12.05.2000

Der Mythos globaler Prosperität

zurück

Der Mythos globaler Prosperität

DIE Neue Ökonomie, die sich offenbar zum neuen Paradigma unserer Zeit entwickelt, lässt sich zunächst vielleicht am besten durch einige Beispiele veranschaulichen: Unternehmen vermarkten ihre Produkte via Internet; Geschäftsleute verfolgen die Kursentwicklung ihrer Aktien per Handy; multinationale Unternehmen erledigen ihren internen Geschäftsverkehr über das Web.

Zur genaueren Definition des neuen Paradigmas müssen wir, wie Bernard Maître und Grégoire Aladjidi in ihrem Standardwerk1 formulieren, die „drei Grundbestandteile [der Neuen Ökonomie] ins Auge fassen: ihren Rohstoff, ihre Energiequelle und ihr Transportmittel“.

Als Rohstoff lässt sich die meist in digitaler Form vorliegende Information identifizieren. Die zur „Verarbeitung, Umwandlung und Organisation“ dieses Rohstoffs nötige Energie liefert nicht die Elektrizität, sondern „die Elektronik, namentlich die Halbleiterindustrie“. Als Transportmittel schließlich spielen die „Datennetze und in ihrem Zentrum das Internet“ die entscheidende Rolle: Sie sind das unentbehrliche Mittel, um Informationen in jedweder Form, einschließlich Ton- und Bildmaterial, an ihren Bestimmungort zu übertragen.

Allgemein bekannt wurde der Begriff „Neue Ökonomie“ im Dezember 1996, als das amerikanische Wirtschaftsmagazin Business Week auf seiner Titelseite das neue Wirtschaftswunder feierte. „Seit Anfang 1995 ist der Markt um sage und schreibe 65 Prozent gewachsen. Spielt der Markt verrückt? Nicht wirklich.“ Denn, so die Zeitschrift weiter, „eine neue Ökonomie, basierend auf globalen Märkten und der Computerrevolution, ist im Entstehen begriffen. Seit Anfang der Achtzigerjahre vollzieht sich in der amerikanischen Wirtschaft eine grundlegende Umstrukturierung, die sich in den letzten Jahren zusehends beschleunigt hat. Seither entfällt ein Drittel des Wachstums auf Investitionen in Computer- und Telekommunikationsanlagen. Ob in der Internet- oder der Fernsehindustrie, im gesamten Informationssektor schießen neue Unternehmen wie Pilze aus dem Boden, um die modernen Spitzentechnologien profitabel anzuwenden.“

Kommunikation wird zur Ware

DIE neue Vokabel, die anfangs nur eine im Fluidum elektronischer Netze expandierende Wirtschaftsform beschreiben sollte, hat sich durchgesetzt. Heute bezieht sich „Neue Ökonomie“ nicht mehr nur auf die wachsende Bedeutung der neuen Informationstechnologien, sondern beschreibt nachgerade ein Gesellschaftsprojekt, ein neues Wirtschaftsmodell, das mit dem zyklischen Wechsel von Wachstum und Rezession gründlich aufgeräumt habe.

Das beispiellose „Hyperwachstum“ der letzten zehn Jahre, lautet ein gängiges Argumentationsmuster, sei auf hohe Produktivitätszuwächse zurückzuführen, die wiederum aus rekordverdächtigen Investitionsquoten bei niedrigen Inflationsraten und niedriger Arbeitslosigkeit resultieren. Demgegenüber weist Anton Brender in seiner bahnbrechenden Untersuchung über „Das neue Zeitalter der amerikanischen Wirtschaft“2 darauf hin, dass das anhaltende Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten in erster Linie auf geschickte mikroökonomische Strategien im Rahmen eines zunehmend flexiblen und deregulierten liberalen Umfelds zurückgeht.

Glaubt man den Wortführern der neuen inflationslosen Ökonomie, so ist für die betriebswirtschaftliche Strategiebildung die zentrale Kategorie nicht mehr Gewinn, sondern Wachstum. Nicht mehr die Lieferanten, sondern die Kunden halten angeblich alle Macht in Händen. Und es bilde sich ein unbeschränkter Wettbewerb heraus, zumal im Internet. Die neue Ökonomie agiere global, verarbeite vornehmlich immaterielle Güter wie Informationen und sei hochgradig verflochten. Vernetzte Systeme bieten die Möglichkeit, das Endprodukt maßgerecht nach Kundenwunsch zu fertigen, was potentiell gigantische neue Märkte eröffne. Nach dieser Theorie bilden Datenverarbeitung, Globalisierung und Flexibilität das Herzstück einer dritten industriellen Revolution.

