12.05.2000

Callcenter – Hilfsarbeit am Telefon

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Callcenter – Hilfsarbeit am Telefon

VERMÖGEN UND UNVERMÖGEN DER NEUEN ÖKONOMIE

GRÜN“, „Himmelblau“, „Indigo“, 0800, 0801, 0802. All diese simplen Telefonnummern, die aus dem französischen Verbraucheralltag seit einigen Jahren nicht mehr wegzudenken sind, entspringen einer raffinierten Marketingstrategie: Unter dem Vorwand, Produktinformationen zu liefern, sind die Unternehmen immer mehr darauf aus, mit dem Verbraucher telefonisch in Kontakt zu treten. Wie Marketing-Fachzeitschriften ständig hervorheben, ist der Kunde „neben der Marke das wertvollste Kapital der Firma“.1 Wer aber von kontinuierlichem Kontakt zum Kunden spricht, hat vor allem zusätzliche Verkaufsmöglichkeiten im Auge oder, profimäßig ausgedrückt, „die Strategie des kleinen Vorteils: Wie verwandelt man einen Beschwerdeanruf in einen positiven Geschäftskontakt?“2

Zwar gab es in manchen Firmen schon seit längerem eine telefonische Kundenbetreuung oder Beschwerdeabteilung, die den Kunden zu informieren oder sogar Geschäfte mit ihm abzuwickeln hatte. Doch diese Dienstleistungen blieben im Anfangsstadium stecken. Seitdem haben sich die Zeiten geändert. Glaubt man den Marketingstrategen, „ist unter den heutigen extremen Wettbewerbsbedingungen die Zufriedenheit des Kunden ein vorrangiges Ziel für die Unternehmen, wobei die Werbung eines neuen Kunden bis zum Fünfundzwanzigfachen der Summe kosten darf, die für die dauerhafte Bindung eines alten Kunden ausgegeben wird“.

Ermöglicht wird diese „Industrialisierung“ der Kundenbeziehung durch die Entwicklung der Telekommunikation in Verbindung mit der elektronischen Datenverarbeitung. So lassen sich mit Hilfe von ACD (Automatic Call Distribution) hunderte von Anrufen gleichzeitig betreuen, indem man sie auf die jeweils verfügbaren Operatoren verteilt und damit die Wartezeit der Kunden verkürzt. Andere Systeme wie CTI (Computer Telephony Integration) blenden Informationen für den Kunden auf einem Bildschirm ein, noch ehe die telefonische Verbindung hergestellt ist.

Seit etwa vier oder fünf Jahren gibt es eine ständig wachsende Zahl gigantischer Callcenter, in denen mitunter mehrere hundert Leute arbeiten. Ihre Tätigkeit besteht einerseits darin, eine ganze Palette an Dienstleistungen anzubieten, vom Verkauf von Kapitalanlagen oder Krediten über den traditionellen Kundendienst und technische oder Finanzierungshilfe bis hin zu Reisebuchungen. Doch vor allem verschaffen sie den Firmen unmittelbaren Zugang zum Kunden selbst und ermöglichen ihnen eine – um im kommerziellen Jargon zu bleiben – „zielgruppengerechtere Positionierung ihrer Produkte im Bereich der Kleinkonsumenten“, und das alles rund um die Uhr, ganz besonders aber abends und am Wochenende und ohne jeden außendienstlichen Aufwand: Man sammelt und katalogisiert Informationen über einen bestimmten Kunden, die sich bei den nächsten Verkaufsaktionen möglicherweise Gewinn bringend verwerten lassen.3 Diese Callcenter breiten sich derzeit in ganz Europa aus. Auch in Frankreich entsteht so ein dichtes telefonisches Spinnennetz, wobei jedes Individuum zum potentiellen Kunden wird, der bis in sein Wohnzimmer hinein verfolgt werden muss.

Unternehmen der traditionellen Wirtschaft – Versandhandel, Banken, Versicherungen und Kreditinstitute – haben ihre Callcenter stark ausgebaut, über die sie ihre Aktivitäten zum Teil direkt betreiben. Andere Firmen aus dem Bereich der „neuen Ökonomie“ (wie France Télécom, AOL, Bouygues-Télécom oder Cégétel) rüsten ihre Telefonzentralen auf, um die technischen und kommerziellen Probleme bewältigen zu können, die bei der zunehmenden Verbreitung von Notebooks, PCs oder Internetanschlüssen für ein noch unerfahrenes Publikum entstehen können. Gesellschaften wie Atos, Téléperformance, Qualiphone oder Ceritex, die eigens gegründet wurden, um diesen neuen Markt zu erobern, erledigen für vertriebsstarke Großunternehmen der Nahrungsmittelindustrie4 oder der Medien5 die Kundenbetreuung als Subunternehmer – ähnlich wie auch schon Buchhaltung oder Büroreinigung ausgelagert wurden.

