14.04.2000

Die Muslimbrüder orientieren sich neu

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Die Muslimbrüder orientieren sich neu

Von WENDY KRISTIANASEN *

IN Ägypten wurden am 21. Januar dieses Jahres einundzwanzig Studenten bei einem Wochenendausflug nach Alexandria verhaftet. Die ermittelnde Staatssicherheitsbehörde klagte sie an, Mitglieder der verbotenen Muslimbruderschaft (al ichuan al-muslimin) zu sein. Vier Tage zuvor waren zwanzig Mitglieder berufsständischer Vereinigungen – Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten – vor ein Militärgericht in der Nähe von Kairo gestellt worden, wo man ihnen seither nachzuweisen sucht, dass sie der Bruderschaft angehören. Insgesamt warten derzeit fast 200 Aktivisten der Bruderschaft – fast ausnahmslos Gewerkschafter – auf ihre Verfahren vor Militärgerichten.

In Jordanien ließ die Regierung am 21. November 1999, unter Verletzung von Artikel 9 der Verfassung, laut dem kein Jordanier aus dem Königreich abgeschoben werden darf, vier Führer der von Muslimbrüdern gegründeten palästinensischen Widerstandsbewegung Hamas nach Katar ausweisen. Alle vier sind jordanische Staatsbürger palästinensischer Herkunft. Ihnen wurden „illegale Aktivitäten“ und „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation“ vorgeworfen – ebenjener Hamas, deren öffentliches Auftreten in Amman fast ein Jahrzehnt lang geduldet worden war. Der Abschiebung vorausgegangen war, am 30. August 1999, die Schließung der Büros der Hamas und die Verhaftung von zwölf Funktionären. Einem weiteren Führungsmitglied der Organisation wurde am 22. September die Wiedereinreise nach Jordanien verweigert. Diese Repressionsmaßnahmen flankieren die gemeinsame Strategie Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) gegen die Hamas. Von den etwa 1 400 palästinensischen politischen Gefangenen, die sich nach wie vor in Israel in Haft befinden, sind 900 Islamisten, etwa 300 Islamisten sitzen in palästinensischen Gefängnissen. Das Vorgehen gegen die Hamas wirkt sich auch auf die Stellung der Muslimbrüder in Jordanien aus. Anders als sein verstorbener Vater Hussein hält König Abdallah II. nämlich nichts von einer Politik der Einbindung dieser Organisation.

Haben die beiden islamistischen Organisationen wirklich die gleichen Probleme? Die Offensive gegen die Hamas ist eine unmittelbare Folge des Friedensprozesses: Der neue König fühlt sich dem Westjordanland nicht so verbunden wie sein Vater und hat, mit Blick auf den 1994 geschlossenen israelisch-jordanischen Friedensvertrag, dem Druck aus den USA und Israel nachgegeben. Gleichzeitig geht in Ägypten Präsident Mubarak, ein treuer Verbündeter des Westens, mit aller Härte gegen die Bruderschaft vor, und keine westliche Macht hält ihn zur Mäßigung an.

Die Befürchtungen der Machthaber sind in diesen und anderen Ländern jedenfalls die Gleichen. In Jordanien wie in Ägypten und in Palästina stellen die Islamisten die einzige echte Opposition dar. Seit dem Niedergang des arabischen Nationalismus und des Kommunismus hält außer ihnen keiner mehr die Fackel irgendeiner Ideologie hoch. In den drei Ländern „mit eingebauter Religion“, wie es der in Ägypten hoch angesehene islamistische Kolumnist Fahmi Howeidi formuliert, bestanden für die Welle der Islamisierung, die Ende der Siebzigerjahre die ganze Region erfasste, sehr günstige Voraussetzungen. Und für alle Islamisten ist die Muslimbruderschaft der gemeinsame Bezugspunkt – sie gilt als verlässlich und vertrauenswürdig, genießt hohes Ansehen und kann auf zahlreiche tatkräftige Anhänger in den Städten zählen, unter ihnen ausgesprochen viele Freiberufler. Und sie verfügt über Einfluss in allen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur mit den Mitteln der Politik, die ihr nicht überall erlaubt sind, sondern vor allem durch ihre religiösen und sozialen Aktivitäten: Wohlfahrtseinrichtungen, Ausbildungsangebote, soziale Fürsorge. Wo immer die Bruderschaft aktiv wird, verfährt sie nach demselben Muster, und je heftiger sie von den Machthabern verfolgt wird, desto höher steigt ihr Ansehen in der Bevölkerung.

