12.05.2000

Schöne neue Begriffswelt

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Schöne neue Begriffswelt

IN sämtlichen entwickelten Ländern sind Arbeitgeber und hohe internationale Amtsträger, medienpräsente Intellektuelle und Edeljournalisten übereingekommen, ein seltsames Newspeak zu gebrauchen, dessen – offensichtlich aus dem Nichts entstandenes – Vokabular in aller Munde ist: „Globalisierung“ und „Flexibilität“; „Steuerung“ und „employability“; „underclass“ und „Ausschließung“; „neue Ökonomie“ und „Nulltoleranz“; „Kommunitarismus“, „Multikulturalismus“ und ihre postmodernen Vettern „Ethnizität“, „Minorität“, „Identität“, „Fragmentierung“ usw. Die Verbreitung dieses neuen globalen Begriffskanons (in dem die Begriffe „Kapitalismus“, „Klasse“, „Ausbeutung“, „Herrschaft“ und „Ungleichheit“ bemerkenswerterweise fehlen, die man verworfen hat, weil sie angeblich überholt oder ungehörig sind) verdankt sich einem Imperialismus symbolischer Art. Die Auswirkungen sind umso gravierender, als dieser Imperialismus nicht nur von den Anhängern der neoliberalen Revolution getragen wird, die unter dem Vorwand der „Globalisierung“ die Welt umgestalten wollen und die sich deshalb endgültig von jenen sozialen und ökonomischen Errungenschaften verabschieden, die im Laufe von hunderten von Jahren erkämpft wurden, die nun aber als Archaismen und Hindernisse für die Entstehung der neuen Ordnung gelten. Dieser symbolische Imperialismus kann sich auch auf Kulturschaffende (Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler) und Anhänger der Linken stützen, die sich in ihrer Mehrheit noch immer für fortschrittlich halten.

WIE die qua Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit ausgeübte Dominanz ist auch der kulturelle Imperialismus eine symbolische Gewalt, die Unterwerfung erzwingt, indem sie eine Kommunikationsbeziehung aufnötigt. Die Besonderheit dieser Beziehung besteht darin, dass sie Partikularismen, die mit einer spezifischen historischen Erfahrung verbunden sind, für universal erklärt.1

Wie im 19. Jahrhundert zahlreiche so genannte philosophische Fragen – darunter das Spenglersche Thema des „Niedergangs“ – in ganz Europa debattiert wurden, die ihren Ursprung in den historischen Besonderheiten und Auseinandersetzungen in der Welt deutscher Akademiker hatten2 , so haben sich heute unter scheinbar enthistorisierten Umständen überall auf der Welt einige Topoi durchgesetzt, die direkter Ausfluss von intellektuellen Auseinandersetzungen sind, in denen sich die Besonderheiten und Partikularismen der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Universitäten ausdrücken. Diese Gemeinplätze – im aristotelischen Sinne von Begriffen oder Thesen, mit denen man argumentiert, die selbst aber nicht mehr diskutiert werden – verdanken den Großteil ihrer Überzeugungskraft der Tatsache, dass ihr Ausgangspunkt zu neuem Ansehen gelangt ist. Aber auch der weiteren Tatsache, dass sie omnipräsent sind, weil sie in raschem Fluss zwischen Berlin und Buenos Aires, London und Lissabon zirkulieren. Und überall werden sie von vorgeblich neutralen Instanzen übernommen, angefangen von den großen internationalen Organisationen wie der Weltbank oder der OECD, über die konservativen „think tanks“ bis hin zu den großen Medien, die diese Lingua franca rastlos weiterverbreiten, deren Phrasen den eiligen Leitartiklern und geschäftigen Spezialisten kulturellen Import-Exports die Illusion vermitteln, an der Spitze der Modernisierung zu marschieren.

