Drei Sterne für McDonald's
UM gleich vorweg eines klarzustellen: Ein besseres Ziel als diese McDonald's-Filiale in Millau hätte José Bové für seinen Traktorangriff kaum wählen können. McDonald's verkörpert perfekt den Neoliberalismus US-amerikanischer Machart. Er vereinigt in sich alle Elemente: die globale Reichweite des Geschäfts, die gnadenlose Standardisierung, die aufdringliche Werbung, die extrem rationalisierten Arbeitsabläufe (computergesteuert durch ein extrem raffiniertes Abrechnungssystem, das die Effektivität der Arbeitskräfte an jeder einzelnen Kasse, in jeder Filiale, in jedem McDonald’s-Restaurant der Welt überwacht), eine bedeutende Position des Konzerns innerhalb des Systems industrieller Landwirtschaft, das die Kleinbauern ausblutet.
Das Agitprop-Stück, das die französische Bauerngewerkschaft Confédération Paysanne aufführt (in dem sie selbst die Rolle des David gegen den amerikanischen Goliath spielt) mag zwar brillantes Guerilla-Theater sein, und eine nützliche Waffe im Kampf gegen die herrschende Symbolik, doch es ist so simplifizierend inszeniert, dass wichtige Teile der Geschichte im Dunkeln bleiben.
In der Wirklichkeit spielt die McDonald’s-Story in einem größeren Rahmen von Institutionen und sozialen Kräften, die sich mit dem Unternehmen und in Wechselwirkung mit ihm entwickelt und verändert haben. Im folgenden wird der soziale Lebensraum des Unternehmens skizziert und gezeigt, welchen Platz es in räumlicher wie institutioneller Hinsicht in Frankreich gefunden hat. Es gibt natürlich noch weitere Aspekte, aber anhand dieser beiden kann man bereits klarmachen, dass das Phänomen McDonald's nur zu verstehen ist, wenn man einen Schritt zurück tritt, um den besseren Überblick zu gewinnen. Dann ergibt sich nämlich ein neues, weniger emotionalisiertes Bild, das nicht so sehr einen unerwünschten Eindringling zeigt, der seine friedlichen Gastgeber bedroht, sondern in dem vielmehr die einheimischen Kräfte der „Amerikanisierung“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. In diesem Bild ist der Neoliberalismus nicht der hergelaufene Rüpel, der am Hauptportal laut randalierend Einlass begehrt, er schlüpft vielmehr diskret durch die Hintertür. Sein Vordringen wird ermöglicht durch eine Erosion des autochthonen Widerstandes, durch schrittweise vollzogene „begrenzte Reformen“, die in jede Ritze und Fuge von Institutionen, von Gebräuchen und Orten vordringen. Und damit auch dort auftauchen,wo man es nie erwartet hätte.
Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die Fastfood-Industrie in Frankreich vor allem das Werk französischer Firmen war, die auf diesem amerikanischen Terrain noch besser sein wollten als die Amerikaner selbst. McDonald's kam Anfang der Siebzigerjahre nach Frankreich, als eine der vielen US-Firmen, die in Europa ihre Filialen aufmachten (Hotels, kommerzielle Reinigungsfirmen, Fitness-Center, Steuerberatungsfirmen und Arbeitsvermittlungsagenturen), um den steigenden Lohnkosten, dem gesättigten Markt und der übermächtigen Konkurrenz in den Vereinigten Staaten zu entkommen. Vor McDonald's gab es in Frankreich bereits Fastfood-Ketten wie „Crip-Crop“, „Dino-Croc“, „Chicken Shop“ und die britische Kette „Wimpy“. Bis 1982 musste McDonald’s den Markt weitgehend der einheimischen Konkurrenz überlassen, weil sie in einem langwierigen Rechtsstreit mit ihrem lokalen Franchise-Partner das Recht zurückforderte, in Frankreich unter dem eigenen Markennamen anzutreten.