Wie wird man ein Muslimbruder? „Ich war fünfzehn, als ich der Bruderschaft beitrat“, erzählt der dreißigjährige Jassir Abu Hilela, ein angesehener Journalist. „Ich ging noch zur Schule, in Amman. Die meisten treten in diesem Alter ein, die entscheidende Rolle spielt dabei die Moschee – ich komme aus einer religiösen Familie. Um ein aktiver Muslimbruder zu werden, muss man älter als zwanzig sein und der Bruderschaft mindestens drei Jahre angehört haben. Dann leistet man einen Eid, und man führt 3 bis 5 Prozent des Monatseinkommens ab. Frauen sind nicht zugelassen.“ 1995 verließ Abu Hilela die Bewegung. „Ich musste mich entscheiden: Wenn ich objektiv berichten wollte, konnte ich nicht Mitglied bleiben. Es ist nicht einfach, der Bruderschaft beizutreten, aber sie zu verlassen ist noch schwieriger.“

Die „Gesellschaft der muslimischen Brüder“, 1928 im ägyptischen Ismailijavon Hassan al-Banna gegründet, entwickelte sich rasch zu einer breiten Volksbewegung, mit Hunderttausenden von Mitgliedern überall in der arabischen Welt. Ihr Ziel war es, die Muslime auf den rechten Weg des Glaubens zurückzuführen. Dem britischen Kolonialismus stand sie unversöhnlich gegenüber, sie trat für die Rechte der Palästinenser ein und kämpfte 1948/49 im arabisch-israelischen Krieg.

Ihr ursprüngliches Ziel, die politische Einheit aller Muslime im Zeichen des Islam, verfolgt die Bruderschaft heute nicht mehr mit Nachdruck, Jerusalem und die Befreiung Palästinas allerdings bleiben zentrale Fragen. Der dschihad wird nur für die Verbreitung des Glaubens geführt, in Afghanistan etwa, oder jüngst in Tschetschenien. Gegen arabische Regimes soll das Mittel der Gewalt nicht eingesetzt werden – eine Wirkung der harten Lektion, die den ichuan in Nassers Ägypten erteilt worden ist.1 Reform, nicht Revolution heißt heute die Parole. Das hat zur Folge gehabt, dass sich in den Siebzigerjahren eine Reihe von jüngeren Muslimbrüdern abspaltete und radikalere Bewegungen ins Leben rief, etwa den Islamischen Dschihad in Ägypten und in Palästina.

Es sind sehr unterschiedliche Umstände, unter denen die Bruderschaft ihre Botschaft verkündet. In Ägypten ist die Organisation verboten, wird aber von der Regierung – mal mehr, mal weniger – toleriert.2 So konnte sie bei den Parlamentswahlen von 1984 auf den Listen der Wafd-Partei antreten und 1987, im Bündnis mit der Arbeiterpartei und den Liberalen, die meisten Sitze innerhalb des Oppositionslagers erringen. Präsident Mubarak beschloss daraufhin, seine Politik der Öffnung zu korrigieren: 1993 ließ er die berufsständischen Vereinigungen (der Ärzte, Anwälte, Journalisten usw.) verbieten, in denen die ichuan besonders erfolgreich waren, und vor den Wahlen von 1995 ließ er 62 ihrer führenden Funktionäre vor Militärgerichte zitieren, um den Wahlkampf der Bruderschaft zu torpedieren.

