Burgibas langer Schatten
DAS in aller Eile durchgeführte Begräbnis, das dem am 6. April verstorbenen ehemaligen tunesischen Präsidenten Habib Burgiba zuteil wurde, sollte insbesondere seinem Nachfolger, General Sein al-Abidin Ben Ali, alle Ehre machen. Die aufrichtige Trauer, die das ganze Land ergriffen hat, war jedoch nicht nur ein Ausdruck der Anerkennung und Bewunderung für den Architekten der tunesischen Unabhängigkeit. Sie würdigte auch die großen Errungenschaften seiner Regentschaft, vor allem in den Bereichen Bildung und Frauenrechte, die dem Land wichtige Fortschritte bescherten. Ähnliches lässt sich in den Augen der meisten Tunesier vom gegenwärtigen Regime nicht behaupten.
Von KAMEL LABIDI *
„Ein Mann wie ich wird nicht leicht zu ersetzen sein. Das ist eine Frage der Gefühle: Vierzig Jahre haben das tunesische Volk und ich miteinander verbracht, und viele harte Zeiten durchgestanden. Wer nach mir kommt, wird sich darauf nicht beziehen können.“ Diese unbescheidene Äußerung des am 6. April 2000 verstorbenen tunesischen Staatspräsidenten Habib Burgiba stammt aus dem Jahre 1972. Wie prophetisch sie war, hat sich schon bald nach seinem Tod gezeigt.
Die elf Jahre, die er einst in französischen Gefängnissen absitzen musste, haben zum legendären Ruf des „Obersten Kämpfers“ (al-Mudschahid al-Akbar) in allen Schichten der tunesischen Bevölkerung beigetragen, und die dreizehn Jahre, die er seit der Absetzung am 7. November 1987 (wegen angeblicher Senilität) durch seinen Ministerpräsidenten, General Sein al-Abidin Ben Ali, unter Hausarrest verbrachte, haben das Prestige gestärkt – selbst aus Sicht der schärfsten Kritiker des früheren „Präsidenten auf Lebenszeit“.
Alle haben ihm inzwischen Referenz erwiesen – nicht nur die Älteren, denen unmittelbar nach der Unabhängigkeit Errungenschaften wie die kostenlose Schulbildung und die neuen Rechte für die Frauen zugute kamen, sondern auch die junge Generation, die seine Herrschaft nicht mehr gekannt hat, ja sogar Verfechter der Menschenrechte wie die Rechtsanwältin Radhia Nasraoui, der unter Burgibas autoritären Maßnahmen zu leiden hatte.
In den ländlichen Gebieten Tunesiens löste der Tod des Mannes, der das Land 1956 ohne großes Blutvergießen in die Unabhängigkeit geführt hatte, tiefe Trauer aus. Die neuen Machthaber hingegen taten alles, um die Bürger von den nationalen Trauerfeierlichkeiten auszuschließen.
Obwohl er im Oktober 1999 zum dritten Mal (mit 99,4 Prozent der Stimmen!) wieder gewählt worden war, scheint es, als mangele es Präsident Ben Ali, dem Initiator des „medizinisch-konstitutionellen Staatsstreichs“ von 1987, noch immer an Legitimität. „Als wir am 7. November 1987 die Veränderung in die Wege geleitet haben“, erklärte Ben Ali in seiner Trauerrede, „haben wir aus dem Vermächtnis, das uns der Führer Habib Burgiba hinterlassen hat, das Beste herausgeholt und es bereichert und zur Blüte gebracht.“
Erstaunlicherweise wussten die ausländischen Medien den außergewöhnlichen Weg des langjährigen historischen Führers besser zu würdigen. Die tunesische Presse wollte sich mit den Reden und präsidialen Anordnungen, die dazu beitrugen, das Land auf den Weg in die Moderne zu bringen, nicht auseinander setzen. Und das staatliche Fernsehen, das gewöhnlich auch von den entlegensten Sportereignissen nur zu gern live berichtet, erhielt die Anweisung, keine Direktübertragung von den Begräbnisfeierlichkeiten auszustrahlen. Die offiziellen Ausreden reichten von der Erklärung, der Staat wolle „die landesübliche Trauerzeit respektieren“, bis zum Verweis auf „die beschränkten technischen Möglichkeiten des Fernsehens“1 .