So war der Name McDonald's zu Beginn zwar in aller Munde und gewann eine fast schon mythische Qualität, aber im Tagesgeschäft spielte die Firma eine völlig unerhebliche Rolle. Das war die Chance französischer Konzerne und einiger unabhängiger Firmen, die in den Siebzigerjahren in die Branche einstiegen und das McDonald's-Konzept kopierten. Die Filialen trugen amerikanisch klingende Namen (Magic Burger, France-Quick, FreeTime, B'Burger, Manhattan Burger, Katy's Burger, Love Burger, Kiss Burger etc.), sie verkauften Hamburger und andere US-Gerichte, die von Teilzeitkräften an computerüberwachten Fließbändern zubereitet wurden und durch Verpackung, Aufmachung und Werbung als US-Erzeugnisse auftraten. Auch in der Einrichtung der Restaurants, in Raumgestaltung, Service und Ambiente orientierte man sich stark an den Vorbildern aus dem US-amerikanischen Fastfood-Geschäft.1
Die kleinere Firmen wurden schon früh von den größeren geschluckt, aber die marktbeherrschende Rolle von McDonald's ergab sich erst relativ spät. Noch 1989 gehörten 80 Prozent der 777 Hamburger-Restaurants in Frankreich französischen oder europäischen Firmen bzw. Investoren. Und in diesen Zahlen sind noch nicht die Konditoreien und die verschiedenen anderen Geschäfte enthalten, die traditionelle Nahrungsmittel nach dem Fastfood-Rezept ummodelten und von denen ein noch höherer Prozentsatz in französischem Besitz war.
Besonders aktiv engagierten sich große Konzerne, die ihren Aufstieg in Dienstleistungsbranchen wie Tourismus, Hotelgewerbe, Catering, Restaurantketten, Supermärkten oder der verarbeitenden Nahrungsmittelindustrie geschafft hatten. Häufig geht die Geschichte dieser Firmen direkt auf die Fünfzigerjahre zurück, als im Rahmen des Marshallplans französische Geschäftsleute in so genannten productivity missions in die USA eingeladen wurden, um amerikanische Geschäftsmethoden zu erlernen.
Diese Branche hat also das „amerikanische Modell“ sozusagen mit der Muttermilch eingesogen und entwickelte sich in der Folge ganz bewusst als Gegenmodell zum organisatorischen, finanziellen und allgemeinen geschäftlichen Stil der alteingesessenen Familienbetriebe in der traditionellen erzeugenden Industrie. Diese Firmen spielten sozusagen die Rolle einer „Kompradorenbourgeoisie“, als Pioniere der US-amerikanischen Kommerzialisierung im Allgemeinen und der Fastfood-Kultur im Besonderen.
Nun ist es keine überraschende Erkenntnis – für welches Land auch immer – , dass die Lebensmittelindustrie und die Betreiber von Cafés, Supermärkten, Restaurant- und Fastfood-Ketten den Gesetzen der Massenproduktion und des Marktes folgen. Interessanter ist die Frage, wie diese Unternehmen ihren gängigen Geschäftsbereich ausgeweitet haben und Bereiche vereinnahmen konnten, die scheinbar nach wie vor die genau entgegengesetzte Welt darstellen – also die französische Haute Cuisine.
Selbstverständlich ist die Haute Cuisine nach wie vor in der Lage, ihrem guten Ruf gerecht zu werden. Um die Pflege ihrer ehrwürdigen Tradition kümmert sich ein kompliziert aufgebautes Konstrukt aus privaten und öffentlichen Einrichtungen, zu dem Stiftungen, Vereinen und Museen der Kochkunst gehören. Die eigene Legende wird mittels verschiedener Rituale fortgeschrieben (Preise, Ehrungen, Zeremonien und die Vergabe der berühmten Gourmet-Sterne), die zum einen die Zugehörigkeit zum Allerheiligsten bestätigen, zum anderen dann inszeniert werden, wenn über die Aufnahme in den Tempel der Kochkunst entschieden wird. Pompös inszenierte Veranstaltungen (wie die aufwändige „Confrèrie des Chevaliers du Tastevin“ während des alljährlichen Weinmarkts in Burgund) sollen den Verkaufs- und Werbeabsichten den nötigen historischen Firnis verleihen. Die Gralshüter der reinen Lehre sind all die Fachjournalisten und Restaurantkritiker der Zeitungen und Zeitschriften, die sich der Ideologie der Guide-Michelin-Sterne, der Romantik der regionalen Küche („terroir“) und dem Kult des kulinarischen Stammbaums verschrieben haben (nach dem Motto: Verge erzeugte Ducasse, der seinerseits Soliveres erzeugte, der wiederum ...)