Dieses Gestrüpp aus Halbwahrheiten hat sich über alle Industrieländer verbreitet. Als Beispiel unter tausenden anderen sei hier der Chef des französischen Software-Hauses „BVRP Software“ Bruno Vanryb zitiert: „Neue Ökonomie bedeutet mehr Finanzen, mehr Börse, mehr Konkurrenz, mehr Gruppenarbeit, mehr Wachstum und mehr Dienstleistungen, hingegen weniger Zeitverbrauch und schrumpfende Entfernungen. Die Unternehmen der neuen Ökonomie verzeichnen jährliche Wachstumsraten von 200, 300, ja 600 Prozent. Sobald ein neues Produkt auf den Markt kommt, ziehen die Mitbewerber innerhalb von zwei oder drei Monaten nach. Mehr Finanz und mehr Börse heißt: Unternehmen können an der Börse Kapital mobilisieren und für Akquisitionen verwenden. Mehr Börse beschleunigt das Unternehmenswachstum: Man kann seinen Umsatz und seine Marktpräsenz schneller steigern. Mehr Dienstleistungen heißt: Wer Abonnements verkauft, muss seine Abonnenten zufriedenstellen, und dabei kann sich das Geschäftmodell jeden Monat ändern. Mehr Gruppenarbeit heißt, dass die Beschäftigten ein wirkliches ,Team‘ bilden. Sie sind über Aktienoptionen am Wertzuwachs des Unternehmens beteiligt. Die Entwicklung eines Unternehmens hängt folglich nicht mehr allein von der Geschäftsführung ab, sondern vom Team. Das Internet wirkt als ,Booster‘, als Beschleunigungsfaktor. Die neue Ökonomie gab es schon vor dem Internet, aber mit dem Internet können neue ,Start-ups‘ in kürzester Zeit den Weltmarkt erobern.“3

Manuel Castells4 , einer der Gurus der neuen Ökonomie, glaubt eine Umstrukturierung des Kapitalismus zu erkennen. Die neue Ökonomie bilde den Endpunkt einer Entwicklung, die vor zwanzig Jahren begonnen hat. Die neuen Technologien fördern die Expansion des E-Commerce, die Automatisierung des Produktions- und Bestellsystems und die Auslagerung von Geschäftsabläufen. Dieser Wandel geht einher mit einer grundlegenden Umstrukturierung des Arbeitsmarktes. Die USA beseitigen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt durch eine offene Einwanderungspolitik, durch massiven Import qualifizierter Arbeitskräfte. Gary S. Becker, 1992 Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, erklärt hierzu: „Um die neue Ökonomie zu konsolidieren, liegt es im Interesse der Vereinigten Staaten, eine effiziente Einwanderungspolitik zu entwickeln, insbesondere im Blick auf junge Hochschulabgänger. Wir haben derzeit die einzigartige Gelegenheit, das Humankapital unseres Landes zu verdichten.“

Aber die Lobredner der neuen Wirtschaftsweise gehen noch einen Schritt weiter: Die neue Ökonomie biete die Chance zu „empowerment“, zu vermehrter Eigeninitiative und Selbstverwirklichung. Manuel Castells etwa prophezeit einen „individualisierten, dezentralisierten Kapitalismus. Mit dem Internet können sich alle Menschen zu individuellen Kapitalisten machen. Das Modell Silicon Valley nimmt diese Entwicklung vorweg: Der wichtigste Lohnbestandteil sind hier Aktienoptionen und Unternehmensanteile. Die Mitarbeiter fühlen sich eher als Aktionäre denn als Arbeitnehmer. Und wenn sie ihre Anteile verkaufen, können sie ihr Geld via Internet problemlos woanders anlegen.“5

Doch etliche Beobachter haben, was die neue industrielle Revolution betrifft, durchaus Vorbehalte. Andrew Shapiro, Leiter des Internet Policy Project am Aspen Institute, hält die überschwängliche Begeisterung für verfehlt: „Wir dürfen nicht nur die Indikatoren betrachten, auf die sich die Wortführer der neuen Ökonomie berufen. Es stimmt zwar, dass wir es mit einer informationsbasierten postindustriellen Wirtschaft zu tun haben, aber ob wir deshalb einer noch nie dagewesenen weltweiten Prosperitätsphase entgegensehen, ist doch recht fraglich. (...) Schließlich gehört zur neuen Ökonomie auch, dass die Macht der Regierungen schwindet, dass der Einzelne ein klein wenig mehr Macht besitzt, dass die Unternehmen aber einen ungeheuren Machtzuwachs erfahren und Gesetzgebung und staatliche Politik diktieren.“6

