12.05.2000

Ein Etikettenschwindel

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Ein Etikettenschwindel

WENN die restliche Welt den Vereinigten Staaten gleicht, verliert der „Sonderfall Amerika“ seinen Ausnahmestatus. Dabei verlangt der ideologische Kampf nach einer permanenten Erneuerung der Begriffe, deren Verbreitungsgrad Aufschluss über den Durchbruch des entsprechenden Projektes gibt – und über die Niederlage der anderen Projekte. Diejenigen, die der neue Kurs noch nicht überzeugt, sehen sich mit dem Vorwurf des „Antiamerikanismus“ konfrontiert. Ein merkwürdiges Wort. Der Historiker André Kaspi hat auf folgenden Sachverhalt hingewiesen: „Insgesamt listet der Große Larousse der französischen Sprache 32 Einträge des Wortes ‚anti‘ auf; kein einziges davon bezieht sich auf eine fremde Nation, mit Ausnahme des Antiamerikanismus.“1 Gleichwohl fährt er, scheinbar erschöpft von der Gründlichkeit seiner Untersuchung, einige Seiten später mit der Feststellung fort: „Die jüngste Meinungskampagne gegen die Hinrichtungen (...) beschreitet die Wege des Antiamerikanismus. Leider sind die Vereinigten Staaten nicht die Einzigen, die noch nicht die Todesstrafe abgeschafft haben.“2 Wer hätte allerdings vor 1981, bevor die Guillotine ins Museum geschickt wurde, den Widerstand gegen die Todesstrafe je als „Antifranzösismus“ bezeichnet?

„Ich gestehe, dass ich in Amerika mehr gesehen habe als nur Amerika.“3 Was entdeckt man, wenn man, angeregt durch diese berühmte Feststellung Tocquevilles, den Motiven der Ächter des „Antiamerikanismus“ nachspürt? Weder Unterstützung für ein Land, das mitnichten bedroht ist, noch Solidarität mit einem Volk, das von keinerlei Besatzungsmacht unterdrückt wird. Die eifrigsten ausländischen Proamerikaner zeichnen sich im Allgemeinen dadurch aus, dass ihre Liebe zu den Vereinigten Staaten umso reiner ist, je unbeschwerter sie von jeder Kenntnis des Objekts ihrer Begierde sind. Übrig bleibt in diesem Fall die Sympathie für eine bestimmte Gesellschaftsform, für eine bestimmte Art der Verknüpfung von Personen- und Bürgerrechten, für ein dezentralisiertes, entpolitisiertes, durchlässiges politisches System, in dem das Allgemeininteresse mit der Achtung der „individuellen Rechte“ gleichgesetzt wird, zu denen das geheiligte Recht auf Eigentum gehört. Das ist zugegebenermaßen nicht nichts.

Und es erklärt vielleicht, wie die neoliberale Wochenzeitung The Economist nach einer Auflistung der „Reformen“, deren möglichst zügige Umsetzung sie Frankreich nahe legt („Modernisierung“ des öffentlichen Sektors und „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts) zu folgender Schlussfolgerung kommt: „Viele dieser Veränderungen werden die Franzosen zwingen, gewisse Charakteristika des amerikanischen Modells zu übernehmen.“4 Es erklärt auch, warum die Weigerung General de Gaulles, die amerikanische Hegemonie im Bereich von Diplomatie und Währung anzuerkennen, auch von ernsthaften Autoren als „Antiamerikanismus“ eingestuft wird. „Der Begriff ist angebracht, da es sich um einen Staatsmann handelt, der einer von Amerikanern für Amerikaner aufgebauten Ordnung ein Ende setzen wollte.“5 Wie die Kritik am Neoliberalismus, so wird auch die Kritik am Imperialismus mit dem unerträglichen Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit stigmatisiert, nur weil sie sich aus leicht nachvollziehbaren Gründen gegen das am weitesten entwickelte kapitalistische Land und gegen die Hauptstadt des Imperiums richtet.

