Wenn Genmaterial zur Handelsware wird
DIE Genetiker der staatlichen und privaten Forschungslaboratorien in den wissenschaftlich führenden Industrieländern verfolgen das ehrgeizige Ziel, die DNA-Sequenzen des menschlichen Genoms zu entschlüsseln, um gentechnische Methoden zur Behandlung bestimmter Krankheiten zu entwickeln. Durch den Vergleich der Gene von Kranken und von Gesunden lassen sich pathologisch relevante Gene identifizieren, deren Wirken man durch zu entwickelnde Gegensubstanzen auszuschalten hofft. Die so genannte Pharmakogenetik wird von ihren Befürwortern denn auch als regelrechte Revolution gepriesen, die neben den 400 schon bekannten gentherapeutischen Ansätzen eine Fülle weiterer Behandlungsmethoden verspreche.
Schätzungen zufolge sollen die Umsätze für pharmakogenetische Arzneimittel in den nächsten zehn Jahre auf zig Milliarden Dollar anwachsen; unter anderem will man den großen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Fettleibigkeit und Krebs zu Leibe rücken. Erfolgreiche Forschung in diesem Bereich erfordert jedoch den Zugriff auf DNA-Banken mit Erbmaterial von Kranken, um die pathologisch relevanten Gene isolieren zu können. Hunderte solcher DNA-Banken sind in den letzten Jahren überall auf der Welt entstanden, zum Teil finanziert von Kranken und deren Angehörigen, die mit ihrer Spende die Hoffnung verbanden, die medizinische Forschung auf diesem Gebiet voranzubringen. Die US-Bioethik-Kommission schätzt, dass in den USA rund 282 Millionen DNA-Proben lagern, davon 2,3 Millionen für Forschungszwecke.1 Für Frankreich schätzt der Genetiker Axel Kahn, dass es über hundert DNA-Banken gibt, darunter auch einige Großbanken.
Das Généthon von Evry, das von der Französischen Vereinigung gegen Myopathien (AFM) finanziert wurde, besitzt mit seinen 42 000 DNA-Proben, die rund 300 genetisch bedingte Krankheiten abdecken, die größte Sammlung in Frankreich. Zwei weitere Forschungslaboratorien – das Centre d'Étude du Polymorphisme Humain (CEPH) von Paris und das Institut de Biologie von Lille – haben jeweils rund 15 000 Proben eingelagert. Die genaue Anzahl der Genbanken ist schwer zu ermitteln, und noch undurchsichtiger sind die Bedingungen, unter denen sie entstanden. Präzise Vorschriften in diesem Bereich fehlen. So heißt es in einer 1998 erschienenen Untersuchung der medizinethischen Abteilung des Necker-Krankenhauses von Paris, es sei zweifelhaft, „ob die derzeitigen Verfahrensvorschriften [bezüglich der Anmeldung einer DNA-Bank] sachgerecht sind. Die Bestimmungen sind ungenau und lückenhaft, obwohl immer mehr solcher Banken gegründet werden.“2 Und ein französischer Genetiker meint sogar: „Im Bereich der DNA-Banken herrscht das Gesetz des Dschungels.“
Die unklaren Rechtsverhältnisse sind umso beunruhigender, als die DNA-Sammlungen im Fadenkreuz erheblicher wirtschaftlicher Interessen liegen. „Genmaterial gilt heute als Rohstoff wie Erdöl und Uran“, erklärt Axel Kahn. „Die DNA-Banken wurden weltweit zum Wirtschaftsgut, das vielfach sehr teuer gehandelt wird. Dabei wären viele Menschen, die ihre DNA unter ganz bestimmten Bedingungen freiwillig zur Verfügung gestellt haben, kaum damit einverstanden, dass man ihre Spende als Handelsgut missbraucht.“
Ein konkretes Beispiel für diese Fehlentwicklung ist das Chronos-Projekt, das 1991 am CEPH gestartet wurde. Unterstützt durch öffentliche Aufrufe begann die Stiftung damals, Genmaterial von Menschen zu sammeln, die über neunzig Jahre alt waren. Man wollte die genetischen Ursachen der Langlebigkeit erforschen, also herausfinden, welche Gene einen natürlichen Schutz vor Krankheiten bieten. Das Projekt erbrachte schnelle Erfolge: Auf der Basis von 800 DNA-Spenden wurden die ersten relevanten Gene entdeckt. Was folgte, war dann allerdings weniger astrein. Im April 1996 erfuhr François Schächter, der verantwortliche Leiter und Initiator des Projekts, dass die CEPH-Direktion ohne sein Wissen einen Vertrag mit dem französischen Biotechnologie-Unternehmen Genset abgeschlossen hatte, der sich auch auf die DNA-Bank Chronos erstreckte. „Der Vertrag räumte Genset für 32 Millionen Franc die Exklusivrechte an der Verwertung der Forschungsergebnisse ein, ohne dass man die Spender vorher informiert hätte“, berichtet Schächter. „Die Bank, die ursprünglich nur Grundlagenforschung betreiben sollte, wurde zweckentfremdet, hunderte älterer Menschen wurden betrogen.“3