André Gauron, Ökonom und Berater des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Pierre Bérégovoy, verweist auf eine weitere Dimension, die in der Diskussion über die neue Ökonomie meist unter den Tisch fällt. „Das größte Manko der neuen Lehre ist ihr ausschließlich technologischer Problemansatz. Damit zielt sie am Wesentlichen vorbei. Das Neue an den Informationstechnologien ist nicht die Digitaltechnik, sondern der Umstand, dass ein wichtiger Bereich menschlicher Tätigkeit – die Kommunikation – zur Ware wird. Diese Entwicklung hatte sich schon mit der Erfindung von Telefon, Radio, Schallplatte und Fernsehen angebahnt. Neu ist jedoch, dass sämtliche Kommunikationsformen konvergieren, dass sie in ein Gerät verkapselt und auf eine Ware reduziert sind. Damit bemächtigt sich der Markt einer genuin menschlichen Beziehung. Er schiebt seine innere Grenze immer weiter vor und vereinnahmt ein riesiges Territorium, auf dem Geldbeziehungen bisher (fast) keine Rolle spielten.“7

Darüber hinaus kritisieren viele Experten an der neuen Ökonomie, dass die betreffenden Unternehmen die Realwirtschaft gefährden. Seit 1997 ist die Spekulation mit Internet-Aktien zu einer gigantischen Finanzblase angewachsen. Viele Internet-Firmen, die von schwarzen Zahlen noch weit entfernt sind und teilweise Rekordverluste schreiben, realisieren an der Börse hohe Kursgewinne. Erstmals in der Wirtschaftsgeschichte verzeichnen so viele börsennotierte Unternehmen mit negativen Betriebsergebnissen innerhalb weniger Wochen Wertzuwächse von mitunter über 100 Prozent. Ein Analytiker von Goldman Sachs warnt: „Diese Unternehmen locken die Anleger mit dem Versprechen von künftigen Gewinnen. Wir gehen alle davon aus, dass sich darunter das Microsoft von morgen befindet. Dennoch sollten wir uns nichts vormachen: Dutzende dieser Unternehmen werden verschwinden, Ersparnisse in Millionenhöhe werden sich in Rauch auflösen.“

Net-Ökonomie und Schutz der Privatsphäre

ZUDEM ist es eine erwiesene Tatsache, dass die amerikanischen Mittelschichten nicht mehr sparen, sondern in Erwartung hoher Börsengewinne kräftig konsumieren. Ein massiver und dauerhafter Kurseinbruch, der durchaus im Bereich des Möglichen liegt, würde die Aufwärtsentwicklung bei den amerikanischen Konsumausgaben in kürzester Zeit stoppen. Die verschuldeten Haushalte würden ihre Konsumwut drosseln und damit die Wirtschaft der anderen Industrieländer in Mitleidenschaft ziehen.

In diesem Zusammenhang befürchten einige Ökonomen seit Herbst 1999 ein Wiederaufleben der Inflation. US-Notenbankpräsident Alan Greenspan sah sich im Laufe des vergangenen Jahres dreimal genötigt, die Zinssätze anzuheben, um das Preisniveau zu stabilisieren. Die Inflationsgefahr nimmt im selben Maß zu, wie der wirtschaftliche Aufschwung auf Europa, Asien und Lateinamerika übergreift. Die Anleger könnten versucht sein, ihr Geld in diesen Ländern zu platzieren, was einen Kursverfall des Dollar und eine erneute Inflation auslösen würde. Diese Gefahr nimmt immer deutlichere Konturen an, seit die Märkte und Finanzplätze merklich instabiler geworden sind, weil die Kursentwicklung der führenden Börsentitel der neuen Ökonomie immer mehr nach unten geht.