Eine Stadt wird zur Telefonzentrale

VIELE dieser Callcenter siedeln sich vorzugsweise in Regionen an, die besonders hart von der Krise betroffen sind, wie etwa im Nord-Pas-de-Calais, in der Picardie oder in Lothringen. Von den lokalen Behörden werden sie denn auch mit verlockenden Angeboten geködert: mit großen, voll ausgestatteten Gewerbeflächen, Steuerermäßigungen und Zollfreiheit, Kostenbefreiung und regionalen Unterstützungsfonds. So hat etwa der Regionalrat des Nord-Pas-de-Calais der Eröffnung zweier großer Callcenter in der Nähe des Universitätsgeländes von Villeneuve d'Ascq zugestimmt: France Télécom Mobiles Services (FTMS), eine privatrechtliche Tochterfirma von France Télécom, die das Handyangebot des Mobilfunkunternehmens Ola managt, und Atos, ein Unternehmen, das die Kundenbetreuung für Wanadoo, den Internet-Provider der France Télécom, übernommen hat (FTMS wurden 3,7 Millionen, Atos 4 Millionen Franc an Subventionen bewilligt).

Gilles de Robien, Bürgermeister von Amiens, versucht seine Stadt in eine einzige gigantische Telefonzentrale zu verwandeln. Herzstück seiner ökonomischen Ankurbelungspolitik sind der Bau eines hochleistungsfähigen Fernmeldenetzes, eines „Callcenter-Hotels“, Zollfreiheit usw. Mit Hilfe eines Fonds von Risikokapital nach US-amerikanischem Modell sollen in der Hauptstadt der Picardie verschiedene Callcenter eröffnet werden (wie Intra, Coriolis oder Kertel von der Gruppe Pinault-Printemps-La Redoute). Die Handelskammern und Berufsschulen richten überall die entsprechenden Ausbildungsgänge ein und profitieren so vom Geldsegen, der auf diesen Sektor niedergeht.

Diese Callcenter, die viele Arbeitsplätze schaffen, sind für alle staatlichen Stellen ein Geschenk des Himmels – auch für die Abgeordneten, die darauf aus sind, die Zahl der Arbeitslosen zu verringern. FTMS hat innerhalb weniger Monate über 500 Telefonberater für ihr Nordnetz eingestellt. Atos beschäftigt an die 300 feste Mitarbeiter, zu denen vor Jahresende weitere 400 hinzukommen sollen. AOL France mit Sitz in Lens hat 170 Angestellte, die mit 450 000 Abonnenten in ständigem Kontakt stehen. Die Callcenter von Amiens, die im Augenblick bereits über 1 200 Telefonberater beschäftigen, gehen davon aus, dass es im nächsten Jahr an die 3 000 sein werden.

In ganz Frankreich soll es in diesem Sektor zwischen 120 000 und 150 000 Beschäftigte geben, das wären doppelt so viele wie noch 1997. Zum Vergleich: Ein Unternehmen wie Aluminium Dunkerque produziert mit nur 600 Angestellten die Hälfte des gesamten französischen Aluminiums. Für diese dicht besiedelten Regionen, in denen die Arbeitslosenquote vier bis fünf Punkte über dem nationalen Durchschnitt liegt, springen diese Dienstleistungsfirmen also für den industriellen Sektor in die Bresche, wo zur Zeit keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Auch wenn die Medien nicht gerade häufig darüber berichten: Für den gegenwärtigen Aufschwung sind die Zehntausende von Telefonberater-Stellen nicht unerheblich. Zum Vergleich: Die vierzehn neu gegründeten Unternehmen, die in dem luxuriösen Pariser Bürohaus „Republic Alley“ logieren, beschäftigen lediglich 110 Angestellte.

Die Callcenter haben einen schlechten Ruf, und der Slogan eines dieser Unternehmen, des in Belgien installierten D. Line Call Center, bringt das Leben der Telefonberater voll auf den Nenner: „Sieben Tage in der Woche, rund um die Uhr zu Ihren Diensten, Dynamik, Vielseitigkeit, leichte Anpassungsfähigkeit, niemals krank, kein Zuspätkommen und vor allem – keine Ferien.“ Wechselschichten, grenzenlose Flexibilität, Teilzeitbeschäftigung, veränderliche Arbeitszeiten, befristete Verträge für 30 oder sogar 40 Prozent des gesamten Personals, niedrige Gehälter, schwerfällige Hierarchie – das alles ist für sehr viele dieser einfachen Befehlsempfänger der neuen Ökonomie der normale Alltag. Verschärfend kommt hinzu, dass die Angestellten dieser modernen Dienstleistungsfabrik aus Gründen der Rentabilität zu Hunderten in einem einzigen Großraumbüro arbeiten müssen, in riesigen Sälen nebeneinander sitzend, die Kopfhörer auf die Ohren gepresst und die Nase auf den Monitor ihres PCs fixiert.