„Die Front verläuft nicht zwischen der Regierung und den Islamisten, sondern zwischen der Regierung und der Demokratie“, meint Abu Hilela. „Das zeigt auch die Al-Wasat-Affäre. In den neunzehn Jahren, die der Ausnahmezustand hier schon dauert, ist keine einzige politische Partei zugelassen worden, die dem Regime in irgendeiner Weise gefährlich werden konnte. Die bedrohliche Botschaft der Regierung lautet: Es gibt keine Hoffnung auf einen friedlichen Wandel.“ Gemeint ist der Fall von Abul Ela Madi, einem zweiundvierzigjährigen Ingenieur, der seit 1996 zwei Mal versucht hat, die Zulassung einer neuen politischen Partei, der Zentrumspartei (hisb al-Wasat) zu erreichen. „Wir haben islamische Ziele“, erklärt Madi. „Aber während die Bruderschaft sich als religiöse Bewegung begreift und sich vor allem an die eigenen Anhänger wendet, wollen wir eine kulturelle Bewegung sein, die für alle offen ist. Uns geht es nicht darum, Muslime zu guten Muslimen, sondern zu guten Bürgern zu machen.“ Madi kann darauf verweisen, dass er in die Führung von al-Wasat auch einen koptischen Christen berufen hat, den Psychologen Rafiq Habib. Habib erläutert seinen Standpunkt so: „In unserer Gesellschaft sind sowohl der Islam wie das Christentum tief verwurzelt. Wir wollen nicht nur einen Staat, wir wollen eine geeinte Nation.“ Derzeit wird der dritte Versuch unternommen, die Zulassung der Partei zu erwirken, aber Madi ist sich darüber im Klaren, dass er damit ebenso scheitern wird wie mit seinem Antrag auf Gründung einer Zeitung.

Wege des langsamen Wandels

ALS Motiv für seine Bemühungen um die Gründung einer eigenständigen Partei nennt Madi „die Mängel der Bruderschaft, ihren allzu großen Eifer bei der Kontrolle ihrer Mitglieder“ und – der schlimmste Vorwurf – „ihr unaufrichtiges Vorgehen bei der Sicherung ihrer Hausmacht.“ Die Initiative hat die ägyptischen Muslimbrüder in eine beispiellose Krise gestürzt: Von 1996 bis 2000 verließen, in vier großen Austrittswellen, mehr als zweihundert führende Aktivisten die Bewegung.

Madi steht uneingeschränkt zu seinem Vorgehen: „Ich habe mich verpflichtet, über meine Differenzen mit der Bruderschaft Stillschweigen zu wahren, nur deshalb weiß niemand, was wirklich vorgefallen ist.“ Während die gegenseitigen Beschuldigungen und rechtlichen Auseinandersetzungen noch im Gange sind, ist von Anhängern Madis zu erfahren, dass ihn die Bruderschaft zunächst ermutigt habe, die Gründung einer Partei zu beantragen, dann aber nicht mehr mitziehen wollte. Ma'mun al-Hodeibi, der Sprecher der Bruderschaft, weist den Vorwurf zurück: „Wenn wir eine politische Partei gewollt hätten, dann hätten wir diese Forderung in aller Öffentlichkeit erhoben. Wir wussten, dass es aussichtslos war, deshalb haben wir darauf verzichtet.“ Die Wahrheit wird wohl, wie bei jedem internen Zwist in der Bruderschaft, unter dem Mantel des Schweigens verhüllt bleiben.

Einer der bekanntesten Vertreter der Organisation, der sechsundvierzigjährige Arzt und ehemalige Abgeordnete Issam al-Aryan, scheint jedenfalls entschlossen, die Politik der kleinen Schritte fortzuführen. Eine Woche nachdem er am 22. Januar 2000 aus dem Gefängnis entlassen worden war, wo er eine fünfjährige Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft verbüßt hatte, erklärte er: „Wir sind zum formellen oder informellen Dialog mit den Verantwortlichen bereit. Wir kennen die bürokratischen Hürden, deshalb wäre uns bereits eine kleine Geste genug – etwa die Einstellung der Verfahren, die vor Militärgerichten gegen unsere Aktivisten geführt werden.“

Da es in Ägypten keine politische Öffentlichkeit gibt, sind Medien und Berufsverbände um so wichtiger. Sherif Abul Madschd, ein fünfzigjähriger Ingenieur, hätte sich Madis Partei angeschlossen, aber im Unterschied zu vielen anderen hat er die Bruderschaft bislang nicht verlassen. Auch er ist der Meinung, dass man neue Kontakte knüpfen und „den Weg des langsamen Wandels beschreiten muss.“ Helmi al-Gasar, ein vierundvierzigjähriger Arzt, der sich schon einmal auf der Liste der Arbeiterpartei um einen Parlamentssitz beworben hat, gehört der Bruderschaft nicht an. „Ich bin nicht bereit, ins Gefängnis zu gehen“, meint er. „Dazu habe ich viel zu viel zu tun.“ Doch er glaubt, Anzeichen des Wandels in der Muslimbruderschaft zu erkennen: „In den vergangenen zehn Jahren hat sich ihr Verhältnis zu den Frauen verändert, sie erlauben ihnen die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften und lassen sie bei öffentlichen Versammlungen auftreten. Inzwischen wenden sie sich sogar an die Christen und fordern sie auf, ihren Glauben zu praktizieren. Das ist die richtige Botschaft für die jungen Leute.“

Verglichen mit der Situation in Ägypten ergeht es der Bruderschaft in Jordanien weit besser. König Hussein hatte seit den Fünfzigerjahren eine Politik der Einbindung betrieben, und die Muslimbrüder dankten es ihm, indem sie als loyale Oppositionspartei auftraten. 1989 errangen sie bei den Unterhauswahlen 22 der 80 Sitze.