„Die heutige Situation ist in der Börsengeschichte absolut einmalig“, meint Catherine Mann vom Institute of International Economics in Washington. „Wir haben Start-ups, deren Aktien von heute auf morgen in die Höhe schießen, obwohl sie noch kaum Werte geschaffen haben. Deshalb können sie von heute auf morgen genauso gut wieder verschwinden – was auf den Finanzplätzen zusätzlich für Verunsicherung sorgt.“

„Ich denke, dass sich die Wirtschaft nach wie vor zyklisch entwickelt. Wenn die Anleger darauf nicht vorbereitet sind, wenn sie nur auf die strukturellen Veränderungen starren, werden sie leiden müssen“, erklärte Stephen Roach, Chefökonom der Bank Morgan Stanley, Dean Witter & Co, am 21. April 2000 gegenüber Le Monde. Auch Roach sieht den Wandel von der alten zur neuen Ökonomie durch ein mögliches Wiederaufleben der Inflation gefährdet.

Doch während an der unverschämten Robustheit der US-Wirtschaft langsam Zweifel aufkommen und sich auf sämtlichen Börsenplätzen Verunsicherung breit macht, kommt eine am 19. April veröffentlichte Studie8 der National Association for Business Economics (Nabe) zu dem Ergebnis, dass die US-Unternehmen ihre Unternehmensorganisation, ihre Geschäftsmodelle und Marketing-Strategien grundlegend umstrukturieren, um mit der wachsenden Konkurrenz der Internet-Firmen mithalten zu können.

Nach dieser Studie haben bereits ein Viertel der 107 befragten Unternehmen ihre Betriebsorganisation umgestellt. 19 Prozent haben ihre Geschäftsvorhaben radikal verändert, und 24 Prozent haben ihre Verkaufs- und Marketingstrategien um die Möglichkeiten des E-Commerce erweitert. Ein knappes Drittel der Befragten hat seine Wettbewerbsfähigkeit durch Einsatz des Internet „stark“, 43 Prozent „ein wenig“ verbessert. Jedes fünfte Unternehmen nutzt das Internet im Ein- und Verkauf, weitere 20 Prozent verfolgen entsprechende Planungen. Ein gutes Drittel der Befragten konnte durch Einsatz des Internet den Absatz steigern, 47 Prozent das Produktionsvolumen.

Das Jahr 1999 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem das Internet die amerikanische Wirtschaft eroberte. Vieles spricht indes dafür, dass die neue Ökonomie, wie Kevin Kelly in seinem Buch „New Rules for the New Economy“ schreibt, die alte Ökonomie nicht ersetzen, sondern nur überlagern und infiltrieren wird.

Doch damit ist die Internet-Problematik bei weitem nicht erschöpft. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die neue Ökonomie vielfach in Konflikt gerät mit dem Anspruch auf Schutz der Privatsphäre. Personenbezogene Daten werden meist ohne Wissen der Betroffenen im Netz herumgereicht, verkauft und ausgetauscht – eine Praxis, die von den Regierungen bisher nicht genügend beachtet wurde. Darüber hinaus entwickelt sich die Net-Ökonomie keineswegs flächendeckend. Während die Länder der nördlichen Hemisphäre Milliarden von Dollar in die Infrastruktur investieren (Glasfaserkabel, Mobiltelefonie, Computereinsatz in Schulen, Verwaltung usw.), bleiben die südlichen Länder mangels finanzieller Mittel immer weiter zurück. Nachdem sie bereits die industrielle Revolution versäumt haben, laufen sie nun Gefahr, den Anschluss an die Weltwirtschaft zu verpassen.

dt. Bodo Schulze

* Marc Laimé ist Fachjournalist, Akram B. Ellyas Journalist bei „La Tribune“.

Fußnoten: 1 Bernard Maître und Grégoire Aladjidi, „Les business models de la nouvelle économie“, Paris (Dunod) 1999. 2 Anton Brender, „Le Nouvel âge de l'économie américaine“, Paris (Éditions Économica) 1999. 3 Forum de l'Expansion, Oktober 1999. 4 Manuel Castells, „La société en réseaux. Le pouvoir de l'identité-Fin de millénaire“, Paris (Fayard) 1999. 5 Manuel Castells, „L'Internet crée un nouveau capitalisme“, Libération, 5. Juli 1999. 6 Andrew L. Shapiro, „The Control Revolution: how new technology is putting individuals in charge and changing the world we know“, New York (Public Affairs) 1999. 7 André Gauron, „La nouvelle économie et sa monnaie“, Libération, 23. November 1999. 8 Eine Zusammenfassung der Nabe-Studie steht unter http://www.nabe.com/publib/ecomsum.htm.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von MARC LAIMÉ und AKRAM B.ELLYAS