Brent Scowcraft, ehemaliger Sicherheitsberater der Präsidenten Ronald Reagan und George Bush, erklärte kürzlich: „Wir denken zu wenig darüber nach, welche Auswirkungen unser Handeln auf andere hat. Wir beraten mit niemandem, wir benachrichtigen niemanden. Wir führen uns ein wenig auf wie eine Kolonialmacht.“6 Vielleicht meinte er damit die Weigerung seines Landes, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, sich am Internationalen Strafgerichtshof zu beteiligen, die Antipersonenminen zu ächten oder seine ausstehenden Beiträge an internationale Organisationen zu entrichten. Vielleicht dachte er aber auch an die unerschütterliche Arroganz eines Zbigniew Brzezinski, seines Vorgängers in der Regierung Carter, für den „die einzige Alternative zur amerikanischen Führung die internationale Anarchie ist“7 . Aber vielleicht ist Brent Scowcraft ja auch Antiamerikaner – ohne es selbst zu wissen.

Vor rund fünfzig Jahren schrieb Simone de Beauvoir: „Amerika ist das Land, in dem die kapitalistische Unterdrückung gesiegt hat.“ Vom Beginn des Kalten Krieges bis in die Achtzigerjahre betonte der „Antiamerikanismus“ den Gegensatz zwischen dem amerikanischen Ideal der Meinungsfreiheit und der Hexenjagd McCarthys, zwischen Chancengleichheit und Rassentrennung, zwischen politischer Demokratie und Unterstützung tyrannischer Regime. Dieser Antiamerikanismus war im Grunde sehr proamerikanisch. Denn er nahm die Vereinigten Staaten ernst und duldete nicht, dass sie mit den antikommunistischen, puritanischen, zwanglos „patriotischen“ Zügen eines Bill Rogers, John Wayne und Ronald Reagan vermischt würden. Alamo und dem Vietnamkrieg setzten sie andere Heldengeschichten entgegen, wie jene des sozialistischen Romanschriftstellers Upton Sinclair, der gegen den „Dschungel der Industriegesellschaft“ anschrieb, der Anarchisten Sacco und Vanzetti, der „Früchte des Zorns“ oder Malcolm X. Waren auch sie allesamt Antiamerikaner?

Jedem halbwegs gewieften Studenten der Politikwissenschaft ist bekannt, was mit dem „amerikanischen Sonderfall“ gemeint ist. Und wenn nicht, dann geben ihm in den Universitätsbibliotheken ganze Bücherregale Auskunft darüber. Gemeint ist weder die riesige Ausdehnung des Landes noch sein materieller Reichtum oder die Folklore seiner Bevölkerung, sondern in erster Linie eine vom revolutionären Projekt weitgehend unberührte Geschichte. Die Besonderheit Amerikas lässt sich ohne ungebührliche Übertreibung darin sehen, dass das Land nie eine mächtige, dauerhafte sozialistische Bewegung gekannt hat, dass es länger als andere den Aufbau eines „Wohlfahrtsstaates“ hinauszögerte (und ihn rascher als andere zerschlagen hat) und dass es ohne Skrupel ein höheres Maß an Ungleichheit akzeptierte als selbst die europäischen Länder, in denen die soziale Ungleichheit am ausgeprägtesten ist.8 Wenn der amerikanische Sonderfall in Wirklichkeit vor allem durch diese Eigenschaften gekennzeichnet ist, das heißt durch die Gelassenheit, mit der eine soziale Klasse die Gesellschaft und die Welt nach ihren eigenen Sonderinteressen formt, dann wird verständlicher, welche Art von Universalismus die proamerikanischen Konservativen verteidigen, wenn sie den Partikularismus oder Nationalismus ihrer „rückständigen“ Gegner anprangern.