Nun ist die Beobachtung bemerkenswert, dass diese aufgedonnerte Selbstdarstellung der Haute Cuisine fast das genaue Gegenbild zu der Banalität der Fastfood-Kultur darstellt, von der sich diese kontrastierend abheben will. Beide sind zentrale Bestandteile des symbolischen Vokabulars, mit dem sich Frankreich und die Vereinigten Staaten vor dem Rest der Welt in Pose werfen. Und wie für alle Luxusbranchen gilt auch für die Haute Cuisine, dass ihre Prinzipien himmelhoch erhaben sind über die Logik des Massenmarktes (Standardisierung, hohe Umsatzzahlen, niedrige Kosten, Bequemlichkeit und Zwanglosigkeit) und über die Produktionsvoraussetzungen (Rationalisierung, multifunktionaler Arbeitseinsatz, billige und flexible Arbeitskräfte, strenge Kostenkontrolle), die den Massenabsatz erst möglich machen. In den letzten Jahrzehnten ist allerdings der symbolische und institutionelle Schutzwall, hinter dem sich die Haute Cuisine einst gegen die rein kommerziellen Maßstäbe verschanzen konnte, immer löchriger geworden.
Heute ist diese Grenzlinie in beide Richtungen durchlässiger geworden. In die eine Richtung durch die großen Industriekonzerne, die sich neue Einflussbereiche erobert haben. Zum einen mit dem Aufkauf unabhängiger Brasserien und Restaurants mit bedeutenden Traditionsnamen (wie Lipp, La Coupole, Maxim's, Le Balzar), zum anderen mit der sich immer weiter verbreitenden Methode, am Renommee prominenter Küchenchefs zu partizipieren, indem man Produkte mit deren Namenszug veredelt. Das funktioniert unter anderem bei Tiefkühlkost und Fertiggerichten, bei Restaurantketten, aber auch mit Kochtöpfen und Pfannen, Fernsehprogrammen, Küchenschürzen, Kochbüchern, Weinen und anderem mehr.
Auf diese Weise sind die Konzerne nicht nur in die geheiligten Gefilde vorgedrungen, sondern auch finanziell und organisatorisch bei der Pflege und Fortführung des kulinarischen Erbes selbst involviert. Zum Beispiel beteiligen sie sich an der Finanzierung und Leitung der Stiftung Brillat-Savarin (einer Institution, die für die Aufgabe geschaffen wurde, die Gleichmacherei zu bekämpfen!) und treten als Sponsoren des Preises „Küchenchef des Jahres“ auf, der von einem der wichtigsten Organe der Zunft, der Zeitschrift Le Chef Magazine, vergeben wird. Die berichtete etwa in demselben Heft, in dem Alain Ducasse der Titel „Küchenchef des Jahres“ zugesprochen wurde, über die Ehrungen, die der Lebensmittelindustrie von ihrer eigenen Handelsorganisation für ihre Massenprodukte zuteil wurden: über den Preis an die Firma Daregal für ihre „herbes aromatiques surgelées“, an Mikogol für „mini-bavarois“- Würstchen, an Sopad-Nestlé für „entremets flans sans cuisson“ und an Uncle Ben's für die „salades saveurs“.