1991 entstand die Islamische Aktionsfront (IAF) als politische Partei der Muslimbrüder, und obwohl sie 1993 durch eine vorläufige Änderung des Wahlrechts gezielt behindert wurde, trat sie zu den Wahlen an und gewann siebzehn Sitze. 1997 war die Wahlrechtsänderung noch immer in Kraft, und die Partei traf die unglückliche Entscheidung, die Wahlen zu boykottieren. Professor Ishaq al-Farhan, der erste Generalsekretär der IAF (1992-1996), hält das im Nachhinein ebenso für einen Fehler wie sein Amtsnachfolger Dr. Abdel Latif Arrabijat (1996-2000), der erklärt: „Die Entscheidung für den Boykott fiel in der Partei mit nur einer Stimme Mehrheit (86 zu 85 Stimmen). Natürlich sind wir in der Frage gespalten. Ich persönlich glaube, wir müssen in Parlament und Regierung vertreten sein. Trotzdem musste ich den Boykottbeschluss umsetzen.“

Die Hardliner standen einer Regierungsbeteiligung der Bruderschaft skeptisch gegenüber. Ishaq al-Farhan war bereits von 1970 bis 1974 Minister für Erziehung, islamische Angelegenheiten und die religiösen Stiftungen (aukaf) gewesen. „Das war meine persönliche Entscheidung“, meint er dazu. „Ich hatte nicht die Zustimmung der Bruderschaft, tatsächlich habe ich sie gar nicht gefragt – ich gebe ihnen Ratschläge, aber ich lasse mir von ihnen nichts sagen.“ Farhan fordert eine bessere „Abstimmung“ zwischen der Islamischen Aktionsfront (deren Mitgliedschaft zur Hälfte aus ichuan besteht) und der Bruderschaft.

Es gibt noch andere Streitfragen. Anlässlich der Ausweisung der vier Hamas-Führer wurde deutlich, wie tief der Graben zwischen der gemäßigten Mehrheit der Muslimbrüder und der radikalen Minderheit ist – eine Spaltung, die den zentralen Konflikt in der jordanischen Gesellschaft widerspiegelt: Auch innerhalb der Bruderschaft stammen die meisten Mitglieder aus Transjordanien – und wollen mit der Hamas lieber nicht allzu viel zu tun haben; die Minderheit palästinensischer Herkunft lehnt diese Tendenz entschieden ab.3 Hardliner und Hamas – ursprünglich eine palästinensische Fraktion der Bruderschaft4 – haben die gemäßigte jordanische Führung heftig dafür angegriffen, dass sie das Vorgehen gegen die Hamas im August nicht deutlich verurteilte, sondern zu vermitteln versuchte. Ibrahim Ghoscheh, Sprecher der jordanischen Hamas und einer der vier Ausgewiesenen, meldete sich in der katarischen Presse ungewöhnlich scharf zu Wort: Er warf den Muslimbrüdern vor, sich „der Aufgabe der Befreiung Palästinas zu entziehen“5 .

Aus islamistischen Kreisen gibt es Hinweise auf einen dritten, ausgesprochen heiklen Streitpunkt. Es geht darum, wer über das Vermögen der Organisation verfügt. Die Hardliner haben die Kontrolle über die „Vereinigung des Islamischen Zentrums“ (dschama'ija al-merkes al-islami), auf deren Namen die wichtigste Immobilie eingetragen ist: das prachtvolle Islamische Krankenhaus in Amman, in dem sich auch die Büros der Bruderschaft befinden. Angeblich ist es die Drohung, diese Vereinigung aus der Bruderschaft herauszulösen, mit der sie die gemäßigte Führung erpressen können, einen härteren islamistischen Kurs einzuschlagen. In Wahrheit geht es ihnen einfach darum, die neuen gemäßigten Führer in Schach zu halten, die an Einfluss gewonnen haben, seit die Bruderschaft in den Neunzigerjahren beschloss, in die Politik einzusteigen.

