12.05.2000

Plurale Wirtschaft statt Privatisierungswahn

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Plurale Wirtschaft statt Privatisierungswahn

Von RENÉ PASSET *

SEIT den Achtzigerjahren steht der öffentliche Dienst im Namen eines marktwirtschaftlichen Reduktionismus unter massivem Beschuss. Zuerst nahm man den „Wohlfahrtsstaat“ ins Visier. Der nächste Angriff zielte auf den Staat als solchen1, den es zurückzuschrauben („to de-invent“)2 gelte. Um ein edles Motiv vorzuschützen, beklagte man den bürokratischen Zentralismus und die geringe Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes. Befreiung, Liberalisierung, Privatisierung; nieder mit dem öffentlichen Dienst, diesem Ausbund überholter Strukturen, lautet die Parole.

Bevor man den öffentlichen Dienst und den Staat auf den Prüfstand stellt, sollte man sich allerdings mehr Klarheit über die gesellschaftlichen Mechanismen und ihre Regulierung verschaffen. Geht man nämlich davon aus, dass die Wirtschaft nur der individuellen marktwirtschaftlichen Logik folgt, wird der Markt in der Tat zum alleinigen Regulativ. Deshalb können reine Marktwirtschaftler den öffentlichen Wirtschaftsbereich nur als residualen, d. h. nicht von ihnen selbst beherrschten Restbereich denken: „Jede Dienstleistung, die nicht auf marktorientierter Basis oder im Wettbewerb mit einem oder mehreren sonstigen Dienstleistern erbracht wird“, lautet die Definition im Abkommen von Marrakesch aus dem Jahre 1994, der Gründungsurkunde der Welthandelsorganisation (WTO). Überlässt man also einen Wirtschaftsbereich auch nur teilweise dem Markt, müsste er letztendlich insgesamt der Liberalisierung verfallen. Demnach wären auch Gesundheits- und Erziehungswesen „ihrer Natur nach“ privatisierbare Aufgabenbereiche. Die Leistungen des öffentlichen Bereichs würden nur noch an ihrem anerkannten Marktwert gemessen, da aber seine Produkte auf dem Markt nicht gehandelt werden, liegt das Ergebnis auf der Hand: Sie sind wertlos, der öffentliche Bereich verursacht lediglich Kosten.

In einer pluralen Wirtschaftsordnung werden die unterschiedlichen Bereiche dagegen nach ihren Funktionen betrachtet. Sie ist plural sowohl in sich selbst als auch im Sinne der Interdependenz mit anderen Systemen auf anderen Ebenen (Gesellschaft, Natur), deren Funktionsweise und Gesetzmäßigkeiten sie zu beachten hat, will sie sich nicht selbst zerstören.

Rationalität kann individuell und kollektiv bezogen sein. Beide Denkweisen sind interdependent, aber keine lässt sich auf die andere reduzieren. Die eine hat individuelle Bedürfnisse im Auge, die andere das öffentliche Interesse.3 Letztere kümmert sich um kollektive Güter (Leuchttürme, Talsperren, Infrastrukturen), öffentlichen Nutzen (Gesundheit, Erziehung) und die Grundrechte des Einzelnen (Freiheit, Sicherheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Zugang zu gemeinschaftlichen Gütern ...).

Die meisten bewusst denkenden Menschen sind von ihrer Motivation und ihrem Informationsstand darauf gepolt, ihre Bestrebungen auf der Ebene des Individualinteresses zu formulieren. Vor dieser Tatsache kann kein System die Augen verschließen, will es nicht an mangelnder Effizienz, sinnlosen Zwängen und selbstzerstörerischem Handeln zugrunde gehen. An dieser Selbsttäuschung ist die überzentralisierte Wirtschaft des Ostblocks gescheitert. Das Interesse des Einzelnen äußert sich auf dem Markt und bestätigt sich durch Gewinn. Doch ist der Markt für zwei Aufgaben völlig ungeeignet: die Erhaltung der menschlichen Arbeitskraft und der Umwelt.

