14.04.2000

Bürger der Globalisierung

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Bürger der Globalisierung

Von JEAN TARDIF *

DIE Vorstellung einer Weltregierung oder eines Direktoriums der Großmächte für eine mono- oder multipolare Welt ist eine müßige Utopie. Stattdessen sollte die internationale Staatengemeinschaft, die ja nicht nur aus den Westmächten bzw. Industrieländern besteht, die große Herausforderung annehmen und sich endlich Formen politischer Gestaltung ausdenken, die der neuen globalen Dimension der anstehenden Aufgaben gerecht werden.

Die Globalisierung macht den öffentlichen Bereich nicht etwa zu einer Welt ohne Souveränitätsrechte, sondern eher zu einem Raum, in dem sauber gezogene Grenzen angesichts supranationaler Aufgaben an Bedeutung verlieren. Das Ergebnis sind Konstellationen geteilter Souveränität oder, genauer gesagt, der Zwang zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Souveränitätsebenen. Anders als noch im internationalen Mächtesystem des Westfälischen Friedens, als die Staaten die einzigen handelnden Subjekte waren, könnten heute die legislativen, judikativen und exekutiven Funktionen der Einzelstaaten auf supranationaler Ebene wahrgenommen werden, für die eine Legitimationsbasis erst noch zu finden ist.

Kernbereich und Motor dieser Dynamik ist der Wandlungsprozess in der Informationsindustrie. Dieser Prozess verändert nicht nur die Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Akteuren, er erweitert das Kampffeld der „geistigen Auseinandersetzung“ um die Kontrolle der kulturellen und gesellschaftlichen Codes in die globale Dimension. Die Fusion von AOL, Time Warner und EMI veranschaulicht sehr gut die Bedeutung der drei Ziele, die für global engagierte Unternehmen das ausmachen, was der Vorstandsvorsitzende von AT & T als „das Gebot der Allgegenwart“ bezeichnet: Zugang zu Kunden in aller Welt, eine angemessene Infrastruktur, Inhalte.

Wie weit muss die Konzentration der Produktionsmittel und des Vertriebs noch voranschreiten, um der Menschheit bewusst zu machen, dass eine ihrer wertvollsten gemeinsamen Errungenschaften existentiell bedroht ist, nämlich das Recht des Individuums auf eine differenzierte kulturelle Identität? Schon vor Jahrzehnten hat der amerikanische Romancier Upton Sinclair vermerkt, dass die Welt dank des Kinofilms immer einförmiger, und das heißt amerikanischer wird. Die Verteidigung kultureller Identitäten gegen all die Kräfte, die den kulturellen Austausch nur in seiner kommerziellen Dimension wahrnehmen, hat seither noch erheblich an Bedeutung gewonnen.

Nach dem Fiasko des Multilateralen Abkommens über Investitionen (MAI) haben die Demonstrationen von Seattle und ihre Vorbereitung das Potential aufgezeigt, das die Kommunikationstechniken für die Entwicklung neuer Formen demokratischer Diskussionen auf globaler Ebene darstellen. Daraus müssen wir unsere Lehren ziehen. Zwar dürfen wir nicht verkennen, dass die ausgesprochen dynamischen Akteure der Bürgerbewegungen ein Legitimationsproblem gegenüber den in der repräsentativen Demokratie verankerten Entscheidungsinstanzen haben. Dennoch sollten wir die Herausbildung einer „weltweiten Zivilgesellschaft“ fördern, indem wir eine Art „Ständiges Forum für Interdependenzprobleme“ installieren. Das dürfte keine Veranstaltung sein, bei der sich Diplomaten und Experten hinter verschlossenen Türen treffen. Eine solche informelle Konferenz sollte vielmehr die Möglichkeiten des Internets nutzen, um Debatten anzuregen und zu kanalisieren und dabei systematisch auf eine Agenda für die weiteren Treffen hinzuarbeiten. In diesem Rahmen könnten die Regierungen im Voraus ihre Positionen darlegen und damit die Möglichkeit eröffnen, den Ablauf formeller Verhandlungen und informeller Begegnungen – etwa des Wirtschaftsforums von Davos oder eines G-7-Gipfels – besser zu verfolgen.

In einer solchen Konstellation wär es „eine der zentralen Aufgaben des Nationalstaates, die supranationalen und subnationalen Regierungsinstanzen zu legitimieren und zu überwachen – die ja dem Nationalstaat rechenschaftspflichtig sind“ (Patrick Hirst). Denn in letzter Instanz bezieht ein Nationalstaat seine Daseinsberechtigung aus der Fähigkeit, den Platz seines Landes in der Welt zu behaupten. Und zwar dadurch, dass er sich zusammen mit anderen Staaten und Akteuren an der Gestaltung und Verwaltung der Netze gegenseitiger Abhängigkeiten beteiligt.

Diese unveräußerliche Verantwortung gilt zweifellos noch stärker für kleine Länder, für die sie die eigentliche Legitimation ihrer Souveränität darstellt. Neben der bestehenden internationalen Ordnung – vor allem in Gestalt der Vereinten Nationen, die weiterhin eine gewisse, wenngleich veränderte Rolle spielen werden – sind in Zukunft ganz neue Formeln denkbar, die sich an einer variablen Geometrie orientieren. In solchen neuen Konstellationen könnten sich öffentliche Akteure und Privatpersonen zu Projekten von allgemeinem Interesse gruppieren, um als verantwortungsbewusste Staatsbürger in einem anerkannten, aber offenen und entwicklungsfähigen Rahmen im Sinne geteilter Verantwortung zusammenzuwirken.