Abgesehen von dem automatischen Effekt, dass die internationale Ideen-Zirkulation durch ihre eigene Logik zur Verschleierung ursprünglicher Bedingungen und Bedeutungen tendiert3 , ersetzt das Spiel mit vorgeprägten Definitionen und spitzfindigen Schlussfolgerungen die Kontingenz der geleugneten soziologischen Notwendigkeiten durch den Anschein logischer Notwendigkeit, mit dem Ziel, die historischen Wurzeln einer ganzen Reihe von Fragen und Begriffen zu verschleiern. Diese gelten – je nach Ort und Zeitpunkt ihrer Rezeption – als philosophisch, soziologisch, ökonomisch oder politisch: die „Effizienz“ des (freien) Markts, die Notwendigkeit der Anerkennung (kultureller) „Identitäten“ oder die feierliche Reaffirmation der (individuellen) „Verantwortung“.

Auf diese Weise werden die Gemeinplätze über den ganzen Planeten verbreitet und – im streng geographischen Sinne des Begriffs – globalisiert, gleichzeitig aber auch jeder Partikularität enthoben. Damit gelingt es ihnen, sich durch unablässige Bestätigung in den Medien in einen universellen Common Sense zu verwandeln und völlig vergessen zu machen, dass sie häufig nur die komplexe und durchaus umstrittene geschichtliche Verfassung einer bestimmten Gesellschaft zum Ausdruck bringen, die stillschweigend zum Modell und zum Maß aller Dinge erhoben wird: die amerikanische Gesellschaft der postfordistischen und postkeynesianischen Ära.

Diese alleinige Supermacht, dieses symbolische Mekka der Erde, weist die folgenden typischen Merkmale auf: den bewussten Abbau des Sozialstaats und ein entsprechendes Anwachsen des strafenden Staates, die Ausschaltung der Gewerkschaftsbewegung und die Diktatur des allein auf den „Shareholder-value“ ausgerichteten Unternehmenskonzepts samt ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen, die Zunahme der ungesicherten Arbeitsverhältnisse und der sozialen Unsicherheit, die zum bevorzugten Motor der Wirtschaft wird.

Ein Beispiel ist die schwammige Debatte über den „Multikulturalismus“, einen Begriff, der nach Europa importiert wurde, um den kulturellen Pluralismus in der Zivilsphäre zu bezeichnen, während er in den USA auf die anhaltende Ausschließung der Schwarzen und die Krise der nationalen Mythologie des „amerikanischen Traums“ und der „Chance für alle“ verweist (und sie zugleich verdeckt). Diese Krise hängt mit dem Zusammenbruch des staatlichen Bildungssystems zusammen, der zu einem Zeitpunkt eintritt, da sich die Konkurrenz im Bereich des kulturellen Kapitals verschärft und die klassenbedingten Ungleichheiten extrem verschärfen.

Das Adjektiv „multikulturell“ verschleiert diese Krise, indem es sie künstlich auf den universitären Mikrokosmos beschränkt und in betont „ethnischen“ Kategorien verhandelt, während es doch in Wahrheit nicht um die Anerkennung marginalisierter Kulturen im akademischen Kanon geht, sondern um den Zugang zu den (Re-)Produktionsmitteln der Mittel- und Oberschicht (zum Beispiel zur Universität), und zwar vor dem Hintergrund des aktiven und massiven Rückzugs des Staates.

Der US-amerikanische „Multikulturalismus“ ist weder ein Begriff noch eine Theorie noch eine soziale oder politische Bewegung. Es handelt sich vielmehr um eine Scheindebatte, einen Diskurs, dessen intellektueller Nimbus sich aus einem gewaltigen nationalen wie internationalen Effekt des Andersmeinens (allodoxia)4 ergibt, der die Beteiligten genauso täuscht wie die Unbeteiligten. Dabei ist er trotz seines universalen Anspruchs ein US-amerikanischer Diskurs, insofern er die widersprüchliche Situation der dortigen Akademiker ausdrückt, die vom Zugang zur öffentlichen Sphäre abgeschnitten sind und in ihrem professionellen Milieu einer starken Ausdifferenzierung unterliegen. Für ihre politische Libido bleiben als Betätigungsfeld daher nur die akademischen Grabenkämpfe, in denen sie sich mit Begriffen duellieren wie die Helden alter Epen.