Und in Palästina? Gibt es dort noch eine Organisation der Muslimbrüder, oder hat die Hamas sie abgelöst? Wenn überhaupt, dann im Westjordanland, wo der jordanische Einfluss nach wie vor stark ist.6 Hier bekennen sich noch einige zur Bruderschaft, so etwa die Scheichs Hamid Beitaui und Saud Bilal, die sogar Positionen in der Palästinensischen Autonomiebehörde bekleiden. Die Hamas allerdings behauptet, ihre Widerstandsorganisation habe in Palästina die Rolle der Bruderschaft vollständig übernommen. Dr. Abdel Medschid Thuneibat, der Führer der jordanischen Muslimbrüder, ist da anderer Meinung: „Hamas ist nach wie vor ein Teil der Palästinensischen Muslimbruderschaft, die niemals aufgelöst wurde. Nur ihr bewaffneter Arm ist eigenständig.“ Solche Meinungsverschiedenheiten über formale Zuordnungen sind Ausdruck politischer Empfindlichkeiten und Ambitionen – oder vielleicht doch ein Zeichen des Zerfalls.

Angesichts der Situation in Palästina ist das nicht überraschend. Durch die Intifada war die Bruderschaft gezwungen, sich dem Volksaufstand gegen die israelische Besatzung anzuschließen – das war der Grund für die Bildung der Hamas. Hatte die Bruderschaft zuvor lediglich soziale und religionsbezogene Reformen gefordert (und dabei die friedliche Koexistenz mit dem Staat Israel praktiziert), so vollzog sie nun eine radikale Wende, hin zum bewaffneten Widerstand. In den Neunzigerjahren besaß sie großen Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung. Die Selbstmordanschläge der Hamas taten ein Übriges, die Schlüsselrolle der Muslimbrüder in der palästinensischen Tragödie zu unterstreichen. Doch die Rückkehr von Jassir Arafat und die Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde in den ab 1994 autonomen Gebieten stellten die Organisation vor ein unlösbares Problem. Sie lehnte die Oslo-Verträge ab – aber musste sie nicht versuchen, in der neuen palästinensischen Gebietseinheit ihren Einfluss geltend zu machen?

Dieses Dilemma ist mit der Ausweisung der Hamas-Führer aus Amman erneut deutlich geworden. Die Bewegung muss sich fragen, ob sie eine bedeutende Rolle im Rahmen der palästinensischen Politik spielen – und also auf Gewalt verzichten und sich mit der PNA arrangieren – will, oder ob sie weiterhin eine fragwürdige regionale Strategie verfolgen will, die Gewaltakte einschließt und die durch ein Abkommen zwischen Syrien und Israel hinfällig würde.

Nachdem ihr politisches Büro in Amman geschlossen worden ist, sind die Vertreter eines radikalen Kurses in der Region vorerst zum Schweigen gebracht. Gleichzeitig ist auch der militärische Arm der Hamas erheblich geschwächt. Das eröffnet neue Möglichkeiten für die Fraktion, die sich im palästinensischen nationalen Rahmen engagieren möchte – allen voran die Führung der Hamas in Gasa, dem Ort ihrer Entstehung – und für ihren Gründer und geistlichen Führer, den äußerst pragmatisch orientierten Scheich Ahmed Jassin. Während die Muslimbrüder in anderen Ländern sich mit einer Zwei-Staaten-Lösung für Palästina auf gar keinen Fall abfinden wollen, hat ausgerechnet die Hamas, jene Unterorganisation, die als der Inbegriff des gewaltsamen Dschihad galt, Israel einen bedingten und erneuerbaren Waffenstillstand (hudna) angeboten, dessen Voraussetzung der Rückzug der israelischen Truppen auf die Waffenstillstandslinien vom Juni 1967 wäre. Ist das als Kuriosität oder als Ausdruck einer Überlebensstrategie zu bewerten?

Die Zukunft von Hamas ist durchaus ungewiss. Ihre Anhänger hat die Organisation vor allem unter den jungen Palästinensern und unter all jenen, die nicht bereit sind, die harten Bedingungen einer Friedensregelung mit Israel zu akzeptieren. Ihr einziger Trumpf ist also der Widerstand gegen den Ausverkauf Palästinas. Außerdem stellt sich die bange Frage, was Vereinbarungen mit Arafat wohl wert sein könnten. Soll man sich auf ein Abkommen mit dem Präsidenten eines palästinensischen Regimes einlassen, das keine Anstalten macht, demokratische Verhältnisse einzuführen?