Am Tag der Beerdigung wurden die Abendnachrichten im Fernsehen um 35 Minuten verschoben. So lange brauchte die Abteilung für Informationskosmetik, um einen Bericht über das Ereignis fertig zu stellen, der nichts aus Sicht des Regimes Unerfreuliches enthielt: Marschmusik übertönte die Jubelreden auf Burgiba, und die vermummten „Ninjas“ der Sicherheitskräfte mit ihren Maschinenpistolen waren herausgeschnitten worden.
Wovor fürchtet sich ein politischer Führer, der mit 99,4 Prozent der Stimmen gewählt worden ist? „Präsident Ben Ali weiß, dass er weder von den völlig entmachteten Parteien etwas zu fürchten hat noch von den Islamisten, die stark an Einfluss verloren haben“, meint Béatrice Hibou vom Nationalen Forschungszentrum CNRS in Paris. „Aber aus der Gesellschaft selbst könnte den Machthabern Gefahr erwachsen.“2
„Der Verlauf dieser Begräbnisfeierlichkeiten“, schreibt eine algerische Zeitung, „deutet stark darauf hin, dass die Behauptung richtig ist, Burgiba sei von seinem Volk geliebt worden, vor allem von jenen, die die Unabhängigkeit miterlebt haben, sowie von den Schichten, die ihm gewisse demokratische Errungenschaften verdankten. Innerhalb der Führungsschichten dagegen hat er keineswegs den Ruf eines Heiligen genossen.“3
„Die Tunesier sind stolz auf ihren ehemaligen Staatschef Burgiba“, erklärt Sara Ben Achour, Juraprofessorin an der Universität Tunis. „Die Menschen identifizieren sich mit ihm, weil er einen Plan für die Zukunft seines Landes verfolgte und nicht nur die Macht um der Macht willen liebte. Im Bereich der bürgerlichen Freiheiten sieht die Bilanz allerdings nicht so gut aus, und den sozialen Institutionen hat er hart zugesetzt.“ Am meisten jedoch wird Burgiba zugute gehalten, dass er, im Unterschied zu vielen seiner Kollegen und deren Entourage in den Entwicklungsländern, den Verlockungen des Geldes nicht erlag.
Burgibas Vorstellungen eines künftigen Tunesien, von denen die junge Universitätslehrerin spricht, nahmen in den 1920er Jahren Gestalt an. In der Absicht, „Jura zu studieren, um das französische Protektorat zu bekämpfen“, war Habib Burgiba nach Paris gegangen. Als er 1927 zurückkehrte, hatte er ein Diplom in der Tasche, das ihm die Zulassung als Rechtsanwalt sicherte. Er stürzte sich sofort in die politische Arbeit, trat der Destur-Partei bei und schrieb für die Zeitung L'Étendard tunisien. 1932 gründete er L'Action tunisienne. Burgiba, ein wortmächtiger, gut aussehender Mann, verstand es, die Menschen mitzureißen, und ihm wurde rasch klar, dass die Befreiung seines Landes nicht von einer politischen Klasse ins Werk gesetzt werden konnte, die isoliert im Zentrum von Tunis lebte und von der breiten Bevölkerung nichts wissen wollte.
Neue Illusion der guten alten Zeit
IM Jahre 1934 verließ Burgiba unter Protest die alte Destur-Partei von Scheich Abdelasis Thaalbi und gründete mit einer Gruppe junger Leute die Neo-Destur-Partei. Nachdem diese einige Monate lang politisch aktiv gewesen war, ließ der französische Generalresident Marcel Peyrouton die angeblichen Agitatoren verhaften und in den Süden Tunesiens deportieren, wo sie bis 1936 festsaßen.