Kollektive Bedürfnisse ergeben sich nicht aus individuellen Belangen; sie sind anders beschaffen. Ein kollektives Bedürfnis erfüllt keine der Bedingungen einer marktmäßigen Preisbildung. Auf der Nachfrageseite ist die erbrachte Dienstleistung unteilbar, zugleich ist sie aber individuell konsumierbar, ohne dass sie damit anderen entzogen wäre: Der Seemann, der sich durch ein Leuchtfeuer leiten lässt, nutzt dieses ganz (und nicht in kleiner oder großer Menge je nach Preis) und belässt es dennoch gänzlich zur Verfügung seiner Mitmenschen. Anders als bei einem Individualgut kann man daher um den Besitz eines Gemeinschaftsguts nicht streiten. Und der Verbraucher ist in keiner Weise verpflichtet, seine Präferenzen durch ein Preisgebot durchzusetzen, denn niemand droht ihm etwas zu entziehen.

Andererseits entstehen auf der Angebotsseite für Gemeinschaftsgüter keine Grenzkosten: der Bau eines Leuchtturmabschnitts macht keinen Sinn. Man baut ihn ganz oder gar nicht. François Perroux bezeichnet solche Investitionen als „Aufwand für neue Strukturen“.

Da Präferenzerklärungen und Grenzkostenrechnungen keine Rolle spielen, entziehen sich Gemeinschaftsgüter der marktwirtschaftlichen Logik. Ihre Rentabilität lässt sich nicht an Gewinn- und Verlustrechnungen ablesen, sondern an den Ergebnissen der Betriebe, die langfristig in ihrem Umfeld tätig sind. Die wirtschaftliche Effizienz der Eisenbahnen im Verlauf der Geschichte erschließt sich nicht aus ihren Bilanzen, sondern aus ihrem Beitrag zum Wachstum des Bruttosozialprodukts. Ein Defizit kann sich durchaus rechnen, wenn es auf übergeordneter Ebene dazu beiträgt, Wohlstand zu erzeugen.4 Dies gilt besonders für die Bereiche Gesundheit und Erziehung. Sie sind nicht einfach Zwischenprodukte, die an ihrer marktwirtschaftlichen Rentabilität zu messen wären. Sieht man bei diesen öffentlichen Einrichtungen nur ihre Kosten, können sie nach herrschender Meinung nur als höchst unproduktiv gelten. Die eigentliche Frage ist aber, wie viel uns geistige Bildung und der Gesundheitszustand der Menschen wert sind.

Was würde aus der Leistungsfähigkeit der Unternehmen, die angeblich allein für die Wertschöpfung sorgen, wenn ab morgen all die Mahnmale mangelnder Produktivität – wie das Erziehungs- und das Gesundheitswesen, die Infrastrukturen für Verkehr und Kommunikation und alle anderen öffentlichen Dienstleister – von der Bildfläche verschwänden? Die Antwort gibt Saint-Simon in seiner berühmten Parabel: „Mit ihrem Verlust würde unsere Nation zu einem seelenlosen Körper.“ Er könnte selbst den Grabrednern des öffentlichen Dienstes klarmachen, wie es um ihre ach so wundervolle Produktivität bestellt wäre. Sie müssten erkennen, in welchem Maße ihre Leistungsfähigkeit und die bislang gemeinschaftlich getragene finanzielle Belastung durch Ausbildung und Wartung des „menschlichen Materials“ (um die in Unternehmerkreisen übliche Terminologie zu benutzen) auf kollektive Rechnung gegangen ist.

