14.04.2000

Virtuelle Ökonomie

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Virtuelle Ökonomie

Von IGNACIO RAMONET

VON Karl Marx stammt der Satz: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ Mit Blick auf die aktuelle Entwicklung ließe sich fortfahren: „Der Computer ergibt eine Gesellschaft mit Globalisierern.“

Obwohl solche deterministischen Sentenzen stets übertreiben, haben sie einen wahren Kern: An den Wendepunkten der Geschichte tritt – keineswegs zufällig – eine zentrale Erfindung auf den Plan, die die Ordnung der Dinge umwälzt, der gesellschaftlichen Entwicklung eine andere Richtung gibt und den nächsten Zyklus langer Dauer in Gang setzt. Unmerklich sind wir vor gut zehn Jahren in einen neuen Zyklus dieser Art eingetreten.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts löste die Dampfmaschine die industrielle Revolution aus und veränderte das Gesicht der Welt. Der Industriekapitalismus nahm seinen Aufschwung, die Arbeiterklasse trat in Erscheinung, der Sozialismus entstand, die Kolonialherrschaften weiteten sich aus. Und dies, obwohl diese Maschine nur ein Ersatz war für Muskelkraft.

Der Computer hingegen, der die Gehirntätigkeit übernehmen soll, führt zu einem ungeheuren, beispiellosen Wandel der Welt. Wer sich umschaut, stellt fest, dass alles und jedes Veränderungen unterliegt: die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Politik, die ökologischen Parameter, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die kulturellen Orientierungspunkte, die individuellen Verhaltensweisen.

Im Zuge der digitalen Revolution betreten wir dank der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nolens volens ein neues Zeitalter, das sich durch die blitzartige Übermittlung von Daten und das rasche Wachstum der hierfür nötigen Netze auszeichnet. Das Internet bildet das Herz, den Knotenpunkt und die Synthese des derzeitigen Wandels. Im Zeitalter der Globalisierung sind die Datenautobahnen das, was die Eisenbahn für das Zeitalter der Industrialisierung war: ein mächtiger Faktor der Herstellung und Intensivierung des Austauschs.

Angesichts dieser historischen Parallele erinnern nicht wenige Börsianer daran, „dass die wirtschaftlichen Vorteile eines Transportsystems diskontinuierlich zunehmen, mit plötzlichen Sprüngen, sobald bestimmte Verbindungen fertig gestellt sind“. Und auch daran mag man sich erinnern: „In den 1840er-Jahren war der Bau der Eisenbahnen der wichtigste Wachstumsfaktor in Westeuropa.“1 Die Neokapitalisten setzen beim derzeitigen Take-off auf das exponentielle Wachstum sämtlicher Aktivitäten, die mit den Datenautobahnen, den Netztechnologien, dem Internet zu tun haben. Man nennt dies „neue Ökonomie“.

Nach Überzeugung vieler Anleger ist die Wirtschaft gezwungen, massiv in Informations-, Telekommunikations- und Netzwerktechnologie zu investieren, um mit dem beispiellosen Entwicklungstempo Schritt halten zu können. Ungeheure Wachstumsperspektiven tun sich auf. In Frankreich haben in den letzten drei Jahren 10 Millionen Menschen ein Handy gekauft, und im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl der Computerbesitzer verdoppelt.

Schätzungen zufolge wird die Zahl der Internet-Nutzer von 142 Millionen im Jahr 1998 auf 500 Millionen im Jahr 2003 steigen. Die große Schlacht der Zukunft wird zwischen den amerikanischen, europäischen und japanischen Unternehmen geschlagen, dabei geht es um die Kontrolle der Netze und der Märkte für digitalisierte Inhalte (Bild, Ton, Daten, Spiele) – vor allem aber um den Bereich des E-Commerce. Das Internet hat sich in ein riesiges Kaufhaus verwandelt. Der elektronische Handel, der 1998 noch kaum nennenswerte 8 Milliarden Dollar umsetzte, soll in diesem Jahr ein Volumen von 40 Milliarden Dollar erreichen und im Jahr 2002 die 80-Milliarden-Dollar-Marke überschreiten.

DER Traum vom schnellen Geld zieht Scharen von Anlegern an. Bestärkt durch die Berichterstattung in den meisten Medien, stürzen sie nun an die Börse wie einst die Goldsucher nach Eldorado. Manche Internet-Aktien schießen regelrecht in die Höhe. Im vergangenen Jahr hat sich der Kurswert von rund einem Dutzend Firmen verhundertfacht. Andere – wie America Online (AOL) – waren noch erfolgreicher: ihr Wert multiplizierte sich seit 1992 mit dem Faktor 800.

Wer beim Börsengang der fünf führenden Internet-Unternehmen (AOL, Yahoo!, Amazon, AtHome und eBay) nur jeweils 1 000 Dollar investierte, war am 9. April 1999 Dollarmillionär. Der Börsenindex für Hightech-Aktien, der Nasdaq, legte 1999 um 85,6 Prozent zu. Seit Anfang dieses Jahres stieg er ungeachtet eines leichten Rückgangs im März um insgesamt 20 Prozent.

Indes, der mühe- und arbeitslose Reichtum erweist sich bei näherem Hinsehen als trügerisch. In den Vereinigten Staaten nimmt die soziale Ungleichheit trotz globaler Reichtumsexplosion kontinuierlich zu und erreicht Ausmaße, wie sie seit der Großen Depression nicht mehr dagewesen sind. Die Prosperität der neuen Ökonomie steht offenbar auf solch wackligen Beinen, dass sie Erinnerungen an die Zwanzigerjahre wachruft, als man – wie heute – niedrige Inflationsraten und hohe Produktivitätszugewinne schrieb. Manche Beobachter sprechen gar von „drohendem Bankrott“ und beschwören das Gespenst von 1929.2

Mittelfristig werden angeblich nur 25 Prozent der Web-Unternehmen überleben können. Führende Zentralbanker mahnen die Anleger denn auch zur Vorsicht. „Seien Sie bei Internet-Titeln auf der Hut“, warnt der niederländische Notenbankchef Arnout Wellink. Ihn erinnern die Börsenspekulanten an „durchgebrannte Pferde, die auf der Suche nach einer Goldmine blind hintereinander herlaufen“.3

Man sagt von politischen Revolutionen, dass sie ihre Kinder fressen. Ökonomische Revolutionen sind nicht weniger gefräßig.

Fußnoten: 1 David S. Landes, „Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart“, aus d. Engl. von Franz Becker, München (dtv) 1983. 2 Business Week, 14. Februar 2000. 3 Le Monde, 12. März 2000.

Le Monde diplomatique vom 14.04.2000, von IGNACIO RAMONET