Daraus folgt, dass der „Multikulturalismus“, wohin er auch exportiert wird, stets drei Übel der US-amerikanischen Denkweise mittransportiert: a) das „Gruppendenken“, das die staatlich kanonisierten sozialen Grenzen zu einem Erkenntnisprinzip und einem Prinzip politischer Forderungen verdinglicht; b) den Populismus, der die Analyse der Herrschaftsstrukturen und -mechanismen durch eine Beschwörung der Kultur der Beherrschten und ihrer in den Rang einer Prototheorie erhobenen „Sichtweise“ ersetzt; c) den Moralismus, der bei der Analyse der sozialen und ökonomischen Welt einer vernünftigen materialistischen Sichtweise im Wege steht und alle Beteiligten zu einer folgenlosen Debatte über die notwendige „Anerkennung der Identitäten“ verdammt, während sich das Problem im tristen Alltag überhaupt nicht auf dieser Ebene stellt.5

DENN während sich die Philosophen an ihren Diskursen über „kulturelle Anerkennung“ berauschen, bekommen zehntausende Kinder aus unterprivilegierten Schichten oder Ethnien keinen Platz in der Grundschule (in Los Angeles allein waren es 1999 etwa 25 000). Und nur einer von zehn Jugendlichen aus Haushalten mit einem jährlichen Einkommen unter 15 000 Dollar kann eine Universität besuchen – bei Kindern aus Familien, die über mehr als 100 000 Dollar verfügen, liegt die Quote bei 94 Prozent.

Man könnte denselben Beweis auch in Bezug auf den äußerst vieldeutigen Begriff der „Globalisierung“ führen, der zur Folge hat – oder dessen eigentliche Funktion es ist –, dass die Auswirkungen des amerikanischen Imperialismus durch einen kulturellen Ökumenismus oder ökonomischen Fatalismus bemäntelt werden, womit ein transnationales Kräfteverhältnis als Naturnotwendigkeit erscheint. Als Resultat eines symbolischen Wandels, der auf der Einbürgerung neoliberaler Denkschemata basiert, die sich dank der Bemühungen konservativer think tanks und ihrer Verbündeten in Politik und Presse in den letzten zwanzig Jahre durchgesetzt haben6 , wird die Umgestaltung der sozialen Beziehungen und kulturellen Muster nordamerikanischer Prägung am Ende resigniert als notwendiges Ergebnis nationaler Entwicklungsprozesse hingenommen oder gar mit blinder Begeisterung gefeiert.

DIE empirische Analyse der langfristigen Entwicklung der Ökonomien der entwickelten Länder legt jedoch nahe, dass die „Globalisierung“ keine neue Phase des Kapitalismus darstellt, sondern eine „Rhetorik“, deren sich die Regierungen bedienen, um ihre freiwillige Unterwerfung unter die Finanzmärkte zu rechtfertigen. Die Deindustrialisierung, die Zunahme der Ungleichheiten und die Rückschritte in der Sozialpolitik sind nicht etwa die unvermeidliche Konsequenz der Ausweitung des Außenhandels (wie immer wieder behauptet wird), ihre Ursache ist vielmehr in innenpolitischen Entscheidungen zu suchen, die zum Ausdruck bringen, dass sich in den Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen eine Wende zugunsten der Kapitaleigner vollzogen hat.7

Indem sie dem Rest der Welt ihre Wahrnehmungskategorien aufdrängen, die ihren eigenen Sozialstrukturen entsprechen, modeln die Vereinigten Staaten die Welt nach ihrem Bilde um: Die mentale Kolonisierung mittels bestimmter Begriffe kann nur zu einer Art verallgemeinertem und sogar freiwilligem „Washington consensus“ führen, wie man ihn heute auf dem Gebiet der Wirtschaft, des Stiftungswesens oder der Business Schools beobachten kann (siehe die Beiträge auf den Seiten 8 und 9). Dieser doppelte Diskurs, der auf Glaubensätzen beruht, aber wissenschaftlich daherkommt, indem er dem sozialen Wunschbild der Herrschenden den Anschein der (namentlich ökonomischen und politologischen) Vernunft verleiht, besitzt nämlich die Macht, die Realitäten, die er zu beschreiben behauptet, im Sinne der sich selbst erfüllenden Prophezeiung erst herbeizuführen: Mit seiner Präsenz in den Köpfen der Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft dient dieser Diskurs einerseits als Instrument zur Konstruktion öffentlicher und privater politischer Strategien, gleichzeitig aber auch als Instrument zu deren Bewertung. Wie alle Mythologien des Wissenschaftszeitalters enthält der neue globale Begriffskanon eine Reihe von sich gegenseitig stützenden und entsprechenden Gegensätzen und Äquivalenzen, mit denen die aktuellen Veränderungen in den entwickelten Gesellschaften beschrieben werden: Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und Verstärkung seiner polizeilichen und strafrechtlichen Komponenten, Deregulierung der Finanzströme und Auflösung der Rahmenbedingungen des Arbeitsmarkts, Reduzierung der Mechanismen sozialer Sicherung und moralisierendes Lob der „indivuellen Verantwortung“.