Mittlerweile ist das Besondere am Nationalismus tatsächlich, dass er überall abgelehnt wird, es sei denn, er kommt aus Washington. Denn die USA haben beides gleichzeitig: die ideologische Macht, andere auf den Index zu setzen, und die militärischen Mittel, andere zu unterjochen. Der Chefredakteur der internationalen Ausgabe von Newsweek räumte kürzlich ein: „Den meisten Amerikanern ist es ein echtes Rätsel, warum die imperialistischen Aspekte der Macht und die amerikanische Globalisierung bei den Nichtamerikanern auf Ablehnung stoßen. Ihr Glaubensbekenntnis besagt nämlich, die Besonderheit ihres Landes liege darin, dass es keinerlei Versuche unternimmt, andere Länder zu erobern oder deren Kulturen zu beherrschen.“9 Man ist der Überzeugung, etwas Derartiges nicht im Geringsten nötig zu haben, da die Überlegenheit des eigenen Systems allzu offenkundig ist. Leicht spöttisch äußerte der Leitartikler Richard Reeves sogar den Gedanken, die Religiosität seiner Landsleute beruhe auf ihrer Überzeugung, „den anderen so überlegen zu sein, dass sie sich einbilden, von etwas Größerem als vom Menschen und von der Chemie geschaffen zu sein“.

Diese Überzeugung – oder dieser Wahn – liegt zum einen in der weitgehenden Unkenntnis der internationalen Realität begründet und konnte sich überdies im Kontext des zu Ende gehenden Kalten Krieges festigen. Die kulturelle Hegemonie des neoliberalen Paradigmas (vgl. die Artikel auf S. 5-9) und die beispiellose Dauer des momentanen Wachstumszyklus haben die Amerikaner in der Gewissheit bestärkt, die „amerikanischen“ Werte hätten gesiegt. Nicht nur über den „Kollektivismus“, sondern auch über die Werte seiner vermeintlichen Ersatzideologien (den Colbertismus in Frankreich und den „Meijismus“ in Japan). Für die amerikanische Regierung und ihre unermüdlichen medialen Nachbeter hat jedes andere Modell seine Berechtigung verloren. Die Globalisierung muss dem Vorbild der Vereinigten Staaten folgen, da dieses Land schließlich eine „subtile Mischung aus Web-Servern und Cruise Missiles“10 zur Vollkommenheit weiterentwickelt hat.

Doch wenn der amerikanische Nationalismus nun ebenfalls als etwas „Besonderes“ gilt und die Entscheidungen des Imperiums von einer Intellektuellen- und Journalistenelite weiter verbreitet werden, dann liegt dies auch daran, dass diesem Nationalismus andere Eigenschaften zugeschrieben werden als der Machterhalt. Er sei eher ethisch und ideologisch denn territorial begründet und ein gemeinsames Gut der gesamten Menschheit. Folglich steht ihm allein zu, die chinesischen Demonstranten, die gegen die mörderische Bombardierung ihrer Botschaft in Belgrad protestierten, allen Ernstes der „Fremdenfeindlichkeit“ zu zeihen. Oder denjenigen Kanadiern eine „antiamerikanische“ Haltung vorzuwerfen, denen es reicht, dass 60 Prozent der Bücher, 75 Prozent der verbreiteten Musik, 80 Prozent der Zeitschriften und 96 Prozent der Filme aus dem Ausland kommen – und der Löwenanteil der Importe zudem auf ein einziges Land entfällt, das sich der ausländischen Kultur gegenüber wenig aufgeschlossen zeigt. Mit Ausnahme einiger besonderer Orte natürlich, die von Amerikafreunden oft und gerne besucht werden.

Wer die „Übermacht“ der Vereinigten Staaten kritisiert, spricht sich neuerdings gleichzeitig gegen die „Modernität“ und den „Melting pot“ aus. Denn die amerikanische Multiethnizität stelle, so wird argumentiert, „das Wesen der sprachlichen, kulturellen und ethnischen Einheit in Frage, auf die sich der Ethno-Nationalismus stützt“. Unter diesen Umständen läuft jede Anfechtung des „Pluralismus nach amerikanischem Vorbild“ zwangsläufig auf eine Art von „ideologischer Verschmelzung der kommunistischen Linken und der nationalistischen Rechten“11 hinaus. Bis zum nächsten Krieg. Man sieht, die binäre Beweisführung sitzt: Entweder man ist Demokrat nach amerikanischem Vorbild, oder man ist „rot-braun“. Und all dies im Namen des „Pluralismus“.

