Luftspiegelung über dem Wüstenstaat
Von ALAIN GRESH
Jeden Tag frisst sich Riad ein kleines Stück weiter in die Wüste hinein. Breite Hauptstraßen, fast schon Autobahnen, gehen in alle Richtungen. „Vor fünf Jahren war hier noch gar nichts“, erzählen die Bewohner eines ultramodernen Wohnviertels mit gewaltigen Einkaufszentren, Luxusboutiquen, McDonald’s-Filialen und einem Cybercafé. Innerhalb weniger Jahrzehnte sind die Bodenpreise bis auf das Vierzigfache gestiegen. Mehrgeschossige Wohngebäude gibt es kaum, wer es sich leisten kann, und das sind nicht wenige, zieht es vor, in einer geräumigen Villa zu leben. So einfach gibt man die Beduinentradition nicht auf. Nur die Minarette der Moscheen streben in den Himmel. Kein Standbild eines „unsterblichen Führers“ oder „großen Erretters“ stört die Symmetrie der Straßenkreuzungen. Gott allein gebührt hier die Ehre.
Tagtäglich lassen sich weitere tausend Menschen in der Hauptstadt nieder. Bis 2007 wird die Einwohnerzahl von heute vier auf sechs Millionen gestiegen sein. 1970 lebte ein Viertel der Saudis in den Städten, im Jahr 2000 sind es 85 Prozent. Die Urbanisierung hat innerhalb von zwei Generationen das Gesicht der Arabischen Halbinsel verändert und die Nomaden des weiten Landes, die Lawrence von Arabien so faszinierten, sesshaft gemacht. Doch das „Königreich der Wüste“ lebt nicht nur in der Erinnerung westlicher Abenteurer, sondern auch in der Nostalgie der neuen Städter, die sich – für ein Wochenende am Steuer ihrer Edeljeeps – von der gewaltigen Leere der Wüste angezogen fühlen.
Allmorgendlich wälzt sich ein Strom PS-starker Fahrzeuge durch Riad. Der amerikanische Traum vom Automobil ist japanisch gefärbt, Toyota statt Ford. Fußgänger gelten nichts, eine Hauptstraße zu überqueren ist ein kühnes Wagnis, öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum, wer sie benutzt, braucht viel Geduld. Die Stadt hat Heerscharen von Stadtplanern hervorgebracht, mit lauter Klischees aus Amerika im Kopf und vom Öl berauscht. Dar'iya, die erste Hauptstadt des saudischen Herrscherhauses, die 1819 von den Truppen des ägyptischen Regenten Mehmed Ali zerstört wurde, ist bis heute ein Trümmerfeld. Die alten Viertel sind abgerissen – wozu Vergangenheit angesichts einer glänzenden Zukunft? Zu Beginn der Achtzigerjahre glaubte man, nach den Sternen greifen zu können: Der erste saudische Astronaut flog ins All, die Wüste wurde zum Garten, man exportierte Getreide.
Doch die Fassade des Überflusses zeigt erste Risse. Das gigantische nagelneue Krankenhaus steht leer, für den Betrieb fehlt das Geld. Nachts sieht man, wie sehr junge Bettler die Autofahrer um Geld angehen. Armut ist längst nicht mehr für die Einwanderer reserviert. Ab und zu gibt es kein Wasser, in den brüllend heißen Sommern bricht an vielen Orten die Stromversorgung zusammen.