So gesehen ist es kein Zufall, dass dieses Heft auch ein Foto von Alain Ducasse enthält, auf dem er von zwei völlig gesichtslosen Führungskräften der Firma Sopad-Nestlé flankiert wird. Darüber steht, neben zahlreichen Firmen-Logos: „Die Partner des Chefs“. Ein perfekter Ausdruck der Beziehung zwischen Industrie und Kochkunst.
Im Bereich der Gastronomie sind damit Bedingungen entstanden, die es den großen Namen ermöglicht haben, ihr akkumuliertes symbolisches Kapital Gewinn bringend einzusetzen. Da die Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie das symbolische Kapital auf dem freien Markt kaufen müssen, ist ein echter „Verkäufermarkt“ für Meisterköche entstanden. Wer es zum dritten Stern im Guide Michelin gebracht hat, hat sich damit die magische Fähigkeit des Alchemisten angeeignet: Was immer er berührt, wird zu Gold – und seien es die profansten Dinge.
Ein Bocuse, ein Robuchon oder ein Loiseau können sich frei entscheiden, ob sie ihren Namen an einen Hersteller vermieten, ob sie bestimmte Produkte mit ihrem Namen zeichnen oder ob sie ihren Namen selbst vermarkten – zum Beispiel, indem sie neben ihrem Drei-Sterne-Restaurant ein wesentlich billigeres Bistro eröffnen.
Damit geht eine interessante Metamorphose einher. Kaum hat man dem Meisterkoch seinen dritten Stern verliehen, spricht er nicht mehr von der „Reinheit“ und „hohen Qualität“ seines Produkts, von der Zeitlosigkeit und Unbezahlbarkeit seiner Kunst – auf einmal sorgt er sich um Demokratie und Chancengleichheit, mit Sprüchen wie: „Alle sollte die Chance haben, die Wunder unserer Küche zu genießen.“ Und so verwandeln sich Köche, die bislang der Haute Cuisine gehuldigt haben, über Nacht in Verfechter des Marktprinzips. Dabei stehen sie gewiss auch unter dem Druck der immensen Kredite, die sie für die Renovierung ihres Restaurants aufnehmen mussten – was wiederum eine notwendige Voraussetzung dafür war, sich für den profitablen dritten Stern zu qualifizieren.
Die Haute Cuisine gibt sich als eiserner Hüter traditioneller handwerklicher Wertvorstellungen – einer eigenen Welt, meilenweit erhoben über die Niederungen der Einheitsgerichte in den Fastfood-Ketten. Aber die Mauern, die diese heile Welt umgaben, sind bereits am Bröckeln. Und die „Amerikanisierung“ ist nichts anderes als die Beschleunigung dieser Erosion.
Die Standardisierung, ein Leitmotiv der industriellen Erzeugung, bedeutet die Auflösung der quasihandwerklichen Beziehung zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und einer bestimmten Region, die durch den französischen Begriff „terroir“ gekennzeichnet ist. Das kaum übersetzbare Wort hat vor allem die Bedeutung von Unverwechselbarkeit; es bezieht sich auf die typischen Arbeitsmethoden, die typischen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, den typischen Charakter einer bestimmten Gegend.
Standardisierung bedeutet dagegen per Definition, dass alles Besondere getilgt ist. Für McDonald's wie für jede andere Firmenkette gilt der Grundsatz, dass alle Filialen mehr oder minder gleich sein müssen. Der Standort spielt also keine Rolle, alle Filialen sind immer nur „irgendwo“. Wo immer ein solches Fastfood-Restaurant aufgemacht wird, haben sein Angebot, seine Ausstattung, seine Arbeitsweise nicht das Geringste mit der unmittelbaren Umgebung oder dem besonderen Charakter des Ortes zu tun (die Ausnahme ist das Personal, in dessen Zusammensetzung sich die Besonderheiten des lokalen Arbeitsmarktes widerspiegeln). Im Begriff von „terroir“ stehen also die Region und der Ort im Zentrum der kulturellen Vorstellungen, während der US-amerikanische Begriff „fast food“ gerade die Auflösung dieser Beziehung bezeichnet.
Und dennoch haben sich die Schnellrestaurants längst in französischen Landen etabliert.