Nach einer erneuten Verhaftung wurde Burgiba schließlich erst 1942 von den Deutschen befreit, weigerte sich jedoch, sich auf die Seite der Achsenmächte zu stellen. „Deutschland kann den Krieg nicht gewinnen und wird ihn nicht gewinnen“, schrieb er kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis an seinen Kampfgefährten Habib Thameur. „Sie und alle Aktivisten haben die Pflicht, den Kontakt zu den gaullistischen Franzosen zu suchen, um unsere Untergrundarbeit mit ihnen abzustimmen. Dabei dürfen wir unsere Unterstützung nicht an Bedingungen knüpfen – schließlich handelt es sich für Tunesien um eine Frage von Leben oder Tod.“4
Leider haben die Kolonialbehörden nach der Niederlage der Achsenmächte es nicht gewürdigt, dass die Neo-Destur-Partei den französischen Widerstand unterstützt hatte. Moncef Bei, der populärste Herrscher der husseinitischen Dynastie, musste abtreten, und der von Frankreich enttäuschte Burgiba setzte sich heimlich ins Ausland ab. Er ließ sich in Kairo nieder, wo er von 1945 bis 1949 in den Kreisen arabischer Nationalisten und Intellektueller verkehrte. 1947 reiste er in die USA, um für die Sache seines Landes einzutreten: Seine Kontakte in der arabischen Welt, vor allem zur Arabischen Liga, hatten sich als unbefriedigend erwiesen, und er begriff, dass er auf seine eigene Kraft vertrauen und auf die antikolonialen Bewegungen im Westen setzen musste.
Nach der Rückkehr aus dem Exil begann er ganz Tunesien zu bereisen, um die Kontrolle über den Apparat der Neo-Destur-Partei wiederzuerlangen, die während seiner Abwesenheit von seinem Adjutanten und späteren Rivalen Salah Ben Youssef geleitet worden war. 1951 beteiligte sich die Partei an der Regierung – ein glückloses Experiment, aus dem Burgiba den Schluss zog, dass es bis zur Unabhängigkeit noch ein langer Weg war. Im Januar 1952 wurde er verhaftet, weil er seine Landsleute zur Ausweitung der Widerstandsaktionen aufgerufen hatte.
Das Blatt wendete sich am 31. Juli 1954, als der französische Ministerpräsident Pierre Mendès-France nach Tunis kam und in Karthago gegenüber dem Bei erklärte, Paris stelle sich der Emanzipation des tunesischen Volkes nicht entgegen. Am 1. Juni 1955, unmittelbar nach der Unterzeichnung der französisch-tunesischen Vereinbarungen über die innere Autonomie Tunesiens, kehrte ein triumphierender Burgiba nach Tunis zurück. Er war entschlossen, unbestrittener Führer des Landes zu werden; als Erstes schloss er seinen einflussreichen Rivalen Salah Ben Youssef, der sich gegen die innere Autonomie wandte, aus der Partei aus und schickte ihn ins Exil. Die Unabhängigkeitserklärung am 20. März 1956 erfolgte vermutlich auf hartnäckiges Drängen Burgibas, dem es mehr und mehr darum ging, die Richtigkeit seiner „Politik der Etappen“ zu beweisen, insbesondere nachdem Salah Ben Youssef Unterstützung durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel-Nasser erhielt.
Diese „Politik der Etappen“ vertrat er später auch im Verhältnis zu Israel. Seine berühmte Rede von 1965 in Jericho, im Westjordanland, schlug in der arabischen Welt ein wie eine Bombe: Er trat dafür ein, den Teilungsplan der Vereinten Nationen zu akzeptieren, der zwei Staaten in Palästina vorsah. Von arabischen Medien und von den Demonstranten in den Straßen vieler Städte im Nahen Osten wurde er als „Lakai des Kolonialismus und Imperialismus“ beschimpft.
Seit dem ersten Jahr der Unabhängigkeit setzte Burgiba eine lange Reihe von Reformgesetzen durch, deren Glanzstück nach wie vor das Personenstandsgesetz vom 13. August 1956 ist – es gewährte den Frauen Rechte, die sie nirgendwo sonst in der arabischen Welt besaßen. Insbesondere wurden die Polygamie und die Verstoßung abgeschafft. Bei der Heirat war fürderhin die Zustimmung beider künftiger Gatten erforderlich. Dieser Angriff auf die Grundlagen der Diskriminierung von Frauen verschaffte den Tunesierinnen eine rechtliche Stellung, wie sie in keinem anderen Land des Maghreb oder des Nahen Ostens bestand.5
In einem Klima der allgemeinen Begeisterung setzte Burgiba die Abschaffung der Monarchie durch und wurde am 25. Juli 1957 der erste Präsident der Republik Tunesien. Gestützt auf eine Partei, die in jedem Winkel des Landes präsent war, ging er das Vorhaben an, Tunesien zu einem modernen Staat zu machen. Als wichtigstes Mittel gegen die Unterentwicklung erschien ihm der kostenlose Zugang zur Bildung: Etwa ein Drittel des Staatshaushalts wurde dafür eingesetzt.