Natürlich ist das Land noch immer reich. Von den Einnahmen des weltweit größten Erdölexporteurs konnten – und können – die meisten Länder des Südens nur träumen. Doch das Barrel Rohöl, das (zum Dollarkurs von 1995) 1974 noch 26 und 1984 44,5 Dollar einbrachte, war 1998 nur noch 14,5 und 1999 17 Dollar wert. Ein ehemaliger Finanzminister meint dazu: „Angesichts der Preisschwankungen sind Planungen über mehr als zwei oder drei Jahre nicht möglich.“ Seit dem (islamischen) Haushaltsjahr 1983/1984 ist der saudische Staatshaushalt defizitär, das Defizit stieg 1986 auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2000 wird es bei 4 Prozent liegen. 1981 lag das nationale Bruttoeinkommen pro Kopf noch bei 16 500 Dollar, heute ist es auf 6 000 Dollar gefallen. Die Infrastruktur bedarf der Erneuerung, doch der staatliche Sektor (der Erdölförderung, Stromerzeugung und Industrie ebenso dominiert wie das Bildungs- und Gesundheitswesen) leidet wie die Privatwirtschaft schwer unter der Schuldenlast: 1998 erreichte die Inlandsverschuldung die Rekordmarke von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Das alles ist seit langem bekannt und wird inzwischen offen diskutiert. Selbst die staatlichen Stellen leugnen nicht, dass die goldenen Zeiten des Überflusses – ayyam al-tafrah – unwiederbringlich vorüber sind, auch wenn sich der Rohölpreis wieder erholt hat. Der 77-jährige Kronprinz Abdallah, seit dem Rückzug des schwer kranken Königs Fahd der starke Mann des Königshauses, ist in diesen Fragen voll engagiert: „Die Globalisierung mit all ihren Wirkungen für Wissenschaft und Technik steht bei uns ganz oben. Wir müssen uns intensiv um die Modernisierung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems bemühen.“ Aber: „Wir sind eine konservative Gesellschaft, diesen Wesenszug dürfen wir nicht aufgeben.“ – „Von Reform spricht man hier nicht“, meint ein westlicher Diplomat. „Dieser Begriff ist zu stark religiös gefärbt. Hier spricht man nur von Umstrukturierung.“1
September 1998: Mit seinem Besuch in den Vereinigten Staaten bekräftigt der Kronprinz seine Rolle für die internationalen Beziehungen Saudi-Arabiens, die er schon durch seine Politik der Annäherung an den Iran verdeutlicht hat. In Washington steht auch ein Abendessen mit führenden Vertretern von sieben Erdölgesellschaften an, darunter die vier ehemaligen Anteilseigner (Chevron, Mobil, Exxon und Texaco)2 der Aramco, die in den Achtzigerjahren „saudisiert“ wurde. Danach kursiert das Gerücht, Riad wolle seine Erdölbranche für ausländische Investitionen öffnen, und zwar auch im Bereich der Prospektion und Förderung (im Unterschied zu Weiterverarbeitung, Abtransport, Verschiffung, Raffinerie).3 Die Ölgesellschaften sollen Ideen und Vorschläge einbringen.
Eine Sensation: die Aramco will ihr Monopol aufgeben! Große Begehrlichkeiten werden geweckt, schließlich besitzt Saudi-Arabien Erdöl im Überfluss, ein Viertel der Weltreserven, zu extrem niedrigen Förderkosten. Aber der Kronprinz machte keine verbindliche Zusage, er erklärte sich nur bereit, alle vorzulegenden Projektvorschläge zu prüfen.
In Saudi-Arabien beginnt eine Debatte – wie üblich hinter den Kulissen – zwischen Befürwortern und Gegnern einer Öffnung. Innerhalb des Aramco-Managements ist kaum jemand bereit, sich mit weniger Einfluss zu bescheiden. Nach einem Jahr heftiger Konflikte gründen die Machthaber am 4. Januar 2000 den Obersten Rat für Erdöl- und Bergbaufragen, dem die einflussreichsten Prinzen, aber auch Minister und Technokraten angehören. Damit sind alle Bereiche des Staates in die heikle Entscheidungsfindung einbezogen – beziehungsweise zu Komplizen geworden.
Einen Monat später beauftragt der König diesen Rat, mit den Erdölgesellschaften über deren Angebote zu verhandeln, und legt zugleich den Verhandlungsrahmen fest: Erschließung und Förderung sollen exklusiv bei Aramco verbleiben4 , bei der Gasförderung und der Weiterverarbeitung von Gas und Öl dagegen will Saudi-Arabien (unter bestimmten Bedingungen) ausländische Investitionen zulassen. Das soll eine erhöhte Produktion von Gas ermöglichen, die derzeit nicht einmal den Inlandsbedarf deckt, und die rückläufigen Investitionen im Raffineriesektor wieder steigern. Anfang März wurde Kronprinz Abdallah deutlicher: „Der Gesamtumfang der vorgelegten Projekte beträgt hundert Milliarden Dollar. Und wir müssen wissen, dass diese Milliarden, wenn sie nicht bei uns angelegt werden, in konkurrierende Projekte fließen.“5
Das Land braucht fremdes Kapital
DAS Land braucht dringend Kapital. Es anzulocken (etwa auch die 450 Milliarden Dollar an saudischen Auslandsguthaben) ist eine vordringliche Aufgabe. „In den nächsten zwanzig Jahren werden wir allein im Elektrizitätssektor 150 Milliarden Dollar brauchen“, heißt es im Industrieministerium. „Auf eigene Mittel können wir nicht zurückgreifen, daher werden wir bei der Stromerzeugung ausländische Investitionen akzeptieren, aber Stromtransport und -lieferung bleiben in staatlicher Hand.“ Im Februar 2000 wurde eine neue Körperschaft, die Saudische Elektrizitätsgesellschaft gegründet. 85 Prozent der Anteile hält der Staat. Nach Auskunft der Behörden soll die Hereinnahme fremden Kapitals folgen. Ganz ähnlich verlief es bei der Telekommunikation, hier steht aber ein Termin für die Privatisierung noch nicht fest.