Warum sollten die Vereinigten Staaten der Versuchung widerstehen, ihren Vorteil auszuspielen, wenn schon Amerika seine Sonderrolle so weit eingebüßt hat, dass es fast zum universellen Vorbild geworden ist? Wie der bekannte Politologe Seymour Martin Lipset feststellt, haben sich tatsächlich „die Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und den übrigen Demokratien in Europa in dem Maß verringert, wie die sozialdemokratischen Parteien auf die Marktwirtschaft umgeschwenkt sind. [...] Die Wahlen in Großbritannien im Jahr 1997 stellten einen Wendepunkt dar. [...] Sie leiteten das Ende eines Jahrhunderts sozialistischer Bemühungen zur Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln ein. [...] Die Gesellschaften des Alten Kontinents folgen dem amerikanischen Weg: Ihr Klassenbewusstsein und ihre Organisierung als Klasse sind im verschwinden begriffen.“ Wie gesagt, die fehlende Hinterfragung der herrschenden Eigentumsform ist es, die die Besonderheit der Vereinigten Staaten ausmacht. „In Europa gibt es“, wie Lipset weiter ausführt, „zwei Ausnahmen in Bezug auf diesen Rückzug vom Sozialismus. Norwegen einerseits (...) und Frankreich andererseits.“ Verständlich also, dass die Launen dieser letzten Nachzügler solche Verärgerung auslösen – selbst unter Amerikanern, die eigentlich geneigt sind, mit Wohlwollen zu reagieren, wie die Journalisten von Newsweek: „Im Grunde gibt es weniger Antiamerikanismus als man denkt. (...) Die Europäer sind nicht dumm. Mit Ausnahme der Redaktionsmitglieder von Le Monde diplomatique gibt es kaum jemanden, der von einem Wettstreit mit der militärischen oder politischen Macht der Vereinigten Staaten träumt und dafür die nötigen Milliarden an Euros ausgeben möchte.“12 Die Wochenzeitung schließt ihre „Untersuchung“ mit dem von Mitleid triefenden Satz: „Wer Amerika hasst, hasst sich selbst.“ Fehlt nur ein guter Psychoanalytiker, und die Sache ist bereinigt.

dt. Birgit Althaler

Hinweis: Insgesamt listet der Große Larousse der französischen Sprache 32 Einträge des Wortes ‚anti‘ auf; kein einziges davon bezieht sich auf eine fremde Nation, mit Ausnahme des Antiamerikanismus.

Fußnoten: 1 André Kaspi, „Les Etats-Unis d’aujourd’hui“, Paris (Plon) 1999, S. 28. 2 Ebenda, S. 33. Zur Frage des Amerikabildes in Frankreich siehe insbesondere Denis Lacorne, Jacques Rupnik und Marie-France Toinet, „L’Amérique dans les têtes: Un siècle de fascinations et d’aversions“, Paris (Hachette) 1986. 3 Alexis de Tocqueville, „Über die Demokratie in Amerika“, München (dtv) 1976, S. 16. 4 Sonderschwerpunkt zu Frankreich in The Economist, 5. Juni 1999. Siehe auch Thomas Frank, „Cette impardonable exception française“, Le Monde diplomatique, April 1999. 5 Richard Kuisel, „Seducing the French: The Dilemma of Americanization“, Berkeley (University of California Press) 1992. 6 In Tyler Marshall, „Goodwill Towards U.S. is Dwindling Globally“, Los Angeles Times, 26. März 2000. 7 „A geostrategy for Eurasia“, Foreign Affairs, New York, September 1997. Später warf Zbigniew Brzezinski Frankreich konsequenterweise seinen „Überlegenheitskomplex“ vor. 8 Ausgiebiges Zahlenmaterial dazu findet sich in Seymour Martin Lipset, „Still the Exceptional Nation?“, The Wilson Quarterly, Winter 2000. 9 „The Long Arm of Uncle Sam“, BBC, 2. August 1999. 10 Thomas Friedman, International Herald Tribune, 11./12. März 2000. 11 Takis Michas, „The New Anti-Americanism“, The Wall Street Journal Europe, 28. Dezember 1999. 12 Michael Eliott, „A Target Too Good to Resist“, Newsweek, 31. Januar 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von SERGE HALIMI