Der Imperialismus der neoliberalen Vernunft findet seine intellektuelle Vollendung in den beiden neuen exemplarischen Figuren von „Kulturschaffenden“. Da ist zum einen der Experte, der hinter den Kulissen in Ministerien oder Unternehmen oder in der Verborgenheit der think tanks ausgesprochen technokratische Dokumente verfasst, und zwar möglichst in der Sprache der Ökonomie oder der Mathematik. Da gibt es zum anderen den Kommunikationsberater bei Hofe: meist ein Überläufer aus der akademischen Welt, der in den Dienst der Herrschenden wechselte und dessen Mission darin besteht, die politischen Projekte des neuen Staats- und Industrieadels akademisch auszustaffieren. Der globale Prototyp für diesen akademischen Überläufer ist zweifellos der britische Soziologe Anthony Giddens, der selbst erklärte „Theoretiker“ des „Dritten Wegs“ und Berater des britischen Premierministers Tony Blair. Mit solchen ideologischen Schildknappen können die Herren des Kapitals beruhigt schlafen.

dt. Markus Sedlaczek

* Soziologen, Pierre Bourdieu lehrt am Collège de France, Loïc Wacquant an der Universität Berkeley.

Fußnoten: 1 Wir wollen von vornherein klarstellen, dass die Vereinigten Staaten nicht das Monopol auf Universalitätsanspruch besitzen. Zahlreiche andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Spanien, Japan oder Russland haben in ihrer jeweiligen Einflusssphäre Formen eines in allen Punkten vergleichbaren kulturellen Imperialismus ausgeübt oder versuchen dies noch immer. Allerdings ist nun zum ersten Mal in der Geschichte ein einzelnes Land in der Lage, seine Weltsicht der ganzen übrigen Welt aufzuerlegen. 2 Vgl. Fritz K. Ringer, „Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933“, München (dtv) 1987. 3 Pierre Bourdieu, „Les conditions sociales de la circulation internationale des idées“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 14-1/2, 1990, S. 1-10. 4 Allodoxie: die Verwechslung einer Sache mit einer anderen. 5 Genauso wenig wie die Globalisierung der materiellen und symbolischen Austauschbeziehungen aus unserem Jahrhundert datiert, da sie sich in Korrelation mit der Menschheitsgeschichte ausbreitet, wie bereits Emile Durkheim und Marcel Mauss in ihrer „Note sur la notion de civilisation“ gezeigt haben (Année sociologique, 12, 1913, S. 46-50, Band III, Paris (Éditions de Minuit) 1968. 5 Siehe Keith Dixon, „Les Évangelistes du marché“, Paris (Éditions Raisons d’agir) 1998. 6 Zur „Globalisierung“ als „amerikanischem Projekt“, das darauf abzielt, das Unternehmenskonzept des Shareholder-value durchzusetzen, siehe Neil Fligstein, „Rhétorique et réalités de la ‚mondialisation‘ “, Actes de la recherche en sciences sociales, 119, (September 1997), S. 36-47. 7 Siehe dazu auch: Pierre Bourdieu/Loïc Wacquant, „Die List der imperialistischen Vernunft“, in: Liber. Internationales Jahrbuch für Kultur und Literatur, hrsg. v. Pierre Bourdieu, Bd. 2, Konstanz 1999, S. 3-20 (A.d.Ü.).

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von PIERRE BOURDIEU und LOÏC WACQUANT