Als treuer Verbündeter der Vereinigten Staaten und der „freien Welt“ gegen den Kommunismus und die Sowjetunion bekennt sich Saudi-Arabien seit langem zur freien Marktwirtschaft. Nichtsaudische Investitionen unterlagen allerdings immer höchst strengen Regeln. So durften ausländische Staatsangehörige weder Aktien erwerben noch mit Wertpapieren handeln, heute können sich Ausländer aber wenigstens an saudischen Wertpapierfonds beteiligen. Bestimmte „übersättigte“ Branchen sind für ausländisches Kapital nach wie vor gesperrt: Banken, Bauindustrie, Reinigungsdienste, aber auch Werbung, Versorgungsunternehmen und Ölförderung. Auch können im Lande lebende Ausländer kein Grund- oder Immobilieneigentum erwerben.6
Den schwerfälligen Tanker der Reformen auf Kurs zu halten obliegt dem 1999 geschaffenen Obersten Wirtschaftsrat unter Leitung von Kronprinz Abdallah. Die Richtung ist klar: Senkung der Staatsausgaben, Diversifizierung der Wirtschaft, Abbau staatlicher Leistungen. Und alle Jugendlichen sollen eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz erhalten. Am 20. Februar 2000 hat das Gremium zwei Gesetzentwürfe beschlossen. Sie betreffen die Erleichterung ausländischer Investitionen und die Schaffung einer Behörde, die für alle Verhandlungen mit Investoren zuständig sein soll. Zudem erteilte der Wirtschaftsrat dem saudischen Industriefonds die Erlaubnis, Kredite auch an Firmen zu vergeben, die voll in ausländischer Hand sind. Zugleich haben die Verhandlungen mit der Welthandelsorganisation (WTO) die entscheidende Phase erreicht; Riad hofft, im September in diesen Club aufgenommen zu werden. Probleme wie die Liberalisierung der Investitionen, die Senkung der Einfuhrzölle und die Zulassung von Versicherungsgesellschaften sind bislang noch offen.
Ob der eingeschlagene Kurs beibehalten wird, ist jedoch nicht sicher. Die königliche Familie ist keineswegs einer Meinung, der Kronprinz hat das Steuer nicht allein in der Hand. Auch sind zahlreiche Klippen zu umschiffen. Die geplante Reform gefährdet alte Privilegien und deren Inhaber in höchsten Machtpositionen. Den Ölgesellschaften hat der Kronprinz zugesichert, dass „die Verhandlungen ausschließlich zwischen den Gesellschaften und den Vertretern der Regierung zu führen sind. (...) Ich werde jedes Projekt ablehnen, bei dem die Transparenz fehlt.“7 Für ein Land, wo Vermittlungsgeschäfte und Provisionen alltäglich sind, wäre dies eine Revolution. Schon geht das – kaum zu überprüfende – Gerücht, der Kronprinz habe die gezielte Freigiebigkeit von Mitgliedern der königlichen Familie unterbunden.