Das Management freilich gibt sich „cool“, „ganz amerikanisch“: An der Duzerei kommt keiner vorbei, und bei so genannten Casino-Abenden wird die Gemeinsamkeit von Hierarchie und Basis beschworen. Doch wehe, wenn man sich dieser Unternehmenskultur verweigert: Dann werden die befristeten Arbeits- und Teilzeitverträge nicht erneuert, und wer fest angestellt ist, verliert die Prämien. Bei AOL ist jeder Telefonberater einem „jährlichen Progressionsplan“ unterworfen. Die von den Supervisoren vorgenommene Bewertung reicht beispielsweise in der Kategorie „Flexibilität und Anpassungsfähigkeit“ von: „Reagiert immer positiv auf Veränderungen – sehr fortschrittsbejahende Einstellung“ bis zu der (sanktionswürdigen) Feststellung: „Lehnt Veränderungen ab – zeigt immer wieder seine Missbilligung“. Beurteilt werden auch „Kreativität/Initiative“, die man freilich kaum entfalten kann, da ein Beratungsgespräch mit den Kunden im Durchschnitt nur drei Minuten dauert.

Die Beziehung zum Kunden unterliegt einem ausgesprochen rigiden Regelwerk. In den meisten Unternehmen hat sich der Mitarbeiter in jeder Gesprächsphase nach einer Art „Bibel“ zu richten. Ausdrücke wie „voilà“ – so genannte „schwarze Wörter“ – sind untersagt. Bestimmte Floskeln – so genannte „weiße Wörter“ – sind dagegen obligatorisch: „absolut“, „selbstverständlich“. Der Kunde wird regelrecht infantilisiert: Phrasen wie „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, „Darum werde ich mich ganz persönlich kümmern“ sollen ihn beruhigen. Fragen müssen ständig wiederholt werden, auch auf die Gefahr hin, als geistig beschränkt zu erscheinen. Ein Verstoß gegen diese Regeln kann für den Telefonberater auch finanzielle Sanktionen nach sich ziehen.

Gelegentlich hören die Supervisoren die Kundengespräche auch über Kopfhörer mit, deren Urteil ist dann für die Prämien maßgebend. Bei FTMS etwa gibt es für den Mitarbeiter in jeder Phase des Gesprächs eine Bewertung von 0 bis 4. Ein Gespräch mit einem schlichten „au revoir monsieur“ zu beenden, kann zwei Punkte Abzug bedeuten, denn man darf nie vergessen, den Namen des Kunden auszusprechen. Bei Finaref werden die vorgeschriebenen Formeln auf einem Teleprompter eingeblendet. Gespielte Herzlichkeit soll darüber hinwegtäuschen, dass es im Grunde nur darum geht, dem Kunden Informationen zu entlocken, die sich bei den nächsten Anrufen als höchst wertvoll erweisen könnten. Und schließlich muss der Telefonberater immer daran denken, dem leicht beeinflussbaren Kunden noch weitere Dienstleistungen anzubieten. Die AOL-Leitung charakterisiert diese Fähigkeit so: „Schafft es meistens, einen Kompromiss zu finden und zusätzliche Angebote zu verkaufen.“

Dominique Dessors, Mitarbeiter am arbeitspsychologischen Forschungslabor des Conservatoire national des arts et métiers (CNAM), sieht die Telefonberater in ihrer Arbeit einem doppelten Zwang ausgesetzt: „Der so genannte kommerzielle Telefondialog stellt häufig eine schwierige Situation dar, denn einerseits ist der Operator, der ja bestimmten Zielvorgaben unterliegt, in seinen Ausdrucksmöglichkeiten festgelegt, und andererseits ist auch der Kunde selbst durch das Geschäftsprocedere konditioniert. Der Kunde wird schließlich nicht so sehr wegen seiner tatsächlichen Bedürfnisse kontaktiert, vielmehr geht es darum, ihm bestimmte Bedürfnisse nahe zu bringen, die er als solche nicht empfindet. Daraus resultiert eine zwanghafte Situation, wobei die geschäftliche Beziehung sich in einem Falle darauf reduziert, den anderen rumzukriegen, und im anderen Falle, sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Dieser Zwang ist für die Telefonisten nur schwer zu ertragen, woraus sich auch die hohe Rotationsquote bei diesen Posten erklärt.“

Zahlreiche Telefonberater haben im Übrigen höhere Schul- bzw. Studienabschlüsse – die meisten Callcenter stellen nur Abiturienten ein, die mindestens zwei, wenn nicht drei oder sogar vier zusätzliche Ausbildungsjahre vorzuweisen haben – und gehören jener Altersgruppe an, die von der seit zwanzig Jahren propagierten „Demokratisierung“ des Unterrichtssystems profitiert hat und gleichzeitig ihr „Opfer“ geworden ist.