Axel Kahn hält dies nicht für einen Einzelfall. „Nicht nur in Frankreich gibt es für solche Fehltritte zahlreiche Beispiele. DNA-Banken sind sowohl Gegenstand von Verträgen zwischen universitären Einrichtungen und der Privatwirtschaft als auch von Verträgen zwischen Privatfirmen untereinander. Es gibt Forschungseinrichtungen, die dem privaten Käufer für ein bestimmtes Forschungsprojekt den Zugriff auf ausgewähltes Genmaterial gestatten. In anderen, selteneren Fällen erfolgt sogar eine Eigentumsübertragung. Vertragspartner sind auf der einen Seite Biotechnologie-Unternehmen, auf der anderen Seite US-Firmen, die sich auf die Sammlung von DNA-Material konzentrieren, oder Biotechnologie-Firmen, die ihre DNA-Bank verkaufen möchten, weil sie ein Forschungsprojekt einstellen.“
DNA-Sammlungen erzielen hohe Preise. Nach Auskunft des Leiters der Abteilung Pharmakogenetik bei Genset, François Thomas, kostet die DNA eines Menschen mehrere tausend Franc, eine ganze Bank kann mehrere Millionen Franc wert sein. Der Preis schwankt zwischen ein paar Millionen Franc für die kleinsten Banken und über 50 Millionen Franc für die Branchenführer, die für verbreitete Krankheiten mehrere tausend Proben mit ausführlichen klinischen Berichten bereithalten. In den allermeisten Fällen erfolgt die Eigentumsübertragung wie im Fall Chronos ohne vorherige Benachrichtigung der DNA-Spender. „Die Genetiker oder die Laboratorien, die eine DNA-Sammlung anlegen, betrachten das gespendete Genmaterial als ihr Exklusiveigentum. Spender und Angehörige haben jegliches Mitspracherecht verloren“, klagt Michel Fontès, Leiter des Labors Medizinische Genetik und Entwicklung am Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (Inserm) von Marseille.
„Der wunde Punkt bei den meisten Verträgen zwischen öffentlichen Forschungslabors und Privatwirtschaft liegt darin, dass sie dem Käufer die Exklusivrechte auf die DNA-Bank einräumen“, erklärt der in Straßburg tätige Genetiker Jean-Louis Mandel. „Diese Praxis verletzt ganz offensichtlich die Interessen der Kranken, denn sie verhindert, dass andere Partner dasselbe Genmaterial für andere Forschungsansätze gebrauchen. Doch die Laboratorien sind auf die Gelder, mit denen die Privatwirtschaft winkt, angewiesen. Das eigentliche Problem liegt also in der Finanzierung der universitären Forschung.“
Exklusivverträge sind im Bereich der DNA-Banken die Regel. Nehmen wir das Beispiel der Firma Genset in Evry: Die rund 30 DNA-Sammlungen, über deren Verwertung ein Vertrag mit den universitären Labors abgeschlossen wurde, können von keiner anderen Firma genutzt werden. „Die staatlichen Laboratorien verlieren damit schlicht die Kontrolle über ihre Forschungsergebnisse und werden zu bloßen DNA-Verteilern“, kommentiert der Diabetes-Spezialist am Institut de Biologie von Lille. „Die staatlichen Labors sollten ihre Forschungen in Eigenregie betreiben und durch zeitlich begrenzte Lizenzverträge mit der Privatwirtschaft finanzieren.“
Warum gibt es für die Gründung und statistische Erfassung von DNA-Banken noch immer keine eindeutigen Regelungen? Und warum konnten sich die Interessen der Privatwirtschaft gegen die Interessen der Kranken durchsetzen? 1994 übte Philippe Froguel, damals Forscher am CEPH und verantwortlicher Leiter einer DNA-Bank für Diabetes und Fettleibigkeit, öffentliche Kritik an den Plänen der Institutsleitung, einen Exklusivvertrag mit der US-Firma Millennium abzuschließen (einem mit Risikokapital finanzierten Unternehmen).