Doch zu den Voraussetzungen der wirtschaftlichen Reform gehört auch Transparenz, also die Aufgabe einer Tradition der Geheimhaltung, die seit je zu den Prinzipien des Königreichs gehörte. „Niemand weiß, wie viele Menschen keine Arbeit haben. Niemand weiß, wie viele in den nächsten zwei Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Niemand weiß, wie viel Geld im Ausland angelegt ist, oder was die Leute in den Taschen haben oder unter der Matratze – es dürfte die staatlichen Währungsreserven übersteigen. Und es gibt eine ganze Reihe von Bereichen, über die man nicht allzu viel weiß: soziale Absicherung, Wasserversorgung und andere staatliche Leistungen.“ Diese Breitseite schoss ein Leitartikler in Al-Schark al-Ausat, einer wichtigen Zeitung der arabischen Welt, die einem saudischen Prinzen gehört und auch im Königreich große Verbreitung findet. Abschließend heißt es: „Als Erstes müsste man Informationen sammeln. Diese Informationen öffentlich zugänglich zu machen – statt sie zu verstecken wie ein Militärgeheimnis – ist im Interesse der Bürger, der Unternehmen und der Regierungen notwendig.“8
Man könnte hinzufügen: Wer weiß eigentlich etwas über den saudischen Staatshaushalt? Die Militärausgaben bleiben undurchsichtig, zumal im Zusammenhang mit Waffenkäufen satte Provisionen fließen. Und die „Zivilliste“ (die Apanagen, die Mitglieder der königlichen Familie und die Oberhäupter der verbündeten Stämme beziehen) bleibt absolut tabu. Ein Journalist in Riad schätzt sie auf zwei Milliarden Rial9 im Monat – 15 bis 20 Prozent des Haushaltsaufkommens.
Viele Intellektuelle, Geschäftsleute und Angehörige der Mittelschicht glauben, dass der Kronprinz die Reformen wirklich durchziehen und die politischen Folgen tragen will. Andere sind skeptisch.
Dschiddah ist Wirtschaftszentrum und wichtigster Hafen des Königreichs. Seit Jahrhunderten blickt die Stadt aufs Meer, über das jedes Jahr hunderttausende Mekka-Pilger kommen. In Dschiddah sind die Beziehungen zwischen den Stämmen entspannter, die Sitten weniger streng, die Zeitungen freimütiger als in der Hauptstadt. „Abdallah hat sich seine Berater gut ausgesucht“, meint ein Geschäftsmann. „Aber ihre Vorschläge gehen an den wirklichen Problemen vorbei. Es gibt zu viele Interessen gegen den Wandel. Zehntausende Saudis leben davon, als Strohmänner zu fungieren. Auch der private Sektor ist auf den Staat angewiesen, viele Unternehmen würden ohne staatliche Hilfe nicht überleben.“
„Nach jeder Krise wird das Hohe Lied des Wandels gesungen“, meint ein Universitätslehrer. „Aber es ändert sich nichts, die Macht bleibt exklusiv in den Händen der Königsfamilie.“ Manchmal scheinen die bestehenden Strukturen unüberwindlich. „Werden wir dieses Problem lösen können?“, fragt die Tageszeitung Al-Nadua in einem Artikel über den Zugang zum Internet. „Oder machen wir es wie mit allen Problemen – einfach annehmen, dass es sich von selbst regelt?“10 Und der Chefredakteur einer bedeutenden Tageszeitung erklärt: „Wir sind Beduinen. Wir sitzen vor unserem Zelt unter dem Sternenhimmel und denken nach. Und immer kommen unsere Entscheidungen zu spät.“
Ist es schon zu spät? Die Antwort liegt bei der jungen Generation, die deutlich die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Pro Jahr drängen über 200 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt.11 Früher machten sich die meisten keine Sorgen: Wer eine abgeschlossene Ausbildung hatte, fand eine gute Stelle in der Verwaltung oder in einem Staatsbetrieb, die anderen konnten als Strohmänner für ausländische Firmen mit dicken Einnahmen rechnen. Familie und Staat sorgten für das Notwendige, jeder Student bezog etwa 500 Mark im Monat.
Von diesem System sind nur die Stipendien geblieben. Aber wie lange noch? Im öffentlichen Dienst herrscht Einstellungsstopp; das „Sponsoring“ ist nach den Regeln der Welthandelsorganisation nicht erlaubt. Die Arbeitslosigkeit unter der männlichen Bevölkerung soll bei 27 Prozent liegen, die genaue Zahl weiß niemand. Der Wohlstand der Mittelschichten schrumpft, die Preise für Benzin, Wasser und Strom steigen, die Familien können immer weniger für den Unterhalt ihrer Sprösslinge sorgen. In den ländlichen Gebieten herrscht dauerhafte Armut. Die Bevölkerungsexplosion hat die persönlichen und tribalen Beziehungen geschwächt. Wer keine Arbeit hat, wird zwar nach wie vor nicht im Elend leben müssen. Aber auch das könnte sich ändern.