Seit 1989 hat McDonald's in Frankreich jeden Monat fünf neue Filialen eröffnet. 1989 waren es noch 150, heute sind es bereits 760. Inzwischen hat die Firma die meisten anderen Hamburgerketten (US-amerikanische wie französische) verdrängt. Dies ist ihr auch deshalb gelungen, weil sie sich Geschäftsräume in den extrem teuren Lagen großstädtischer Zentren sichern konnte. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich McDonald's in allen französischen Provinzen auf die kleineren Städte mit etwa 20 000 Einwohnern konzentriert und sich besonders rasch in den Vorstadtsiedlungen ausgebreitet. Hier wurden die meisten neuen Fastfood-Restaurants eröffnet, in der Regel mit einem „McDrive“, sodass die Kunden nicht aussteigen müssen.
Im Grunde ist McDonald's damit in seinen „natürlichen Lebensraum“ zurückgekehrt, in ein ursprünglich typisch US-amerikanisches Ökosystem. Die „Gewerbegebiete“, die sich in den vergangenen fünfzehn Jahren am Rande fast jeder französischen Stadt ausgebreitet haben, erscheinen tatsächlich wie eine perfekte Neuinszenierung jener US-Vorstädte der Fünfzigerjahre, in denen das Fastfood-Phänomen entstanden ist. Der bürokratische Begriff „Gewerbegebiet“ passt nicht so recht zu diesen Orten. In den USA nennt man sie „commercial strips“ oder einfach „sprawl“. Der Ausdruck steht für eine ungeordnete Ansammlung von Geschäften an irgendeiner Straße. In Frankreich haben sich solche Zonen entlang der stark befahrenen Ausfallstraßen entwickelt. Hier beginnen die alten „faubourgs“ ein wenig wie Las Vegas auszusehen: Auf mehrere Kilometer verteilt eine unregelmäßige Abfolge von Reklametafeln, Autohäusern, Gartenbedarfsgeschäften, Fertigbauhäusern, Motels, Bowling-Centern und Fastfood-Restaurants. Die schreienden Farben und der extravagante architektonische Stil von Großladenketten wie „Conforama“, „Castorama“, „Monsieur Meubles“, „Monsieur Bricolage“ oder „But“ erzeugen eine optische Kakophonie, die so grell und aufdringlich ist wie an den entsprechenden Orten der USA mit ihren endlosen, ungeregelt wuchernden Gewerbeflächen. Es sind diese neuen Vorortzonen, in denen sich der eigentliche kulturelle Super-GAU abspielt.
Das Typische dieser Un-Orte ist gerade das Fehlen jeder Besonderheit. Die Filialen dieser Handelsketten müssen alle gleich aussehen, damit die Kunden sie wiedererkennen, egal ob sie in Metz, in Biarritz oder in Millau stehen. Die Gestalt des Baukörpers selbst dient diesem Wiedererkennungseffekt, der schon aus großer Entfernung und bei hoher Geschwindigkeit gewährleistet sein soll, weil diese Orte natürlich nur mit dem Auto erreichbar sind. Dass in jedem dieser Gewerbegebiete normalerweise die gleiche oder eine ähnliche Mischung von Firmen angesiedelt ist, verschärft noch ihre Ununterscheidbarkeit.
In den USA ist die Ausbreitung solcher „sprawls“ so gnadenlos fortgeschritten, dass inzwischen eine heftige Gegenreaktion von Planern und Stadtentwicklern eingesetzt hat. Wobei das Credo dieser „New Urbanists“ – wie sie sich selber nennen – ironischerweise lautet, man müsse sich im Namen einer ausgewogenen Entwicklung auf die „städtischen Plätze in Europa“ besinnen.3
Auf einer anderen theoretischen Ebene sind solche Orte als Inseln kommerzieller Exzesse erkennbar, als das verzerrte Gesicht eines ungezügelten Kapitalismus in einer Gesellschaft, wo man das Problem, das sich darin ausdrückt, immerhin noch diskutieren kann. Und so spielt denn auch das Phänomen der „Periurbanisierung“ in der Debatte über den deregulierten Kapitalismus eine wichtige Rolle: als vielfach angeführter Beleg für die französische Variante der „klassenlosen Gesellschaft“ amerikanischen Typs. Diese Debatte bezieht sich häufig auf simplifizierend interpretierte Sozialstatistiken, die belegen sollen, dass die französische Arbeiterschaft konsumorientiert ist, zunehmend Wohneigentum erwirbt, immer weniger politisches Interesse zeigt und keinen einheitlichen Lebensstil mehr aufweist.
