden Durchgänge der Präsidentschaftswahl ohne Zwischenfälle verlaufen, und so kam es in den letzten Wochen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes seit der Unabhängigkeit zu einem Machtwechsel: Abdoulaye Wade hat Abdou Diouf abgelöst. Dabei wird das Land von schlimmen Krisen geschüttelt: Die seit 1960 herrschende sozialistische Partei (der PS), deren Führer zum Teil mehr die persönliche Bereicherung als das Allgemeinwohl im Auge hatten, und eine internationale „Hilfe“, die eher auf Abhängigkeit als auf Entwicklung abzielte, haben eine regelrechte Auflösung der Gesellschaft bewirkt.
Die vom PS durchgepaukte Verfassungsänderung, die ihrem Chef Abdou Diouf unbegrenzte Mandatsverlängerungen ermöglichte, und die Gefahr von Unregelmäßigkeiten, wie sie der Opposition zufolge bei früheren Wahlgängen vorkamen, ließen das Schlimmste befürchten.1 Manipulationen und Verfälschungen der demokratischen Mechanismen hätten bei den Massen, für die der Wechsel gleichbedeutend mit Hoffnung war, unberechenbare Reaktionen ausgelöst. Vor dieser Hauptsorge traten grundsätzliche Fragen in den Hintergrund, alles drehte sich nur noch darum, wie zuverlässig die Maßnahmen waren, die einen fairen Wahlgang sichern sollten.
Um die Tragweite des Wahlsiegs von Abdoulaye Wade zu beurteilen, muss man sich die Ergebnisse des ersten Wahlgangs ansehen, bei dem der damals amtierende Präsident 41,33 Prozent erhielt, die Oppositionskoalition jedoch nur 30,97 Prozent.2 Anders gesagt: Dass Abdou Diouf sich einer Stichwahl gegen Abdoulaye Wade stellen musste, hatte er vor allem der Uneinigkeit seiner eigenen Partei zu verdanken – die beiden PS-Abweichler Moustapha Niasse (16,76 Prozent) und Djibo Ka (7,09 Prozent) entzogen ihm zusammen fast ein Viertel der Stimmen. Im Übrigen zeigt die Wahl klar, dass die Bevölkerung einerseits Diouf weg haben wollte, andererseits aber auch nicht ganz überzeugt ist von Wades Koalition, deren Glaubwürdigkeit darunter leidet, dass drei ihrer Mitglieder mit dem alten Regime kollaborierten. Deutlich wird auch die Desillusion gegenüber den Marabut-Dynastien, die sich für ihren Geldgeber Abdou Diouf ausgesprochen hatten. Die Niederlage des Präsidenten fällt auf sie zurück.
Konsequenterweise müsste nun Abdoulaye Wade die vom PS dominierte Nationalversammlung auflösen. Eine baldige Neuwahl des Parlaments böte die Gelegenheit, über die Probleme des Landes und entsprechende Lösungsmöglichkeiten zu debattieren. Dies könnte für Senegal eine Übergangsphase einleiten. Dass der neue Präsident Moustapha Niasse zum Ministerpräsidenten bestellt hat, lässt hoffen, denn dieser einflussreiche Mann genießt den Respekt aller politischen Lager3 . Eine Exekutive à la française, gebildet aus einem liberalen Präsidenten und einem sozialistischen Ministerpräsidenten, stellt die politische Konstellation dar, mit der sich die Mehrheit der Senegalesen identifizieren könnte.
Die Bevölkerung hat sich deutlich für den Wechsel ausgesprochen. Nun gilt es, die Bilanz der fast zwanzigjährigen Diouf-Ära zu „bereinigen“. Ein Jahr nach seinem Regierungsantritt (1981) hatte er als Antwort auf den Staatsstreich von Kukoï Samba Sagna ein „Senegambia“ improvisiert und die senegalesische Armee in Gambia einmarschieren lassen, um Dawda Jawara wieder an die Macht zu bringen. Dieser verschob allerdings die geplante Vereinigung der beiden Staaten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, nachdem er wieder fest im Sattel saß. Die Erinnerung an die Toten ist immer noch wach. Schmerzhaft in Erinnerung bleiben auch die Massaker, die 1989 in Mauretanien an Senegalesen verübt wurden. Die Senegalesen antworteten mit Repressalien gegenüber den im Lande lebenden Mauretaniern. Der Konflikt ist bis heute ungelöst.
Eine weitere offene Wunde ist der Bürgerkrieg in der Provinz Casamance4 , in den auch das angrenzende Guinea-Bissau hineingezogen wird. Die senegalesische Wirtschaft war zu lange abhängig vom Erdnussanbau, der die Ackerflächen auslaugt. Auf der Suche nach neuen, nährstoffreicheren Böden wanderten die Wolof-Bauern in die fruchtbare Casamance aus, wo sie den Rhythmus der traditionellen Anbauweisen durcheinander brachten und schwere politische Probleme und Spannungen verursachten. Die alteingesessene Bevölkerung fühlt sich ungerecht behandelt.