Solche von Fall zu Fall vereinbarten Zusammenschlüsse ermöglichen eine flexible Antwort auf die Unterschiedlichkeit und Besonderheit der anstehenden Aufgaben. So könnte neben dem bestehenden System, das in den letzten vierzig Jahren für die Regelung des Austauschs von Waren und Dienstleistungen entstanden ist (unter Federführung einer WTO, deren Funktionsweise offensichtlich reformbedürftig ist), ein gesondertes Regelwerk treten, das sich auf die spezifischen Bedingungen des kulturellen Austauschs bezieht. Es müsste die multifunktionelle Bedeutung der Kultur, aber auch die Prinzipien von Vorsorge, Vielfalt und Gegenseitigkeit in Rechnung stellen. Auch für Fragen der Menschenrechte, Bioethik, Umwelt usw. müssten die entsprechenden Institutionen geschaffen werden.

Man könnte auch die von Jacques Delors stammende Idee eines weltweiten Sicherheitsrats für Wirtschaftsfragen aufgreifen und zu dem Vorschlag weiterentwickeln, einen weltweiten kulturellen Sicherheitsrat oder Weltkulturrat zu schaffen. Beide Institutionen wären kein Abklatsch des UN-Sicherheitsrates, sondern ein Diskussions- und Ideenforum, auf dem sich private und öffentliche Akteure austauschen und das hauptsächlich auf virtueller Ebene oder unter Umständen mit Unterstützung von Regionalräten funktioniert. In diesem Rahmen könnte ein Vertragswerk zur Absicherung der Vielfalt des kulturellen Austauschs ausgehandelt werden. Nichts spricht dagegen, die Detailbestimmungen dann von eher formalisierten Organen ausarbeiten zu lassen.

An der Spitze dieser Beratungsgremien würden – analog zum oben beschriebenen „Ständigen Forum für Interdependenzprobleme“, dem sie anfangs angegliedert werden könnten – anerkannte Persönlichkeiten stehen, ihre Beratungen sollten jeweils von Spezialisten für das jeweilige Thema moderiert werden. Diese informellen Gremien würden keineswegs den Anspruch aufstellen, dass sie „Bürger der Globalisierung“ heranbilden oder die nationalen Debatten ersetzen, sie könnten aber durchaus Diskussionen über supranationale Themen in den nationalen Parlamenten ankurbeln. Und sie würden auch Leute zu Wort kommen lassen, die normalerweise nicht nach Davos eingeladen werden und auch nicht als stimmberechtigte Anteilseigner im Internationalen Währungsfonds (IWF) das Sagen haben. Vielleicht wären die Folgen der Globalisierung etwas besser zu beherrschen, wenn solche Gremien nichtkommerzielle Kriterien thematisieren und gleichzeitig ansatzweise eine demokratische und soziokulturelle Kontrolle ausüben könnten.

Die augenblickliche geopolitische und geoökonomische Lage begünstigt offensichtlich die Tendenz zum Gigantismus und belohnt die ohnehin Mächtigen. Doch selbst diejenigen, die eine solche monopolarisierte oder durch ein rigides Staatenkonsortium beherrschte Welt positiv einschätzen, müssen zugeben, dass neue Akteure auf die internationale Bühne getreten sind. Es könnte sich herausstellen, dass die jüngsten Megafusionen ganz ähnliche Fragen aufwerfen wie diejenigen, die den Großkonzernen am Ende der Achtzigerjahre ihre Neigung zur unendlichen Diversifizierung wieder ausgetrieben haben. Damit würde sich erneut erweisen, wie unverzichtbar die Rolle ist, die kleine Akteure wie auch die kleinen Länder für die globale Dynamik spielen.

Das Scheitern des MAI und der Konferenz von Seattle haben gezeigt, dass die neue Demokratie nicht auf sporadisches Abfragen des Wählerwillens beschränkt bleiben sollte. Sie muss sich auch in permanenten Beteiligungsprozessen bewähren, damit immer mehr Bürger effektiv auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene an den Entscheidungen mitwirken können, die sie selbst betreffen. Die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte galt bislang als abgesichert. Doch heute muss man sich neue Mittel ausdenken, damit diese Rechte als Engagement auf den verschiedenen Ebenen praktiziert werden können.

Zwar war das Leitprinzip der Globalisierung bislang allein der Markt, doch sie könnte auch zum Wegbereiter für eine weltumspannende Demokratie werden, die in völlig neuen, vielfältigen Formen die Kunst des freiwilligen Zusammenwirkens (laut Tocqueville die Mutter der Wissenschaft) neu begründet. In einer Welt, die auf absehbare Zeit unstabil und unvorhersehbar bleibt, wäre es illusorisch zu glauben, dass Geopolitik und Weltwirtschaft allein durch die Interaktion zwischen den großen Blöcken oder die Entscheidungen einer Oligarchie bestimmt wären. Da man die Initiativen zu Veränderungen nicht denen überlassen darf, die die Welt zu regieren meinen, sollten die kleinen Länder in solchen Initiativen ihre Hauptaufgabe sehen.

dt. Margrethe Schmeer

* Forscher, Quebec, Jean.Tardif@int.mri.gouv.qc.ca.

Le Monde diplomatique vom 14.04.2000, von JEAN TARDIF