Wie groß wäre hingegen der Verlust, wenn die ganzen Unternehmerverbände und ihr ideologisches Personal sich morgen entschließen würden, einfach abzutreten? Wiederum mit Saint-Simon könnte man kommentieren: „Die Franzosen wären zweifellos sehr betrübt, da es sich um gute Leute handelt. Doch dieser Verlust würde sie nur auf rein gefühlsmäßiger Ebene schmerzen, denn für den Staat würde er nicht den geringsten politischen Schaden bedeuten.“

Die marktwirtschaftliche Logik fordert die größtmögliche Begrenzung der kollektiven, erst langfristig rentablen und über die Gesamtgesellschaft verteilten Investitionen zugunsten direkt und unmittelbar rentabler Aktivitäten. Solch kollektive Investitionen können daher nur durch die öffentliche Hand veranlasst werden, und zwar nach Maßgabe des Gewichts, das man den Bedürfnissen beimisst, die diese Investitionen befriedigen sollen.

Es gibt insofern zwar voneinander abhängige, aber doch getrennte, legitime Betätigungsfelder für die öffentliche Hand und für die Privatwirtschaft. Mit Hilfe des schon betonten Kriteriums eines individuellen oder öffentlichen Nutzens können wir drei Typen von Aktivitäten unterscheiden:

– Aktivitäten zur Befriedigung individueller Bedürfnisse, in denen sich individuelle Handlungsträger betätigen (Konsumenten, Händler, Handwerker, bei Tätigkeiten mit geringen Auswirkungen auf die Gemeinschaft) und die ihrer Natur nach nicht auf gesellschaftliche Wirkungen zielen. Solche Aktivitäten sind eindeutig der Privatinitiative zuzuordnen: Die direkte Intervention des Staates würde hier nur zu unnützen Auflagen führen, die der Dynamik und Anpassungsfähigkeit des Systems abträglich wären;

– Aktivitäten, die ihrer Natur nach unverkennbar einen gesellschaftlichen Nutzen verfolgen und dem öffentlichen Dienst zuzuordnen sind (Gemeinschaftsgüter, Gesundheit, Erziehung, Sicherheit). Sie entziehen sich der marktwirtschaftlichen Logik und müssen von der Gemeinschaft übernommen werden.

– Aktivitäten, die auf dem Markt eine Rentabilisierung erfahren und daher materiell von einer profitorientierten Privatinitiative übernommen werden könnten (Bankgeschäfte, Schwerindustrie, Rüstungsindustrie), an denen aber andererseits wegen ihrer Natur, wegen ihrer Auswirkungen oder wegen der mit ihrer Ausübung verbundenen Macht die Zukunft der Gemeinschaft hängt und die daher den Funktionsträgern dieser Gemeinschaft unterstellt werden sollten. Solche Tätigkeiten sind das Aufgabenfeld der öffentlichen Unternehmen und einer Planung und Kontrolle durch den Staat. So gesehen ist es völliger Unfug, die Rüstungsindustrie oder die Autonomie der Zentralbanken zum Spielball von Privatinteressen zu machen, welche die gesamtgesellschaftlichen Zielsetzungen der partiellen Logik eines Einzelinstruments unterordnen.

Diese drei Typen von Aktivitäten dürfen nicht isoliert betrachtet werden, vielmehr muss man ihre Interdependenzen in Rechnung stellen. Allen dogmatischen Anschauungen zum Trotz resultieren die entscheidenden Fortschritte der neuen Technologien aus ihrer gegenseitigen Kooperation und nicht aus dem Markt allein. Das strategische Mitwirken des Staates, vermittelt durch das Ministerium für Industrie und internationalen Handel (MITI), spielte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts beim Aufstieg Japans zu einem der Hauptakteure im Bereich der Informationstechnologien eine ganz entscheidende Rolle. Und Europa wäre es ohne Intervention der Regierungen nie gelungen, im Bereich Luft- und Raumfahrt den Vereinigten Staaten Konkurrenz zu machen. In Frankreich war das Wachstum des Bruttosozialprodukts nie so stark wie während der „Trente Glorieuses“ (1950 bis 1980), als eine flexible Planungspolitik die Prioritäten festlegte und gleichzeitig der freien Initiative der Einzelnen genügend Raum ließ. Wenn die Pioniere des Silicon Valley in den Vereinigten Staaten in den Siebzigerjahren die technologische Evolution in flexibler und dezentralisierter Weise vorantreiben konnten, so nur dank ihrer Verträge mit dem US-Militär und der Förderung durch das Verteidigungsministerium, die während der letzten dreißig Jahre günstige Vorbedingungen für die Entwicklung dieser Branche geschaffen hatten.