Der privatwirtschaftliche Sektor befindet sich praktisch ganz in der Hand französischer Firmen (Bolloré, Bouygues, Mimran, France Télécom u.a.). Einige von ihnen nutzten die Abwertung des CFA-Franc um 50 Prozent im Januar 1994, um sich für wenig Geld öffentlichen Besitz in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen anzueignen (Wasser, Telekommunikation, Hotellerie). Der Zucker-Monopolist Mimran, der den Zuckeranbau und Zuckerhandel landesweit kontrolliert, erhielt zusätzlich die örtliche Niederlassung der ehemaligen westafrikanischen Bank BIAO (Banque internationale pour l'Afrique occidentale) angeboten. Diese Bank hätte man auch so sanieren können, dass man die Sparguthaben im Lande mobilisiert und im Ausland befindliches Kapital von Landsleuten angelockt hätte.
Entschädigung statt Schuldenerlass
ZUSÄTZLICH zum Verlust ihres Besitzes mussten die Opfer der Abwertung eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten hinnehmen. Die schon vorher abschreckenden Darlehenszinsen kletterten in Schwindel erregende Höhen, um dem Preisanstieg entgegenzuwirken, der bei Lebensmitteln und Importwaren um die 60 Prozent lag. Die mit Spekulationsgeldern überschwemmten Niederlassungen der französischen Banken dachten nicht etwa daran, Arbeitskräfte einzustellen. Sie finanzierten lieber mit kurzfristigen Krediten den Import von Verbrauchsgütern.
Seit den Ländern nach der Unabhängigkeit der CFA-Franc als Einheitswährung aufgezwungen wurde, obwohl sie gar nicht mehr in das von Frankreich begründete gemeinsame Marktbündnis eingebunden waren, sitzen die betroffenen Länder in einer tödlichen Falle. Durch den massiven Kapitalabfluss ins ehemalige Mutterland blutet ihre Wirtschaft völlig aus, und die Handelsbeziehungen zwischen den einstigen Kolonien verkümmern.
Die zwischen Frankreich und den Ländern der Franc-Zone ausgehandelten Verträge, mit denen die Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion (Ecomac) sowie die Zentralafrikanische Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft (Cemac) begründet wurden, sind lediglich ein Notbehelf.5 Eine Wirtschaftsunion mit einer Währungsunion zu beginnen ist das Verkehrteste, was man tun kann. Die fehlende Konvertierbarkeit der CFA-Währungen der beiden Wirtschaftsräume beweist dies überdeutlich. Unter den gegebenen Verhältnissen ist nicht auszuschließen, dass die Entwicklung von Parallelmärkten zu immer neuen Abwertungen des CFA-Franc und irgendwann zu seiner Auflösung führt.
Für die wirtschaftliche Entwicklung ist dieses Klima der Unsicherheit alles andere als günstig, dafür gedeihen Schattenwirtschaft und Spekulation um so prächtiger. Ein wahrer Albtraum ist auch die Verschuldung. Schon 1994 betrug sie 3 678 Milliarden Dollar und entsprach 272,7 Prozent der Exporte und 99,1 Prozent des Bruttosozialprodukts.6 Die Fischgründe des Landes wurden an die Mitgliedsländer der EU verschachert, die sie ausplünderten, was die Bevölkerung noch mehr verelenden ließ.7 Hinzu kommt der Skandal einer zum Regierungssystem erhobenen Korruption.
Wird die neue Regierungsmannschaft genug Mut und Einfallsreichtum aufbringen, um diese verfahrene, die Gesellschaft völlig lähmende Situation anzugehen? Für die Problembereiche Casamance, Gambia und Guinea-Bissau gilt gleichermaßen: Die Unsummen, die dieser lange, kostspielige Krieg verschlingt, könnten dazu genutzt werden, die in der Casamance begangenen Ungerechtigkeiten wieder gutzumachen. Zusätzlich könnte der Regierungssitz nach Ziguinchor (Casamance) verlegt werden, wobei Dakar wirtschaftlich die Hauptstadt bliebe. Dies hätte außerdem den Vorteil, dass große Bauvorhaben eine Dynamik der Entwicklung und der wirtschaftlichen Integration erzeugen. Man könnte eine Brücke über den Gambia-Fluss, Straßen, eine Universität bauen ... Dieselbe Strategie der Nachfrage-Ankurbelung keynesianischen Typs könnte auch in den übrigen Landesteilen angewandt werden, indem die Pläne für den Cayor-Kanal, die Urwelt-Täler, die „grünen Lungen“ usw. reaktiviert werden.
Was die Privatisierungen betrifft, auf die eher der Begriff Liquidation zuträfe, müsste der Staat mit entsprechenden Gesetzen für die Kapitalaufstockung der betroffenen Unternehmen sorgen. Nur Inlands- oder Auslands-Senegalesen sollten als Anteilseigner zeichnen dürfen. Eine solche Maßnahme würde einen Teil des ins Ausland transferierten Kapitals zurückfließen lassen und den Landsleuten eine gewisse Kontrolle der fraglichen Gesellschaften verschaffen. Und von der Westafrikanischen Zentralbank (BCEAO)8 müsste verlangt werden, dass sie die Handelsbanken durch Direktiven dazu verpflichtet, den kleinen und mittleren Unternehmen mittel- und langfristige Kredite zu gewähren.