In diesen Firmen findet man immer wieder geistes- oder naturwissenschaftliche Lehramtskandidaten, die das zweite Staatsexamen nicht geschafft haben oder beim Auswahlverfahren für Lehrer an Eliteschulen gescheitert sind. Viele dieser Akademiker – zumal wenn sie Studiengänge wie Literatur, Geschichte, AES (Verwaltungs-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften) oder LEA (Angewandte Fremdsprachen) an Provinzuniversitäten absolviert haben – tun sich oft schwer, ihre akademischen Titel auf dem überfüllten Markt der Diplome zu Geld zu machen. Zu dem aus dem Telefonkontakt resultierenden Gewaltverhältnis kommt dann noch ein gesellschaftlicher Minderwertigkeitskomplex, der auf die berufliche Unterbewertung zurückgeht.6

Dominique Dessors hat festgestellt, dass „bestimmte Telefonisten ihre Anrufe wie Schauspieler gestalten. Es findet eine Art Wettbewerb statt, bei dem diejenigen Anrufe ausgezeichnet werden, die am besten ,nach Art von‘ gespielt sind. Diese defensiven Strategien kommen nicht von ungefähr. Viele Mitarbeiter simulieren sich damit ein besseres Leben als das, welches ihnen aufgezwungen ist. Zudem kann man durch ein solches Spiel, das auch noch auf einen kommerziellen Erfolg zielt, indem man eine Show inszeniert, einer ansonsten äußerst repetitiven Arbeit zumindest einen kleinen Reiz abgewinnen. Und vor allem kann man damit den anderen Telefonisten signalisieren, dass man nicht wirklich tut, was man gerade tut.“

Die Angestellten dieser Unternehmen sind also keine Wanderarbeiter außerhalb jeder Hierarchie. Ihre Arbeitsbedingungen erinnern in gewisser Hinsicht an die ihrer Großeltern, die sich als Hilfsarbeiter verdingen mussten. Doch im Unterschied zu ihren Vorfahren ist ihr Mobilisierungspotential stark unterentwickelt. In manchen Callcentern hat es zwar sporadisch Arbeitskämpfe gegeben7 , und auch Gewerkschaftsstrukturen haben sich ansatzweise herausgebildet. Doch sich gewerkschaftlich zu organisieren und Forderungen zu stellen wäre für diese „schulisch Unterqualifizierten“ gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass sie Arbeitskräfte sind, die von der so hoch gepriesenen neuen Ökonomie ausgebeutet werden. Damit aber würden sie ihr gesellschaftliches Scheitern eingestehen.

dt. Matthias Wolf

* Journalist

Fußnoten: 1 Siehe „Réinventer la relation client“, L'Art de l'entreprise globale, 31. Oktober 1998. 2 So die Empfehlung des Direktors der Telefonzentrale von AOL France in Lens, im Firmenjournal vom März 1999 adressiert an die 150 Telefonberater seines Kundendienstes. 3 Über das Internet lassen sich unbegrenzte Informationen über den Verbraucher einholen. Siehe hierzu Dan Schiller, „Die Spinne hockt im Web“, Le Monde diplomatique, Februar 2000. 4 Die Jogurtbecher von Danone tragen eine grüne (kostenlose) Telefonnummer, über die rund um die Uhr zum Beispiel die Zutaten des betreffenden Jogurts erfragt werden können. 5 Die Pressegruppe Emap überlässt dem in Amiens ansässigen Unternehmen InterCall Center die Kundenbetreuung für seine Zeitschriften, vor allem für Modes et Travaux, Top Santé und 30 Millions d'amis. Der Fernsehsender M 6 überträgt diese Aufgabe für seinen Online-Shopping-Dienst „Club Téléachat“ dem Unternehmen Atos. 6 Siehe hierzu Stéphane Beaud und Michel Pialloux, „Retour sur la condition ouvrière“, Paris (Fayard) 1999. 7 Ein Teil der Telefonberater der Atos-Gruppe folgte im Dezember 1999 einem Aufruf der CGT und trat eine Woche lang in den Ausstand. Die 1 000 Mitarbeiter der Betriebe in Blois und Paris protestierten – unter anderem – gegen die hohe Arbeitsbelastung (10, 11 oder sogar 12 Anrufe pro Stunde) und forderten eine Verlängerung der täglichen Pausen sowie Gehaltserhöhungen.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von GILLES BALBASTRE