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Privatisierungsoffensive als paradox. Da heißt es, die Aktivitäten der öffentlichen Hand müssten sich zunehmend marktwirtschaftlich orientieren, während andererseits die marktwirtschaftlichen Aktivitäten immer größeren Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Wir haben miterlebt, wie die Informatik durch die Durchdringung aller Tätigkeitsfelder deren gegenseitige Abhängigkeit noch verstärkt; das Bruttosozialprodukt gilt als Gemeinschaftsgut; der technische Fortschritt verstärkt die Macht des Menschen über den Menschen, über das Leben und über das natürliche Umfeld und wirft Probleme auf, die über die marktwirtschaftliche Logik weit hinausgehen.

Die Interdependenzen erstrecken sich auch auf die internationale Ebene: Naturgemäß funktionieren manche Vernetzungen wie TGV- und Flugverbindungen oder die Telekommunikation europaweit oder sogar noch umfassender. Gravierende Probleme für die Menschheit werden sich in naher Zukunft durch globale Umweltverschmutzung oder die Knappheit gewisser Ressourcen wie Wasser ergeben.

All dies erfordert globale Verwaltung. Wir brauchen keine Privatisierungen, sondern die Definition eines authentischen Begriffs vom gemeinschaftlichen Gut der gesamten Menschheit. Vordringlich ist also nicht die Ausweitung der Privatinitiative auf Kosten der öffentlichen Hand, sondern im Gegenteil eine verstärkte Kontrolle der Gemeinschaft über private Aktivitäten, die bedeutende Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Dabei muss „gemeinschaftlich“ nicht unbedingt „staatlich“ bedeuten: Die Sozialträger und Bürgerinitiativen sollten auch ein Wort mitzureden haben innerhalb von Strukturen, die allerdings erst noch zu schaffen wären.

dt. Margrethe Schmeer

* Emeritierter Professor an der Universität Paris I, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bürgervereinigung Attac. Dieser Text stammt aus dem eben erschienen Buch „L’illusion néolibérale“, Paris (Fayard) 2000.

Fußnoten: 1 Riccardo Petrella, „Mondialisation, services publics et Europe: se battre pour la citoyenneté“, Transversales Science/Culture Nr. 37, Paris, Janunar/Februar 1996. 2 „De-inventing the State“, The Economist, London 20. Mai 1995. 3 Es gibt zahlreiche Länder, in denen man nicht von öffentlichen Diensten spricht, sondern von Tätigkeiten und Diensten „von allgemeinem Interesse“. Diese Ausdrucksweise trifft genau, was hier gesagt wird. 4 Fügen wir hinzu, dass es in der Logik eines Gemeinschaftsguts liegt, ein im Vergleich zu den zu befriedigenden Bedürfnissen überschüssiges Potential zu mobilisieren: Eine Brücke oder Talsperre wird für eine lange Nutzungsdauer gebaut. Ihr Zweck ist eher, neue Aktivitäten zu schaffen, die neue Bedürfnisse erzeugen, als nur die gerade schon existierenden abzudecken. Es wäre unvernünftig, wenn sie sofort nach ihrer Inbetriebnahme voll genutzt würden. Das Kapital, das sie mobilisieren, kann mithin nicht sofort rentabilisiert werden, sondern erst langfristig, was für Privatinvestoren uninteressant ist.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von RENÉ PASSET