Senegal hat sich den Programmen zur Liberalisierung der Wirtschaft gebeugt.9 Da die Länder des Westens sich nicht an die Vereinbarungen von 1993 zur Öffnung ihrer Märkte für afrikanische Exporte gehalten haben, müsste Senegal gemeinsam mit den anderen Ländern des Kontinents bei der Welthandelsorganisation WTO ein Moratorium aushandeln, das den afrikanischen Markt vor jenen Importen schützt, die seine landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion und die Ansätze eigener Industrialisierung zerstören. Vorrangiges Ziel einer energischen Politik und aktiven Diplomatie müssten die wirtschaftliche Integration der Subregion und die Belebung des Handels innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) sein.10
Heutzutage spricht man vielfach vornehm von Schuldenerlass, womit Afrika wieder einmal in der Rolle des Bittstellers ist. Man vergisst dabei, dass Schwarzafrika, da es keinen Zugang zu den Kapitalmärkten hat, wie ein Subunternehmer seine Entwicklung an die Institutionen von Bretton Woods ankoppeln musste. Dies wurde nicht honoriert. Bewertungsberichte über die von den multinationalen Banken finanzierten Projekte bestätigen es. Die meisten dieser Projekte erfüllten ihre Zielsetzung nicht. Kredite beruhen auf einer Geldtransaktion zwischen zwei oder mehreren Parteien. Wenn diese Transaktion einer der Parteien zum Nachteil gereicht, kann und soll die geschädigte Partei ein Schiedsgericht anrufen, um Schadenersatz zu erhalten. Senegal ist es sich schuldig, sich zum Anwalt und Protagonisten eines solchen Vorstoßes zu machen, um eine Lösung für das Schuldenproblem zu finden.
Und was ist eigentlich mit der Entschädigung, die der schwarzen Bevölkerung wegen der Sklaverei zusteht? Portugal, Spanien, Frankreich, Holland, England, die USA und Dänemark haben von der Zwangsarbeit der Schwarzen profitiert, und Unternehmen wie Lloyds, NatWest usw. haben dabei riesige Gewinne erzielt. Senegal ist es sich schuldig, an vorderster Stelle den juristischen Entschädigungskampf zu führen, damit die Kinder Afrikas in derselben Weise entschädigt werden wie die Kinder Israels. Mit den einzutreibenden Summen könnte ein panafrikanischer Entwicklungsfonds gegründet werden, dessen vordringliches Ziel darin bestünde, die Armut der schwarzen Gemeinschaft in der Welt auszurotten.11
Das zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Senegal 1997 vereinbarte Fischerei-Abkommen muss neu ausgehandelt werden. Es bedarf einer Schonzeit, damit sich die Fischbestände wieder regenerieren können. Fangquoten, zu fischende Arten, Kontrollmaßnahmen und die Menge der in Senegal selbst zu verarbeitenden Fänge müssen neu ausgehandelt werden.
Auch die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu Frankreich müssen einer Revision unterzogen werden. Es ist im Prinzip sinnvoll, dass ein Land seine Währung an die seines wichtigsten Handelspartners koppelt, doch die Konstruktion des CFA-Franc widerspricht den Interessen der ehemaligen französischen Kolonien in Afrika. Differenzierte Umtauschkurse müssen die Regel sein. Die Einbehaltung von 65 Prozent der Wechselkursreserven auf Konten der französischen Zentralbank ist ungerechtfertigt. Die Kapitalflucht muss eingedämmt werden. Die französischen Investitionen im Lande müssen den Interessen beider Seiten dienen, und nicht nur den französischen. Im militärischen Bereich muss Frankreich eine Pacht für die Militärbasis in Dakar bezahlen. Die strategische Bedeutung der Basis rechtfertigt dies. Wenn Paris nicht bereit ist, diese Notwendigkeit anzuerkennen, muss Senegal mit anderen Militärmächten der Welt verhandeln, um deren Angebote zu prüfen, und sich danach für das entscheiden, was im Interesse des Landes ist.
Was die Außenpolitik betrifft, so muss Senegal die geschlossenen Botschaften in Südafrika, Brasilien und Moskau wieder öffnen und die zugunsten von Taiwan vernachlässigten Beziehungen zu China reaktivieren.
Das senegalesische Volk ist von Natur aus unternehmerisch, kreativ, innovativ, risikofreudig und geschäftstüchtig. Es sind genau die Eigenschaften, die im Zeitalter der Globalisierung den Nationen zum Wohlstand verhelfen. Doch die Sitten, Machenschaften und Praktiken der vergangenen dreißig Jahre haben diese Qualitäten verdorben. Nötig ist nun ein radikaler Wandel der Politik und der Mentalitäten, damit Senegal der Gefahr der Implosion entgeht und sich regenerieren kann.
dt. Josef Winiger
* Wirtschaftswissenschaftler, London.