Dass dieser gesellschaftliche Typus allmählich in Frankreich „heimisch“ wird, zeigt sich an eben diesen „neuen Dörfern“ mit ihren Gewerbezonen voller Supermärkte, Sportartikelgeschäfte und Einkaufszentren für Heimwerker- und Gartenbedarf. Hier finden die Bewohner, die „selbstbestimmten Individuen“, was sie für ihre angeblich ganz privaten Interessen benötigen. Doch in klarem Unterschied zu den USA stehen dieser fugendichten Version der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch machtvolle Alternativen gegenüber. Es gibt andere Entwürfe des sozialen Lebens, in denen Solidarität und kollektives Handeln noch den Ton angeben. Und andere soziale Werte, die sich regelmäßig in sozialen Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene artikulieren.
Dem Sozialtypus, den die französischen Vorstädte verkörpern, entspricht die Zukunftsvision, die McDonald's, Disney und andere Formen amerikanischer Massenkultur zu bieten haben: Eine Welt, die den gesellschaftlichen Konflikten und Klassenunterschieden entrückt ist. Legt man die Entwicklung in den USA zugrunde, so fügt sich dieses Zukunftsbild perfekt in den großen Zusammenhang der neoliberalen Gesellschaftsidee: Auf der symbolischen Ebene wird der Einzelne als Produzent zum Verschwinden gebracht, und zugleich wird der Konsument zum höchsten Subjekt und Objekt des ökonomischen Handelns erklärt.
In den USA war der Preis für die ständige Ausweitung sozialer „Rechte“ des amerikanischen Konsumenten („Freiheit“ der Produktauswahl, Zugang zu Krediten, Einkaufsmöglichkeiten zu jeder Tageszeit und ein absurdes Maß an „Serviceangeboten“) der gleichzeitige systematische Abbau von Rechten der Arbeitnehmer (unsichere Arbeitsverhältnisse, Überstunden, Arbeitsüberwachung, gesetzlich kaum abgesicherte Sozialleistungen, organisiertes Vorgehen gegen die Gewerkschaften, praktisch kein Streikrecht). Entscheidend ist dabei nicht nur, dass sich beide Bereiche in reziprokem Verhältnis zueinander entwickeln, sondern dass es sich um Bedingungen handelt, die diese Reziprozität hervorbringen.
Diese Entwicklung ist in den Vereinigten Staaten zweifelsohne viel weiter fortgeschritten als in Frankreich. Das Beispiel des „McDonald’s-Prinzips“ zeigt aber, dass der Neoliberalismus nicht das Resultat nationaler Eigenheiten ist, sondern aus sozialen Praktiken hervorgeht. Die „Amerikanisierung“ ist also in den Vereinigten Staaten eine ebenso bedrohliche Entwicklung wie überall in der Welt. Und als Antwort auf künftige Akte „schöpferischer Zerstörung“ gibt es in Frankreich für José Bové und seinen Traktor weitaus breitere Angriffsflächen, als er sich bislang vorstellen konnte.
dt. Edgar Peinelt
Hinweis: Ein weniger emotionalisierter Blick erkennt die inneren Kräfte der „Amerikanisierung“. Der Neoliberalismus ist nicht der Rüpel, der am Hauptportal randaliert, er schlüpft vielmehr diskret durch die Hintertür.
* Professor für Soziologie am Smith College in Massachussetts.