Burgiba kam es darauf an, die Basis seiner Partei zu erweitern und junge Leute in die politische Verantwortung einzubeziehen, aber Demokratie hat er niemals versprochen. Für ihn barg der politische Pluralismus die Gefahr der Spaltung und des Rückfalls in Stammesdenken und Rückwärtsgewandtheit. Nur durch den bestimmenden Einfluss seiner Partei in den Gewerkschaften, die Überwachung der Presse und das Verbot von Oppositionsparteien glaubte er sein Entwicklungsprojekt voranbringen zu können.
Nicht nur seine Gegner, sondern auch ehemalige Mitstreiter wie der frühere Wirtschaftsminister Ahmed Ben Salah, der ehemalige Gewerkschaftsboss Habib Achour und der frühere Ministerpräsident Mohamed Mzali wurden Opfer einer politisch gelenkten Justiz. Zu den Folgen dieser Willkürherrschaft gehörte das Scheitern der Politik der Verstaatlichung der Wirtschaft (für die bis 1969 Ahmed Ben Salah verantwortlich gewesen war), aber auch die tragische Machtprobe vom 26. Januar 1978 zwischen Regierung und Gewerkschaftsführung, ebenso die blutig niedergeschlagenen „Brotkrawalle“ vom Dezember 1983 und Januar 1984. Mit der vorsichtigen politischen Öffnung Anfang der Achtzigerjahre war es rasch vorbei, Burgiba unterdrückte jede eigenständige politische Entwicklung im Land.
Gegen Ende seiner Herrschaft musste die völlig übertrieben dargestellte islamistische Bedrohung für einen Schlag gegen die Zivilgesellschaft herhalten – und beschleunigte nur die Machtübernahme durch den angeblichen Sicherheitsexperten Ben Ali. Scheich Rached Ghannouchi, der seit 1989 im Exil lebende Führer der islamistischen Bewegung Ennahda, ist eine der wenigen politischen Persönlichkeiten, die Burgiba nicht ihre Referenz erwiesen haben. Er bezeichnet ihn als Diktator und wirft ihm vor, den Boden für die Entstehung eines Polizeistaats bereitet zu haben. Auch er räumt jedoch ein, dass „die Ära Burgiba nicht so schlimm war wie die Ära Ben Ali“6 .
Die Islamisten gehörten zu den Ersten, die ihre Fehleinschätzung begriffen, bald gefolgt von Politikern der Linken, den Führern kleiner politischer Gruppierungen und sogar Menschenrechtsaktivisten. Nachdem tausende Islamisten verhaftet worden waren, fanden im Juli 1992 zwei Massenprozesse statt – einige Monate vor dem Beginn dieser Verfahren hatten die Machthaber ein neues Gesetz für Vereine und Verbände erlassen, das lediglich dazu gedacht war, die tunesische Menschenrechtsliga (LTDH) zum Schweigen zu bringen.7 Mehr als dreizehn Jahre des „Wandels“ unter Führung von Präsident Ben Ali mussten vergehen, bis die Tunesier anfingen, den Machtmissbrauch unter Burgiba zu vergessen und in seiner langen Herrschaftszeit trotz allem die „gute alte Zeit“ zu sehen.
Die Zivilgesellschaft beginnt mehr und mehr aufzubegehren. Intellektuelle, Rechtsanwälte, unabhängige Journalisten werden auf Anordung Ben Alis schikaniert und gedemütigt. Manchmal gelingt es ihnen erst durch einen langen Hungerstreik, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Verletzung ihrer elementarsten Grundrechte zu lenken.8 Aber die neueren sozialen Bewegungen, wie sie etwa im Streik der Taxifahrer in Tunis oder in den Demonstrationen von Gymnasiasten im Süden des Landes zum Ausdruck kamen, machen deutlich, dass der Protest gegen die Machthaber wächst.
Die einfachen Leute haben Tränen vergossen, als der „Oberste Kämpfer“ abtrat, und selbst seine früheren Gegner würdigten in ergreifenden Worten seinen Kampf gegen die Unterdrückung durch die Kolonisatoren. Aber lässt sich darauf die Hoffnung gründen, dass die Gesellschaft wach wird und gegen die heutige Willkürherrschaft aufbegehrt?
dt. Edgar Peinelt
* Journalist in Tunesien.