Doch gerade in Gasa gibt es neue Stimmen, die nach Veränderung rufen. Die Hamas hat hier eine eigene politische Vertretung gegründet, die Islamische Heilspartei (hisb al-chalas al-islami, ISP), die sich zunächst an alle Vorgaben hielt. Am 2. Februar 2000 jedoch missachtete sie eine Weisung der Hamas und entsandte vier Delegierte zu einer Sitzung des Palästinensischen Zentralrats (PCC), der zu den wichtigsten Gremien der PLO zählt und eine Vermittlerrolle zwischen Nationalrat und Exekutivkomitee innehat. Die Anwesenheit der ISP-Delegierten konnte als Ausdruck der Zugehörigkeit der Partei zur PLO verstanden werden – womit die nächste Krise der Hamas heraufbeschworen war.7

Ghasi Hamed, vierzig Jahre alt, Chefredakteur der ISP-Zeitung Al-Risala, und ein typischer Vertreter der neuen Führungsschicht in Gasa, meint dazu: „Die Hamas glaubt immer noch an den bewaffneten Kampf und ist nicht bereit, im Rahmen der PNA zu arbeiten. Wir sind dazu bereit. Im Augenblick werden wir von allen Seiten angegriffen. Unsere Entscheidung, die PCC-Sitzung zu besuchen, hat die Partei tief gespalten, und auch die Hamas selbst übt Kritik. Die Situation in Palästina ist sehr kompliziert. Wir müssen lernen, zwischen den Prinzipen und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als ein Teil der PLO zu werden.“ Für Hamed ist die jordanische IAF-Partei ein Vorbild. Er begrüßt die Versuche, in Ägypten die Zentrumspartei zu gründen. „Wir müssen auf die Menschen zugehen, nicht nur auf die Anhänger der Hamas. Und das heißt, dass wir einen eigenen Weg finden müssen, unabhängig von der Hamas.“

Drei Länder, drei unterschiedliche Szenarien. Aber in Kairo wie in Amman und Gasa tritt eine Generation von Vierzigjährigen an, die pragmatisch orientiert sind und erwarten, dass die Führung der Muslimbruderschaft bereit ist für Reformen. Diesen jungen Islamisten reicht es nicht, nur die traditionellen Anhänger der Bruderschaft zu vertreten. Sie wollen andere Schichten erreichen, und sie sind bereit für die Moderne und die Demokratie.

dt. Edgar Peinelt

* Journalistin, London.

Fußnoten: 1 1954 löste ein gescheiterter Mordanschlag auf Nasser, der den Muslimbrüdern zugeschrieben wurde, eine Welle harter Repressionsmaßnahmen aus, von denen sich die Bruderschaft nur mühsam erholte. 2 Siehe Eric Rouleau, „Auf der Suche nach den gemäßigten Islamisten“, Le Monde diplomatique, Januar 1998. 3 Die gemäßigte Fraktion der jordanischen Muslimbrüder vertritt etwa die gleichen Positionen wie die gemäßigte Richtung innerhalb der Hamas. 4 Siehe Wendy Kristianasen, „Offener Streit in der Hamas-Bewegung“, Le Monde diplomatique, September 1996. 5 Jordanischer Rundfunk, zit. n. BBC World Service Monitor, 23. Januar 2000. Arab al-Yawm (Amman), 23. Januar 2000, Al-Dustur (Amman), 24. Januar 2000. 6 Nach 1948 wurden die Muslimbrüder in Cisjordanien (Westjordanland) mit der jordanischen Organisation der Bruderschaft vereinigt; die ichuan im Gasastreifen wurden der ägyptischen Bruderschaft angeschlossen. 7 Am 29. April 1999 hatte die Hamas-Führung in Gasa eine vierköpfige Delegation mit Beobachterstatus zu einer Sitzung des Palästinensischen Zentralrats entsandt, weil dort damals eine wichtige Diskussion über die Ausrufung eines Palästinenserstaates geführt wurde. Die Islamische Heilspartei blieb der Versammlung fern – auf Weisung der Auslandsführung der Hamas in Amman.

Le Monde diplomatique vom 14.04.2000, von WENDY KRISTIANASEN