„Wenn wir vor zehn Jahren eine Stellenanzeige aufgegeben haben, bekamen wir gerade eine Antwort, und zwar für eine Direktorenstelle“, meint der Leiter eines Hotels in Dschiddah. „Damals stand die Arbeit nicht so hoch im Kurs. Heute würden wir 500 Bewerbungen bekommen.“ Ein junger Saudi arbeitet an der Rezeption, andere ziehen die weniger öffentliche Tätigkeit in der Küche vor. Manche wandern aus, um sich Peinlichkeiten zu ersparen. Die Manager registrieren die Veränderungen, doch die meisten würden der Feststellung zustimmen: „Ein Einwanderer ist billiger, er macht die Arbeit, die ihm aufgetragen wird, ist pünktlich und bereit, sechs Tage in der Woche zu arbeiten.“
Von den zwanzig Millionen Einwohnern Saudi-Arabiens12 sind fünf Millionen Einwanderer – zwei Drittel aller Arbeitskräfte. Seit einigen Jahren betreibt die Regierung eine „Saudisierung“: Die Unternehmen müssen sich verpflichten, immer mehr inländische Arbeitskräfte einzustellen. Das stieß bei den Unternehmern auf großen Widerstand, weil die Schul- und Berufsausbildung einen sehr schlechten Ruf hat. Ein Geschäftsmann aus Dschiddah (es gibt auch immer mehr Geschäftsfrauen, die zu interviewen für einen Journalisten allerdings schwierig ist) kennt eine originelle Lösung: „Da wir keine Steuern zahlen, haben wir einen Ausbildungsfonds für die jungen Saudis geschaffen. Wir bezahlen hundert jungen Leuten ein Gehalt dafür, dass sie sich bei uns ausbilden lassen.“ Das Prinzip, meint er, sollte im ganzen Land Schule machen. Aber eine Arbeitsmoral zu vermitteln dürfte noch eine Weile dauern. Unternehmen, die nicht so lange warten wollen, drohen bereits, die Produktion ins Ausland zu verlagern, womit zehntausende junge Saudis den Arbeitsplatz verlieren würden.
Istirahah (Ruhepause) heißen die Etablissements in der Umgebung von Riad – eine Mischung aus Café, Restaurant und Club. Am Abend herrscht volles Haus. Zu dritt oder viert sitzen die jungen Männer in abgeteilten Karrees unter freiem Himmel. Sie essen und trinken, aber vor allem sehen sie fern: In jedem Separee ist in zwei Meter Höhe ein Fernseher installiert. Hier werden sie über Satellit mit Bildern aus aller Welt berieselt. Am beliebtesten ist eine libanesische Fernsehstation: Die Stars, die dort tanzen und singen, sind nicht den strengen Kleidervorschriften unterworfen, die im saudischen Fernsehen gelten.
Über die jungen Saudis, die im Geiste strenger islamischer Glaubenstreue erzogen wurden, bricht nun der Ansturm einer globalisierten Moderne herein. Jeder Gebetsruf lässt die Zeit stillstehen: Die Geschäfte lassen die Rolläden herunter, in den Büros ruht die Arbeit, alle Muslime müssen sich in die Moschee begeben. Wie soll diese Erziehung mit dem Fernsehen zusammengehen, wie das Gebet mit dem Handy? Viele fürchten bereits, der WTO-Beitritt Saudi-Arabiens werde zur „kulturellen Überfremdung“ führen. In den Verhandlungen mit den USA ging es auch um Fragen wie die Religionsfreiheit, Frauenrechte oder gar das Kino. Washington fordert, in Saudi-Arabien Kinos zuzulassen – bisher gab es nicht eines. „Dann werden sich die jungen Leute wenigstens nicht langweilen und Drogen nehmen“, meint resigniert ein Regierungsvertreter.
Die Rolle der Frauen ist ein besonders umstrittenes Thema. In keinem anderen muslimischen Land sind die Vorschriften so streng: Sie dürfen weder ein Auto steuern noch alleine reisen, an den meisten öffentlichen Orten herrscht Geschlechtertrennung. Die Frauen bleiben die meiste Zeit unsichtbar – die bedeckte Hälfte des saudischen Himmels. Dennoch gehen inzwischen alle Mädchen in die Schule, die Mehrzahl der 170 000 Studenten des Landes sind tatsächlich Frauen. Es gibt Seminare über Frauenarbeit – immerhin arbeiten bereits 200 000 Frauen, und die Zahl steigt beständig. Während die Wirklichkeit die Fesseln allzu obskurer Traditionen zu sprengen beginnt, ist ein heftiger Kampf zwischen den Erneuerern und konservativen Religionsgelehrten und anderen traditionellen Kreisen entbrannt.