Aus Anlass dieser Polemik gab der französische Forschungsminister François Fillon bei dem Biologen Pierre Louisot einen Bericht in Auftrag. Louisot empfahl die Gründung eines Bewilligungsausschusses, der die Gründung und Führung von DNA-Banken regulieren sollte, und schlug klare Regeln für deren Verkauf oder Vermietung an die Privatwirtschaft vor.4 Sechs Jahre später ist das Projekt noch immer nicht realisiert: Es fehlt an den nötigen Mitteln und vor allem am politischen Willen.
Der Gipfel des Zynismus ist jedoch der Umgang mit den DNA-Banken der Entwicklungsländer. Das besondere Interesse der Genetiker gilt hier genetisch isolierten kinderreichen Familien mit bestimmten Krankheitsbildern, da sich die pathologisch relevanten Gene in diesem Fall leichter identifizieren lassen. „Im Maghreb, im Nahen Osten, in Indien und in vielen anderen Ländern der Dritten Welt entwickelt sich derzeit eine neue Art von Wissenschaftskolonialismus. Hier bietet sich staatlichen und privaten Forschungslabors der kostengünstigste Zugang zu DNA-Proben von Kranken. Einzige Gegenleistung ist vielfach die Einladung des örtlichen Arztes oder Forschers zu einer wissenschaftlichen Tagung oder ein Zitat seiner Arbeiten in einer wissenschaftlichen Zeitschrift“, meint Ségolène Aymé, Forschungsleiterin am Inserm und Präsidentin der Fédération Internationale des Sociétés de Génétique Humaine. „Die Patienten werden in keiner Weise informiert; sie erfahren nicht, was mit ihrer DNA geschieht, und schon gar nicht, dass am Ende die wirtschaftliche Verwertung steht. In Frankreich schreibt das Huriet-Gesetz die Aufklärung und Einwilligung des Spenders vor; in den Ländern der Dritten Welt sucht man solche Regeln vergebens.“
Aus diesem Grund plädieren einige Forscher seit längerem für eine wirkliche Zusammenarbeit mit den Genetikern der Entwicklungsländer. „Wir kooperieren beispielsweise mit der Universität von Moka auf Mauritius, wo mein Labor vier Forschungsstellen finanziert. Dann machte uns ein australisches Unternehmen Konkurrenz, das der Universitätsleitung für die Verwertung der Proben eine fünfzigprozentige Beteiligung an völlig virtuellen Lizenzeinnahmen offerierte. Diese Ausbeutung der Bevölkerung durch das örtliche Wissenschaftsestablishment auf Rechnung ausländischer Privatinteressen ist eine gängige Praxis. Wir haben es hier mit einer modernen Form der Sklaverei zu tun“, empört sich Philippe Froguel.
Eine weitere Möglichkeit, die Interessen der örtlichen Bevölkerung zu wahren, sieht Ségolène Aymé in der Schaffung einer verhandlungsbefugten Nichtregierungsorganisation. Sie soll dafür sorgen, dass ein Teil der Gewinne aus der Verwertung der Forschungsergebnisse an lokale Selbsthilfegruppen von Kranken und an humanitäre Organisationen zurückfließt. Gene gegen Abgaben wäre für die derzeit leer ausgehenden Kranken der Dritten Welt ein durchaus gerechter Ausgleich.
dt. Bodo Schulze
* Wissenschaftsjournalist, Marseille.