Im Mai 1999 erklärte Kronprinz Abdallah: „Wir werden nicht zulassen, dass die Rolle der saudischen Frau heruntergespielt und ihr der Platz im aktiven Leben des Landes streitig gemacht wird. Niemand soll behaupten dürfen, dass das Königreich die Leistungen unserer Mütter, unserer Schwestern und unserer Töchter zu gering geschätzt hat.“13 Diese Erklärung löste so heftige Debatten aus, dass von offizieller Seite klargestellt wurde, die Sätze seien missverstanden worden: Keineswegs müsse die saudische Frau „befreit“ werden. Auch der Oberste Rat der Religionsgelehrten bekräftigte: Frauen dürfen nicht am Steuer eines Autos sitzen, die Trennung der Geschlechter muss erhalten bleiben, das Tragen des hidschab, des Schleiers, der den Kopf und oft das ganze Gesicht verhüllt, bleibt Pflicht.
Doch der Streit ging weiter. Im November 1999 ließ das Innenministerium verlauten, Frauen könnten demnächst eigene Personalausweise erhalten. Dr. Asisa Al-Man'eh, als Konservative, verwies darauf, dass Frauen schon seit den Anfängen des Islam politisch aktiv gewesen seien.14 Im Februar 2000 gab das große Kulturfestival Dschanadirija, das unter der Schirmherrschaft des Kronprinzen stattfindet, Anlass zu heftigen Vorwürfen und Petitionen, weil die weiblichen Kulturschaffenden angeblich zu viel Raum bekommen hatten. Ein Universitätslehrer sieht das ganz gelassen: „Das sind dieselben Leute, die erst gegen das Telefon, dann gegen das Fernsehen und zuletzt gegen Schulbildung für Mädchen protestiert haben.“
Aber es geht auch um wirtschaftliche Aspekte. „Wenn ich von einem Angestellten erwarte, dass er früh anfängt, aber er hat keinen Chauffeur und seine Frau darf nicht fahren – wie sollen seine Kinder zur Schule kommen?“, fragt ein Unternehmer. Fast 400 000 Arbeitsplätze sind von Immigrantinnen besetzt. Und zehntausende Chauffeure, ebenfalls Immigranten, fahren saudische Frauen durch die Gegend. Kann sich das Land diesen Luxus leisten?
Die islamischen Werte, in der Lesart des Wahhabismus, haben die Gesellschaft geprägt und den Einfluss des Königshauses gefestigt. In der Presse werden antiamerikanische Phrasen gedroschen, das Land bekennt sich zur Unterstützung der Palästinenser und des Widerstands im Südlibanon und zu den syrischen Ansprüchen auf den Golan.15 Offiziell lehnt die saudische Führungsschicht das westliche Modell ab, als Inbegriff des moralischen Verfalls, das auch noch für die bedingungslose Unterstützung Israels steht. Aber ihre Mitglieder sehen westliche Fernsehprogramme, stellen sich auf die Globalisierung ein und träumen von Reisen nach Paris oder New York. Anders als einst der Schah im Iran macht das Herrscherhaus Saud den Versuch, einen Kompromiss zwischen der Modernisierung und der strengen Einhaltung islamischer Werte, zwischen arabisch-muslimischer Solidarität und der lebenswichtigen Allianz mit Washington zu finden.
Dieser schwierige Balanceakt, der für manche an Schizophrenie grenzt, wird immer gefährlicher. Alle spüren, dass eine neue Form von Gleichgewicht gefunden werden muss. Man fürchtet diesen Übergang oder man hofft auf ihn. „Es kann nur einen Wandel zum Besseren geben“, meint der Chefredakteur einer englischsprachigen Tageszeitung. „In den Medien wird bereits viel offener über Themen wie Umweltverschmutzung, Ökologie oder soziale Probleme diskutiert. Viele werden ihre Privilegien verlieren, aber wer sich dieser Bewegung entgegenstemmt, wird untergehen. Ohne politische Reform kann es keine Wirtschaftsreform geben.“
dt. Edgar Peinelt